Beiträge von JHNewman

    Wovon ich dringend abrate ist der "Hungerpastor". Der hat starke Passagen, ist aber, so alles in allem, eher übel antisemitisch. (Davon hat sich Raabe dann glücklicherweise befreit.)

    Ich habe den Hungerpastor schon einigemale gelesen und mag ihn immer noch sehr. Ob er antisemitisch sei, lässt sich disktuieren (und muss auch diskutiert werden). Raabe hat sich der Konstellation bedient, für den negativen Gegenspieler der Hauptfigur einen Juden zu wählen. Obwohl er sich selbst von sonst handelsüblichen Formen des Antisemitismus distanziert hat (und das sogar im Buch selbst tut!) hat dies die Rezeption des Romans lange geprägt. Die Nazis fanden das Buch wunderbar, weil sie damit natürlich den Juden alles Böse nachweisen konnten. Und ich denke, es hat auch dazu beigtragen, dass Raabe nach 1945 einen gewissen Makel hatte.

    Ich liebe den Anton Reiser sehr. In dem, was Du als histrionischen Zug beschreibst, habe ich vielmehr die Folge einer pietistisch-frommen Erziehung gesehen. Der Pietismus als Frömmigkeitsrichtung drängt ja zu fortwährender Selbstanalyse, Selbstbeobachtung und Selbstoptimierung. Anton ist zum einen durch seine soziale Stellung eher unterprivilegiert, es fehlt ihm an Bildung, Status und finanziellen Möglichkeiten, daher ist er aber davon abhängig - innerlich und äußerlich - auf andere Menschen einen guten Eindruck zu machen. So begründet sich sein mitunter seltsames, linkisches oder auch überkontrolliertes Verhalten.

    Mir fällt hier spontan Boleslaw Prus mit "Die Puppe" ein. Vor vielen Jahren habe ich ein paar Klassiker des Polnischen Films gesehen, unter anderem "Pharao", der ebenfalls nach der literarischen Vorlage Prus' verfilmt wurde und der mich außerordentlich fasziniert hat.

    Das Buch "Die Puppe" hatte ich dann jahrelang in Suchaufträgen bei den üblichen Händlern. Wenn mal ein Treffer kam, dann mit Mondpreis. Momentan gibt es ein Exemplar für 75€. Das ist es mir nicht wert.


    Vielleicht kennt das Buch ja hier jemand und kann etwas dazu sagen?

    Mir geht es genauso. Das Buch ist einer der bekannten polnischen Klassiker, aber seit Jahren fehlt eine deutsche Übersetzung. Die selten erhältlichen antiquarischen Ausgaben sind absurd teuer.
    Ich weiß, dass Esther Kinsky das Buch gerne neu übersetzen würde, es gibt auch einen Verlag, der Interesse daran hat, aber bislang ist es noch nicht dazu gekommen. Ein Problem ist sicher der Umfang. Ich habe auch Guggolz schon einmal darauf angesprochen. Es müsste aber sicher eine zweibändige Ausgabe werden.


    Ich selbst habe mir mittlerweile eine englische Übersetzung davon besorgt.

    Deshalb eignet sich der Don Quichotte gut als Hörbuch für lange Autofahrten. Erstens kann man nicht weglaufen und zweitens kann man, wenn es zu sehr langweilt, in die Landschaft schauen.

    Ich habe mich mit dem Roman wieder recht gut unterhalten gefühlt. Da es diesmal auch um die Klöster Hersfeld und Fulda geht (die ich gut kenne), fühlte ich mich im Roman auch zuhause. Die Konflikte zwischen klösterlicher und weltlicher Herrschaftsausübung und den Grafengeschlechtern fand ich gut dargestellt, auch wie die unterschiedlichen Gruppen um Einfluss und Freiheit ringen. Herrschaft ist in dieser Epoche nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess - das macht der Roman schön deutlich. Nun bin ich gespannt, wie die Geschichte weitergeht, ich werde aber dazwischen sicher wieder noch einige andere Bücher lesen.

    Gerade ausgelesen: Helga Schubert, Vom Aufstehen.


