Was lest ihr gerade?

  • Ich bin völlig ausgelastet mit "Dunkelblum" von Eva Menasse, das ich in einer Leserunde lese.
    Meine Güte, das ist echt heftig. Ich finde es zwar, mit einer Unmenge Personen und lustig hin- und herspringenden Zeitebenen, sehr schwierig zu lesen. (Ich habe zwei Drittel gelesen und schon mehr als zwanzig Markierungen drin, die aber bei weitem nicht ausreichen ...) Wahrscheinlich werde ich da bald eine Zweitlektüre brauchen.
    Aber du meine Güte, was für ein Stoff! Es geht um einen Massenmord an Zwangsarbeitern kurz vor Kriegsende, und zwar im Burgenland nahe der Ostgrenze. Während die Zeitebene der Gegenwart in 1989 spielt, also zum Zeitpunkt der Grenzöffnung. Wer Näheres wissen will, die Perlentaucher-Seite ist recht informativ.


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  • Ich hab mal wieder nur wenig gelesen und bin noch bei Raabe: "Hastenbeck" (1899) und "Meister Autor" (1874). Letzteres ist gewissermaßen ein Werk des Übergangs, sehr komplex und eine Art Positionsbestimmung des Autors Raabe. "Hastenbeck" ist Raabes letzter vollendeter Roman und ein ziemliches Meisterwerk.


    Hastenbeck ist ein Dorf in Niedersachsen und heute ein Stadtteil vom Hameln. 1757 war es Schauplatz einer Schlacht im Siebenjährigen Krieg. Der Roman betreibt gewissermaßen Geschichtsschreibung von unten. Die Schlacht selbst wird erwähnt, aber es geht weniger um sie als um ihre Auswirkung. Erzählt wird aus der Perspektive der nunja "normalen Menschen", die unschuldig schuldig und als Spielbälle widersprüchlicher und verwirrender, aber tödlicher Machtinteressen in der blutigen Welt herumgeworfen werden.


    Der Erzähler rekurriert sehr oft auf konkrete historische Ereignisse, platziert seine Erzählung präzise in das historische Geschehen, referiert immer wieder aus den Quellen – und als Ergebnis erhält man kein wie auch immer geordnete oder gar sinnvoll verstehbares Ganzes, sondern ein chaotisches Durcheinander. Entsprechend sperrig gerät der Beginn, der mit historischen Ereignissen um sich wirft und jeden, der nicht sehr sattelfest in der Geschichte des Krieges ist, erstmal ziemlich verwirrt zurück lässt.


    Die zentrale Figur im Roman ist eine greise ehemaligen Marketenderin ("die Wackherhansche", früher die "Försterin vom Barwalde", die in einem alten Wehrturm am Dorfrand als Hexe verschrien lebt), für die der Siebenjährige Krieg nur einer unter vielen ist und durch deren kurzen Erinnerungen und Einwürfe die Welt als großes und blutiges Schlachtfeld erscheint, im dem Liebe und Glück extrem bedrohte Pflänzchen sind, die eigentlich keine Chance haben.


    Am Schluss heißt es da:


    Am 15. Februar war der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen, und wieder mal Frieden – das was man so nennt, in der Welt geworden. Wenigstens hatte für den Augenblick in Europa das ewige Krachen, Sturmglockenläuten, Trommeln, Trompeten und Querpfeifenquinkelieren aufgehört und riß man sich auf den Champs de bataille und in den Spitälern, nicht mehr einander das blutige Stroh unter den Köpfen weg, um sich selber bequemer zu betten.


    Es wird sehr reflektiert erzählt, es geht um "Geschichte vs. Geschichte", um historische Fakten vs. poetischer Erfindung, darum, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Zentrales Motive sind ein theologisches Buch von "Gottes Wunderwagen" und Geßners Idyllen von Daphnis und Chloe, die just zu Beginn des Krieges erschienen sind. Ein Exemplar der Idyllen wird als zerfleddertes, blutiges Büchlein mit einer Kugelspur von einem Veteran aus dem Blut des Schlachtfeldes aufgelesen, die Lektüre verändert sein Leben (bzw. das, was davon noch übrig ist). Dass Geßner "lügt", wird dabei mehrfach betont, und auch gleich wieder entschuldigt. Dabei erzählt der Roman nun seinerseits eine "Idylle" und seine Version von "Daphnis und Chloe".


