Mittlerweile habe ich das „Gänsemännchen“ ausgelesen und mein
anfänglicher Eindruck hat sich nicht geschmälert. Da ist zum einen
die Sprache, die mir sehr gefiel. Das fängt bei der Beschreibung von
Landschaften an (Mir ist aufgefallen, dass der Satz ganz zu Beginn
des Romans
„An den zahlreichen Weihern steht das Gras höher, so
hoch oft, dass man von den Gänseherden nur die Schnäbel gewahrt,
und wäre das Geschnatter nicht, man könnte sie für wunderlich
bewegte Blumen halten, diese Schnäbel.“
knapp 600 Seiten später, nahezu identisch, als letzter Satz den Roman beschließt.), von Dörfern und Städten mit ihrer Gesellschaft bis zu der, in meinen Augen, wunderbar fein ausgearbeiteten Charakterisierung der Figuren. Diese Figuren sind so zahlreich, dass ich mir manches Mal nicht ganz sicher war, ob Daniel Nothafft die Hauptfigur bleibt.
Daniels Schaffensprozess, das Werden eines Künstlers, in diesem Fall geht es um die Musik, hat Wassermann meiner Meinung nach großartig in Worte gefasst. Die innere Zerissenheit, das Ringen um Ordnung im Wirrwarr seiner Ideen, die raren Momente von Klarheit, die Verbindungen zwischen den einzelnen Stückwerken herstellen und allgemein die Schilderung seiner Musik, die seiner Zeit voraus scheint, fand ich sehr bewegend. Ausführlich lernt man das Dunkle in Daniels Charakter kennen, die Schmerzen, die nicht nur er erfährt, sondern die insbesondere auf sein gesamtes Umfeld ausstrahlen.
Dabei spielen die Frauen eine gewichtige Rolle, auch wenn das anfänglich nicht so scheint. Seinen Beziehungen wird dann auch sehr viel Platz eingeräumt, ebenso der Auslotung ihrer Funktion für Daniels Musik - Lenore, Gertrud, Dorothea, Philippine. Dazu gesellen sich noch Randfiguren wie Sylvia, die Mutter, die drei Schwestern, die Magd, die Zingarella usw. Letztgenannte begleitet Daniel als Maske durch den Roman. Diese Symbolik ist an verschiedenen Stellen zu finden, natürlich auch in Form des titelgebenden Gänsemännchens, der Brunnenfigur vom Nürnberger Obstmarkt, die gegen Ende in einer Art Fiebertraum sogar zum Leben erwacht.
Die zahlreichen Figuren, die Einfluß (oft negativer Art) auf Daniels Werdegang hatten, werden erstaunlich ausführlich und lebhaft beschrieben. Auch wenn sie Daniel teils übel mitspielen, haben fast alle früher oder später an ihrem Schicksal zu tragen (Carovius, Schimmelweis, Döderlein, der alte von Auffenberg, Eberhard, Benda usw.)
Armut und Stolz sind weitere Themen des Romans, die nicht nur den Protagonisten beuteln (so auch der adelige Eberhard von Auffenberg). Mir gefiel Wassermanns Darstellung der Würde der Menschen, die gebrochen oder am Leben gescheitert scheinen und wie sie die Augenblicke stillen Respekts und Momente der scheinbaren Teilhabe an der Gesellschaft am Leben halten. (z.B. der alte Jordan, der sich mit Carovius im stillen Einvernehmen regelmäßig in der Gaststube trifft)
Ich bin ziemlich eingetaucht in diese fränkische Welt der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit den verschrobenen, oft harten und gemeinen Figuren. Geschichten einzelner Figuren hätten eigene Novellen sein können (z.B. der alte Jordan und seine Erfindung). Man könnte das vielleicht als Kritikpunkt anführen, dass der Fokus noch öfter auf Daniel hätte gelenkt werden können. Andererseits gewinnt die Motivation der Hauptfigur durch die Ausarbeitung seines gesamten Umfelds an Glaubwürdigkeit, der Roman an Tiefe. Im kleinen Begleitheft (ich habe die Ausgabe der Bibliothek des 20. Jahrhunderts gelesen) ist ein Essay, der den Roman an einer Stelle so beschreibt: "(...) Statt des Gesellschaftsromans mit seinem Figurenpanorama den Bildungsroman mit seinem einen Helden, der von Stufe zu Stufe zur Persönlichkeitsvollendung geführt wird. (...)" Dem würde ich [der Autor beschreibt, warum er das so sieht] auch bedingt zustimmen, würde aber gerade aufgrund des Figurenpanoramas eher zu einem "sowohl, als auch" tendieren.
Für mich war die Lektüre jedenfalls ein lohnendes Erlebnis und sicher nicht der letzte Roman Wassermanns.