Was war eure Pflichtlektüre?

  • Ach, die neuen Leiden hatte ich auch, fällt mir gerade ein.

    Gefiel mir überhaupt nicht. Ich habe so einen flapsig-larmoyanten Erzählton in Erinnerung, der mich genervt hat. Aber vielleicht tu ich dem Buch Unrecht, es ist so lange her.

    Edit, da hab ich wieder mal ein Beispiel für mein Mülleimergedächtnis. Es ist mehr als vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch wortwörtlich daran, wie Edgar auf dem Klo das Werther-Büchlein fand. "Und kein Papier, Leute. Ich fummelte wie ein Irrer in dem ganzen Klo rum." Das müsste ein halbwegs wörtliches Zitat sein. Seit vierzig Jahren auf Halde in meinem Kopp ... :rolleyes:

    Hallo Zefira


    Ulrich Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W." hatten 1973 so etwas wie eine Ventilfunktion in der DDR. Ich habe auch noch die sicher durchaus witzige Formulierung von den "Händelsohn Bacholdys" in Erinnerung, deren Musik Edgar Wibeau ablehnte, während ich zu dieser Zeit am liebsten Bach, Händel und Gluck hörte und Goethes Vorlage allemal gegenüber Plenzdorf bevorzugte.

    Plenzdorf war 1974 auch eines der Wahlthemen der Abiturprüfung, ich wählte aber das Moment des Zauderns in Schillers "Wallenstein".


    Den meisten Altersgenossen gefiel das neue Buch von Plenzdorf, und als es in ein Theaterstück umgewandelt wurde, war der Saal der Erfurter Bühne nahezu vollständig besetzt. Von der Schule ausgehende Theaterbesuche, auch im benachbarten Weimar, kamen zum Glück häufig vor - Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist wurden gegeben.

    Die Reaktionen der Schüler fielen mitunter für die Darsteller überraschend aus: Bei Plenzdorf wurden die mitspielende Band sowie die Geste beklatscht, dass Edgar Wibeau mit einem Handkantenschlag einem Sofakissen die spießertypischen Zipfel bescherte.

    In Goethe "Faust I" wurden im Staatstheater Weimar zwei Bemerkungen mit minutenlangem (!) Beifall bedacht, woran im 19. Jahrhundert niemand gedacht hätte:

    Mephistopheles: "Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen" und

    Gretchen: "Es faßt mich kalt am Schopfe: meine Mutter sitzt auf einem Stein und wackelt mit dem Kopfe."


    Einmal ging nach irgendeinem Produktionsstück, bei dem Leute mit Bauarbeiterhelm um einen Tisch saßen und unentwegt über den sozialistischen Wettbewerb diskutierten, auf einmal der Vorhang zu, eine Schauspielerin kam heraus und rief zornig: "Das Bühnenkollektiv hat beschlossen, vor so einem undisziplinierten Publikum nicht mehr weiterzuspielen." Aus der Menge der Schüler: "Seid doch froh, dass endlich Schluss ist! Geht auch nach Hause!"


    Was die Gedichte betrifft, so haben es mir viele Poeten angetan, Goethe vor allem mit seinen Altersgedichten ("Elegie von Marienbad" 1823, schon in der Jugendzeit), aber auch so manche religiösen Dichtungen (obwohl ich selbst religionslos bin)..


    Mein Gedächtnis erhalte ich immer wieder frisch durch ein Tagebuch, das ich seit einem halben Jahrhundert führe, die Bände füllen anderthalb Meter im Bücherregal, und mitunter staune ich, wie oft ich mich fälschlicherweise nur auf mein Gedächtnis verlassen habe. Dazu empfehlenswert: Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. München 2004.

  • Zitat von Karamzin

    In Goethe "Faust I" wurden im Staatstheater Weimar zwei Bemerkungen mit minutenlangem (!) Beifall bedacht, woran im 19. Jahrhundert niemand gedacht hätte:

    Mephistopheles: "Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen" und

    Gretchen: "Es faßt mich kalt am Schopfe: meine Mutter sitzt auf einem Stein und wackelt mit dem Kopfe."




    Als ich mit der Klasse im "Faust" war, gab es am meisten Lachen und Applaus an dieser Stelle:
    ".... Als er in Napel fremd umherspazierte; Sie hat an ihm viel Lieb's und Treu's getan, Daß er's bis an sein selig Ende spürte."