    Die Wackerhansche bringt ein Liebespaar (sie als Säugling vom Pastor am Weggrand aufgelesene Waise, er zum Soldat gepresster Blumenmaler der Porzellanmanufaktur Fürstenberg, der als Deserteur und entflohener Kriegsgefangener gleich von zwei Parteien gejagt wird) ins neutrale Blankenburg in Sicherheit. Ganz am Schluss, als der Krieg aus, das Liebespaar verheiratet ist und Kinder hat und gewissermaßen die Idylle zu ihrem Recht kommt, wird noch erklärt, warum die Wackerhahnsche ihren Turm nicht verlassen hat und den drängenden Einladungen, ins warme Haus zu ziehen, nicht folgen konnte:


    Sie haben noch lange so ihr zugeredet, – Pastor Holtnicker und Pastor Emanuel Störenfreden aus Derenthal auch. Letzterer, was das Einander-einen-Gefallen-tun anbelangt, in wenn auch milderen, so doch ebenso bewegten Worten wie seine Frau Tante, die Pastorin von Boffzen. Es hat aber alles nichts gefruchtet: die Wackerhahnsche hat nicht aus ihrem Turm herab ganz zu den anderen Menschen zurückkommen und mit ihnen nach Menschenart leben wollen und – können.


    Den eigentlichen Grund hat sie, nicht lange vor ihrem Tode, im Jahre Siebzehnhundertachtundsechzig, dem auch von ihr angenommenen Kinde, unserem Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten, der jungen Madame Wille gesagt:


    »Es ging nicht! es ging bei dem besten Willen nicht, mein Herz! Nicht die Welt, nicht ihr Jungen, nicht die Alten waren schuld daran – deine Kinder, deine kleinen armen Kinder sind's gewesen, Immeke! […] Ihr ginget an eurem Myrtenstab, ich mußte an dem in meiner Hand weiter, und der war zu scharf mit Eisen beschlagen und zu oft in Blutlachen niedergestoßen worden, als daß ich ihn hätte am Großmutterstuhl in der Kinderstube – in eurer Kinderstube absetzen können. Die Försterin aus dem Barwalde, die Hexe aus dem Landwehrturm, die nie ein Kind auf dem Arm getragen, nie eines gewaschen, getrocknet, gekämmt, gefüttert hatte, was für Großmuttergeschichten hätte die deinen Kindern zu erzählen gewußt, Immeke? Blut an den Schuhen, Blut hoch am Rock hinauf – wie hätte die Wackerhahnsche in einen Großmutterstuhl am Winterofen mit ihren Geschichten gepaßt? Vor deinen Kindern habe ich Angst gehabt; denn ich habe in ihre Augen gesehen, wenn sie zusammengefahren waren vor einem Wort, vor einem Fluch von der alten Frau, die sie nach eurer Liebe und Güte auch Großmutter nennen sollten, wie ihre richtige, die Frau Pastorin! Für eure Liebe und Güte habt Dank; doch mich müßt ihr lassen, wo ich bin. […]«


    Der ganze Roman ist ausgesprochen komplex.

  • Ich habe mich damals bei Wunnigel prächtig amüsiert, was mir als Einstieg nicht gänzlich unangebracht erscheint.

    Ach, das hab ich ja völlig vergessen: Den "Wunnigel" hab ich dann auch noch mal gelesen, an die Erzählung hatte ich auch nur dunkle Erinnerungen. Typischer Raabe auf dem Weg zum Spätwerk. Oberflächlich gesehen eine groteske Humoreske oder humoristische Groteske mit Tiefgang. Da ereignet sich ja eine ziemliche Katastrophe und verhandelt wird eimal mehr die Frage, welche Auswirkungen die Entwicklung nach 70/71 hat.