    Die Erzählungen der Bachmannpreisträgerin des letzten Jahres. Ganz ganz wundervoll.

    Und für mich fast unvorstellbar, dass diese Erzählerin seit vielen Jahren so unter dem Radar geblieben ist. Insa Wilke hat sie bei einer Veranstaltung zum 40. Jubiläum des Bachmannpreises getroffen, dort las sie einen Text, der Insa Wilke beeindruckte - und dann ging es weiter. Insa Wilke lud sie zum Bachmannpreis ein, den Helga Schubert mit 80 Jahren gewann. Mit einem Text, der so tief, echt, ehrlich und zugleich tröstlich ist, dass er nicht nur die Jury, sondern auch viele Menschen außerhalb begeistert hat.

    Nun gibt es endlich wieder einen Band mit Erzählungen von ihr, der Klagenfurter Text bildet darin den Abschluss. Weitere Bücher sind jetzt in Vorbereitung.

    Das ist ein großer Gewinn.

    Obwohl mein Buch neuwertig antiquarisch ist, riecht es sehr unangenehm. Ich wüsste nicht, womit der Geruch vergleichbar wäre.

    Rührt der Geruch von der Lagerung her oder von der Herstellung?

    Ich hatte das auch schon gelegentlich, wenn ich Bücher antiquarisch gekauft habe. Es gibt ein paar Mittel, die Bücher zu entstinken:


    Wenn es nicht ganz so schlimm ist, kannst Du das Buch in Zeitungspapier wickeln und einen Tag in eine Packung mit Waschpulver oder Katzenstreu legen.

    Bei hartnäckigeren Fällen empfiehlt sich die Tiefkühlmethode: Buch in Zeitungspapier einschlagen, anschließend eng in einen Plastikbeutel und gut zukleben. Dann für 24 Stunden in die Tiefkühltruhe. Beim Auspacken etwas auffächern, dass evtl. Kondensationsfeuchtigkeit gut abziehen kann. Das wirkt sogar bei Büchern, die stark nach Rauch riechen.

    giesbert

    Stimmt, der Hans Pleschinski hat ja früher bei Haffmans veröffentlicht. Als ich anfing im Buchhandel zu arbeiten, war der Verlag gerade sehr en vogue. Damals habe ich aber Pleschinski nicht gelesen, ich stieß erst später dazu. Seinen Hauptmann-Roman 'Wiesenstein' finde ich jedoch wirklich sehr bemerkenswert und gut. Das Büchlein über den Holzvulkan habe ich dann in der hübschen Neuausgabe beim Beck-Verlag kennengelernt.

    Gestern beendet: Am Götterbaum von Hans Pleschinski.


    Der Roman dreht sich um Paul Heyse. Drei Damen (eine Schriftstellerin, eine Stadtbaurätin und eine Bibliothekarin) marschieren gemeinsam durch München, um über die Möglichkeit eines Paul-Heyse-Kulturzentrums in dessen ehemaliger Villa am Königsplatz zu beraten. Schließlich ist doch nicht zu rechtfertigen, dass die Stadt den ersten deutschen Literaturnobelpreisträger für Erzählendes nur mit einer stinkenden Unterführung ehrt.... Auf ihrem Weg rekapitulieren sie die Lebens- und Werkgeschichte des Autors, beizu aber auch auch die Geschichte der Stadt und Kultur in seiner Zeit und noch alle möglichen anderen Weltfragen. Das ist eine sehr unterhaltsame, an einigen Stellen auch etwas bizarre Geschichte geworden, die mir aber großen Spaß gemacht hat. Zum Heyse-Fan werde ich deswegen wohl eher nicht werden, die im Text zitierten Gedichte haben mich nicht unbedingt mitgerissen, wobei ich sicher einmal eine seiner Novellen lesen sollte...