    Wie auch immer: Wunnigel scheint mir als Einstieg in der Tat nicht ganz ungeeignet.


    (Irgendwie bin ich jetzt voll auf dem Raabe-Trip gelandet und möchte auf jeden Fall noch mal "Pfisters Mühle", "Unruhige Gäste", "Das Odfeld" und "Die Akten des Vogelsang" lesen – schlechte Karten für Proust ;-))

  • Ich war ein paar Tage verreist und habe im Rahmen meiner Phantastik-Challenge ein weiteres kleines Buch aus der Dumont-Bibliothek des Phantastischen gelesen: "Die Stradivari" von John Meade Falkner. Leider kann ich keinen Link legen, der eine Abbildung mitbringt. Wie alle Bücher aus dieser DuMont-Serie hat auch dieses eine sehr hübsche Aufmachung.
    Inhaltlich ist es nichts Besonderes, ein viktorianischer Schauerroman. Der junge Student Maltravers findet in einem versteckten Wandschrank seines Zimmers auf dem Universitätsgelände eine alte Geige von unglaublichem Wohlklang, eben jene Stradivari. Zugleich findet er Gefallen an einem alten Tanzsatz eines italienischen Komponisten, vor allem an der "Gagliarda". Beides, die Geige und die Gagliarda, werden zu einer Art Besessenheit, bei der ein längst verstorbener, lasterhafter Vorfahr eine Rolle spielt - das Übliche halt. Erzählerin ist Maltravers' Schwester, und es ist interessant, wie sie sich über die frivole Tanzerei und die heidnische italienische Kultur überhaupt auslässt. (Es gibt eine fiktive Autobiographie des Tudorkönigs Henry VIII. von Margaret George, in der ebenfalls von der "Galliarde" die Rede ist. Henry soll sie gern getanzt haben, um die Flinkheit seiner Beine zur Geltung zu bringen, aber - so heißt es in dem Buch - sie hatte schon irgendwie etwas Anstößiges, ohne dass so recht erklärt wird warum. Bei Youtube kann man Galliarde tanzende Paare betrachten, es ist nichts weiter dabei.)

  • Ja, das ist die, die ich habe. Ich mag die Gestaltung dieser Serie sehr. Am meisten gefreut habe ich mich über die beiden Bände mit Erzählungen von Robert Aickman. Aickman ist im deutschen Sprachraum viel zu wenig bekannt, selbst unter eingefleischten Phantastik-Lesern. Ich finde ihn faszinierend.

  • Ich lese gerade Professor Unrat von Heinrich Mann..


    In der Schule, also vor Ewigkeiten, haben wir die ersten 3 Kapitel gelesen. Erinnern konnte ich mich nur an den Namen.

    Da ich weder den Inhalt noch die Verfilmung kenne ist das Buch wirklich spannend.

    Sonst lese ich mir vorab bei Klassikern immer eine kurze Zusammenfassung durch. Darauf habe ich diesmal verzichtet da das Buch sowieso nicht dick ist.

  • Wovon ich dringend abrate ist der "Hungerpastor". Der hat starke Passagen, ist aber, so alles in allem, eher übel antisemitisch. (Davon hat sich Raabe dann glücklicherweise befreit.)

    Ich habe den Hungerpastor schon einigemale gelesen und mag ihn immer noch sehr. Ob er antisemitisch sei, lässt sich disktuieren (und muss auch diskutiert werden). Raabe hat sich der Konstellation bedient, für den negativen Gegenspieler der Hauptfigur einen Juden zu wählen. Obwohl er sich selbst von sonst handelsüblichen Formen des Antisemitismus distanziert hat (und das sogar im Buch selbst tut!) hat dies die Rezeption des Romans lange geprägt. Die Nazis fanden das Buch wunderbar, weil sie damit natürlich den Juden alles Böse nachweisen konnten. Und ich denke, es hat auch dazu beigtragen, dass Raabe nach 1945 einen gewissen Makel hatte.

  • Ich habe gerade "Jauche und Levkojen" von Christine Brückner angefangen. Ist zwar (noch) kein Klassiker, fühlt sich aber so an. Setting und Tonfall erinnern sehr an Fontane. Effi kommt sogar direkt vor. Der teilweise lakonische Tonfall macht das Lesen wirklich zum Vergnügen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Und ich bin jetzt beim "Zauberer" von Colm Tóibín - Romanbiographie über Thomas Mann.

    Liest sich bisher bemerkenswert locker; Tóibín scheint den Erzählton in "Buddenbrooks" nachzuahmen. Allerdings nehmen Thomas Manns sexuelle Nöte für meinen Geschmack etwas zu viel Raum ein.

  • Gerade angefangen: der letzte Band meiner antiquarisch ergatterten Dostojewski-Sammlung, die Brüder Karamasow. Die anderen Bände (Der Spieler, Erniedrigte und Beleidigte, Schuld und Sühne, Die Dämonen, Der Idiot) sind absolviert, und es setzt sich ganz langsam ein aussagekräftiges Bild des Werks zusammen. Kurz: es ist irgendwie gemischt.


    Auf der Habenseite steht wieder einmal die Bestätigung meiner Einsicht, dass man, wenn man einen zutreffenden Eindruck von Ort und Epoche haben will, nicht nur die Geschichtsbücher, sondern auch die Geschichtenbücher der Zeit lesen sollte – es sind authentische Innenansichten, genauer gesagt: Primärquellen; selbst dort, wo sie rückschauend irren. Historische Primärquellen findet man dagegen allenfalls in allgemein kaum zugänglichen Archiven. Osteuropäische – und speziell russische - Historie (und Literatur) war bisher gewiss nicht mein bestes Fach, aber alle Subjektivität der Darstellung beiseite: die Romane Dostojewskis vermitteln eine greifbare Vorstellung von den Strömungen, die diese Gesellschaft in der voranschreitenden Erosion einer Zarendynastie und ihrer Adelskaste umtrieben.


    Die literarische Qualifizierung macht mir Kopfzerbrechen, irgendwie ist sie nicht restlos befriedigend. Die beste Figur hat meinem Eindruck nach „Die Dämonen“ abgegeben, die schwächste „Erniedrigte und Beleidigte“, im unteren Mittelfeld „Schuld und Sühne“; „Der Idiot“ und „Der Spieler“ liegen auf unterschiedliche Weise etwas darüber, soweit ein vorläufiges Ranking.


    Überraschend fand ich durchweg den Eindruck „leichter Lesbarkeit“ und der zurückgenommen- distanzierte, manchmal ironische Stil des Autors. Was mir dabei allerdings störend auffiel, lässt sich am „Idiot“ am deutlichsten klarmachen. Es ist ein Eindruck unkonzentrierten Erzählens, dem das Gespür für die Verdichtung am richtigen Ort fehlt. Episoden, die für den Fortgang und den Rhythmus der Erzählung nur von nachrangigem Interesse sind, werden in langatmigen Wortprotokollen festgehalten – ganz wesentliche Vorgänge dagegen in summarischen Notizen vermerkt. Ein rein auktorialer Erzähler, der nirgendwo in der erzählten Handlung auftritt, aber einerseits suggeriert, ein bestimmtes Gespräch wortgetreu wiedergeben zu können, mit allen Ab- und Umschweifen, während ein mindestens so wichtiger Vorgang, dessen Details den Leser durchaus interessieren müssen, in demonstrativer Abwesenheit und hinter unsicherem Raunen liegt, hat mindestens ein Glaubwürdigkeitsproblem.