    Eine Frage in die Runde: Es gibt eine Art Sequel zu "1984", nämlich "1985" von dem Ungarn György Dalos. Darin kommen alle Hauptfiguren von 1984 vor (es hat folglich keine Erschießung der verschiedenen wegen Gedankenverbrechen festgenommenen Leute gegeben), anscheinend kehrt sogar Winston Smith' vermisste Ehefrau Katharine zurück. Das Regime liegt in den Händen der "Großen Schwester", Witwe des Großen Bruders. Ich meine sogar, irgendwo gelesen zu haben, dass der von Winston erfundene "Genosse Ogilvy" einen Auftritt hat.
    Ich habe heute nachmittag eine Weile nach dem Buch gesucht; es muss irgendwann eine deutsche Ausgabe gegeben haben, aber ich finde kein Exemplar. ZVAB, findmybook, Medimops und Rebuy abgegrast, hat vielleicht noch jemand eine Idee?

    Edit, ich habe das Buch gefunden und gekauft, juhu!

    Ich habe es auch gerade gesucht. Man findet es nur, wenn man die Zahl im Titel ausschreibt, aber dann gibt es recht viele Angebote.

    Den Ingraban habe ich nun beendet. Ich mag es, wie Freytag die Geschichten mit heute noch bestehenden Orten verbindet, wie Siedlungs- und Herrschaftsstrukturen sich herausbilden und wie die Geschichte der Christianisierung erzählt wird. Das ist Edutainment im Stil des 19. Jahrhunderts, aber gekonnt gemacht und man versteht, warum Freytag seinerzeit so erfolgreich war. Ich habe jedenfalls große Lust, weiterzulesen und den nächsten Roman in Angriff zu nehmen (dazwischen lese ich aber noch etwas anderes...).

    Ich bin jetzt mit dem 'Ingraban' fast zur Hälfte durch. Das Buch gefällt mir richtig gut. Hängt auch damit zusammen, dass die Sprache der Dialoge nicht mehr ganz so verschwurbelt daherkommt... Zu Beginn dachte ich, dass Freytag hier das Bonifatiusmotiv nett verarbeitet. Bis sich die Figur dann als Bonifatius selbst zu erkennen gab. :-D


    Die Darstellung der Slawen ist schon, sagen wir mal, etwas einseitig. Aber wie Freytag hier die Geschichte mit dem Thema Abenteuer verbindet, gefällt mir.

    Da stimme ich Finsbury gerne zu. Man muss auch ein wenig differenzieren zwischen dem, was dann sozusagen als zeittypisch gelten kann, und regelrechten Auswüchsen. Mir ging es ja neulich mit Gogols 'Taras Bulba' so, dass ich den triefenden Nationalismus, den Antisemitismus und die abwertende Beschreibung der Polen ziemlich unerträglich fand. In anderen Werken Gogols findet sich das so auch nicht, da bleibt Gogol sozusagen eher zeittypisch. Und klar: Manche Autoren sind uns dann heute auch eher zugänglich, weil sie über das Denken ihrer Zeit hinauswuchsen - wie eben Fontane.


    Ganz wichtig finde ich, die Sicht zu kontextualisieren. Ich führte letzte Woche eine recht bizarre Diskussion um zwei zeitgenössische Autoren: Johann Scheerer und Christoph Peters. Scheerer hat ein Buch über die späten 90er Jahre geschrieben. Er ist der Sohn von Jan Philipp Reemtsma und war von dessen Entführung betroffen. In dem Buch reden die Menschen, wie Menschen in den 90er Jahren geredet haben. Es werden Begriffe wie Indianer und Schimpfwörter wie Mongo oder Spasti gebraucht. Auch Christoph Peters erzählt in seinem Dorfroman davon, wie der Erzähler mit Indianerfiguren spielt. Dem Rezensenten war das nicht recht. Er war der Meinung, dass in Büchern, die 2021 erscheinen, solche Begriffe nicht mehr unkommentiert stehen dürften. Ggf. müsse der Verlag einen Disclaimer in das Buch setzen. Ich wiederum bin der Meinung, dass Figuren der 80er oder 90er Jahre nicht von 'Native Americans' sprechen können, denn das wäre ein Anachronismus. Wir hatten damals kein anderes Wort für 'Indianer'.