  • Sehr interessante Anmerkungen zu Dostojevskij, Diaz Grey. Ich habe den Autoren in meiner Jugend und jungen Erwachsenenzeit sehr geliebt, vor einigen Jahren nochmal die "Dämonen" gelesen und weiterhin für sehr eindrucksvoll befunden, auch aus den Gründen der historischen Authentizität, die du oben so gut beschreibst. Sollte ich später noch einmal einen anderen Roman wiederlesen, werde ich auf deine Anmerkungen achten.

    Zumindest die Detailverliebtheit, die zum Teil zu Lasten des straffen Erzählaufbaus geht, teilt Dostojevskij mit der zweifachen Bookerpreisträgerin Hilary Mantel, deren letzten Band der Thomas Cromwell-Trilogie "Spiegel und Licht" ich jetzt endlich zu Ende gelesen habe. Trotz der kleinen Kritik ein eindrucksvolles Werk, das zwar nicht so authentisch sein kann wie ein zeitgenössisches Werk, aber dennoch die Zeit Heinrichs des Achten und ihrer Menschen ein bisschen zu uns zurückholt und viele Parallelen zum überzeitlichen politischen Handeln aufzeigt.

  • Danke, finsbury, für die Reaktion auf meine Einschätzung. Weshalb ich dazu nochmals schreibe: eben ist mir eingefallen, wie sich die seltsam gärende gesellschaftliche Lage in Dostojewskis Romanen ganz kompakt zusammenfassen lässt. Es gibt im "Idiot" eine Kernpassage, die das schlüssig erfasst, nämlich die Verlesung des Manifests durch Ippolyt; sowohl wegen des Inhalts als auch nach der Form. Alleine der Ablauf der Szene mit aller Ziererei und allem - jawohl - rhetorischem Brimborium, bis es endlich zur Verlesung kommt; dann der so hochfahrende wie verquaste Inhalt des verlesenen Manifestes, das ist der umfassende Ausdruck einer Generation, die alles Dagewesene umstürzen möchte, aber am Ende eigentlich gar nicht weiß, was sie mit ganzer Kraft will.


    Nun ja, eine Generation später wusste sie es. Wobei - was sie nach dem Umsturz mit der Macht eigentlich anfangen sollte, wusste sie wiederum doch auch nicht recht. Und Marx hatte gerade dazu bejammernswert wenig zu sagen.

  • Gerade angefangen: der letzte Band meiner antiquarisch ergatterten Dostojewski-Sammlung, die Brüder Karamasow. Die anderen Bände (Der Spieler, Erniedrigte und Beleidigte, Schuld und Sühne, Die Dämonen, Der Idiot) sind absolviert, und es setzt sich ganz langsam ein aussagekräftiges Bild des Werks zusammen. Kurz: es ist irgendwie gemischt.

    Danke für Deine Eindrücke!

    Dahingehend habe ich das Pferd von hinten aufgezäumt. Mein erster Dostojewskij war dessen letzter, "Die Brüder Karamasow". Mit dem Einordnen wird das also noch eine Weile dauern. Was das Sprachliche angeht, stimme ich Dir da weitgehend zu, insbesondere was das flüssige Lesen anbelangt. Ich bin da recht schnell in einen guten Rhythmus gekommen und habe das Buch jeden Abend gerne zur Hand genommen. Einen Vergleich zwischen der Übersetzung Geiers zu vermeintlich angestaubteren, weniger gut lesbaren Übersetzungen kann ich hier allerdings nicht anstellen. Ich denke, dazu müsste man dann eigentlich auch das Buch nochmals lesen. Das wird so schnell nicht passieren.


    Der Roman selbst ist nun nicht nur im Umfang außerordentlich mächtig, sondern insbesondere was die Konstruktion der Figuren, ihre inneren Konflikte und die Tiefe betrifft, gewaltig. Die universellen (Sinn-)Fragen des Lebens, beispielsweise die nach Gott, Werten und Moral, sind ja zeitlos und die Auseinandersetzung damit immer wieder aktuelles Thema. Mir ging es jedenfalls so, dass diese Fragen, die meist in Gesprächen aufgeworfen und aus unterschiedlicher Sicht beleuchtet werden, lange in mir nachhallten.


    Diese Zerrissenheit der Seelen vieler Charaktere, die Geier mit dem Wort Nadryw unübersetzt lässt und dessen zentrale Bedeutung im Anhang herausgehoben wird, erklärt die schwermütige Stimmung. Ich empfand diese Charakterstudien der Brüder und anderer Figuren als hochinteressant und die große Stärke des Romans.


    Ich musste beim Lesen der Kapitel, in denen Aljoscha als Mönch auftritt und seine Beziehung zu Starez Sossima näher dargestellt wird, an Parallelen zu Wodolaskins "Laurus" denken, da die Lektüre noch nicht allzu lange zurück lag. Auch da steht ein Mann Gottes im Mittelpunkt, wenngleich die Geschichte in einer anderen Zeit spielt, ein paar Jahrhunderte früher, meine ich Einflüsse in der Figur des Laurus erkannt zu haben. Zudem kam mir da das erste Mal der Begriff der Hagiographie unter, also die Darstellung des Lebens von Heiligen (Wodolaskin ist Literaturwissenschaftler und beschäftigt sich u.a. mit altrussischer Literatur), die ja gerade in den ersten Kapiteln um das Starzentum und Starez Sossima einen prominenten Raum einnehmen.


    Die Querverweise auf andere Schriftsteller, neben Puschkin z.B. auch auf Schiller, dem Dostojewskij besonders zugeneigt gewesen war (im Anhang ist zu lesen, dass der jüngere Bruder in seinem Auftrag "Die Räuber" ins Russische übersetzt hat) und beispielsweise den Maler Kramskoi, dessen "Die Unbekannte" eines meiner Lieblingsgemälde ist, laden zum Weiterverfolgen ein.


    Die Rezeption habe ich nur kurz im Netz recherchiert, fand die wenigen Schnipsel aber schon so spannend, dass ich dahingehend gerne mehr erfahren würde. Wenn also jemand eine Lektüre in diese Richtung empfehlen kann, wäre ich dankbar. Einige Kritikpunkte kann ich durchaus nachvollziehen (manche Stellen sind ein wenig pathetisch, z.B. wenn es um den russischen Bauern geht), stießen mir aber keinesfalls so sauer auf, als dass sie mir die Lektüre hätten verleiden können.


    Was ich persönlich ein bisschen schade finde, dass so ein Narr wie ich die sporadischen französischsprachigen Sätze nicht im Anhang nachschlagen kann. Das ging mir schon bei den Neuübersetzungen Flauberts im Hanser Verlag auf die Nerven. Ja, es war nie einfacher über das Internet, über eine App oder ganz altmodisch, mittels Wörterbuch mal was nachzuschauen, aber wenn ich ein Buch lese, dann bevorzuge ich doch, mir es in meinem Lesesessel bequem zu machen und für eine ganze Weile höchstens an das Ende des Buches zu blättern. Ich liebe die französische Sprache und würde mich, vor allem was das Kino anbelangt, schon als frankophil bezeichnen, bin aber hier , was das Sprachenlernen betrifft, nicht so weit gekommen, wie geplant. Da wünschte ich mir dann doch einen Kommentar, wie in den Bänden des "Deutscher Klassiker Verlag" (was hier wohl einen weiteren Band bedeutet hätte).


    Ich habe jedenfalls Lust bekommen, mehr von Dostojewskij zu lesen – weitere Bände liegen schon bereit.


    Edit: Die Lektüre liegt jetzt 3 oder 4 Wochen zurück, danach habe ich "Frau Berta Gerlan" von Arthur Schnitzler gelesen (ein Geschichte, der wohl jeder eigene Erfahrungen entgegenstellt, sei es die Begegnung mit einer Jugendliebe oder das Ausbrechen aus der Enge der Kleinstadt in die vermeintliche Freiheit, die (Groß-)Stadt) Hat mir sehr gut gefallen.


    Momentan bin ich in den letzten Zügen von Dickens' "Oliver Twist" - wunderbar!