    Bei der letzten Zeile machte Mephisto eine Geste an seinem Rumpf hinunter und mimte mit aufwärts weisendem Zeigefinger eine Erektion. Das war das selig Ende.

    Edit, hab die Zitierfunktion vermasselt ...

  • Gedichte waren bei uns damals auch nicht „in“ (ich habe 94 Abi gemacht). An jede Schullektüre erinnere ich mich nicht mehr, aber ich habe noch einiges an Reclam-Heftchen, die mein Gedächtnis stützen:)


    Kleist - Die Marquise von O.

    Hauptmann - Bahnwärter Thiel

    Lessing - Nathan der Weise

    Goethe - Faust I

    Goethe - Iphigenie auf Tauris

    Schiller - Die Räuber oder Kabale und Liebe (habe beide Reclams und weiß nicht mehr genau...)

    Th. Mann - Tod in Venedig

    H. Mann - Der Untertan

    Fontane - Effi Briest

    Frisch - Homo Faber

    Dürrenmatt - Der Richter und sein Henker

    Zweig - Schachnovelle

    Zuckmayer - Der Hauptmann von Köpenick

    Brecht - Der gute Mensch von Sezuan

    Andersch - Sansibar oder der letzte Grund

    Shakespeare - King Lear

    Williams - A Streetcar named Desire


    Ich habe immer schon gerne gelesen und war auch an der Schullektüre interessiert. Was ich allerdings sehr mühsam empfand war die Nachkriegsliteratur, die wir in der 11. Klasse durchgenommen haben...

    3 Mal editiert, zuletzt von thopas () aus folgendem Grund: Die automatische Textkorrektur hatte aus Andersch leider Anderson gemacht...

  • Wenn ich die Beiträge hier so lese, fällt mir immer mehr aus meiner eigenen Schulzeit ein. "Sansibar oder der letzte Grund" hatten wir auch. Ich musste viel daran denken, als ich im Januar selbst auf Sansibar war. Wie konnte ich das inzwischen wieder vergessen ...

  • Es gab einen Roman, ich glaube von Eva Heller, in dem die Heldin immer einen Band Hegel dabei hat. Sie legt in die Tasche ihres Trenchcoats ganz unten eine Packung Tempos, so dass der Hegel gerade so weit oben aus der Tasche schaut, damit man den Namen "Hegel" auf dem Cover lesen kann.

    Ich erinnere mich an diese Szene.

    Irgendwann bemerkt sie, dass sie noch mehr Tempos drunterlegen muss, sodass man lesen kann:


    Hegel

    Phänomenologie


    Und das findet sie noch cooler....


  • Das ist ja wieder richtig schoen bei und mit Euch. Ein Glueck, dass ich das Forum gefunden habe und, dass es Leute gibt, wie den Sandhofer und die Suse, die das eroeffnen und am Laufen halten. Danke an Euch alle!

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Lustig, dass so viele "Die neuen Leiden" erwähnen! Hier müssen viele Teilnehmer in der zweiten Hälfte der 70er die Oberstufe besucht haben. Da war der Roman total in.
    Ich hatte LK Deutsch, in NRW war das - glaube ich - der zweite Durchgang. Wir haben sehr viel gelesen, und ich hatte bei der gleichen, wirklich guten und motivierenden Lehrerin auch noch den Literaturkurs. Dort lernten wir die antiken Dramen und das Theater des Absurden kennen. Im LK lasen wir dagegen an den Literaturepochen entlang. Goethe war natürlich ein Schwerpunkt. Neben den "neuen Leiden" lasen wir auch als moderne Adaption eines Goethe-Werks den "Doktor Faustus" von Thomas Mann. Das finde ich auch heute noch ganz schön anspruchsvoll, selbst in einem Deutsch-LK. Aber es hat sehr viel Spaß gemacht und mir viel gebracht. Ich muss den Roman unbedingt noch einmal lesen. Heute eröffnen sich da sicher noch ganz andere Perspektiven.
    Ohne meine Lehrerin hätte ich bestimmt dennoch mein ganzes Leben gern gelesen, aber sie hat das tiefe Interesse an Literaturgeschichte und literarischen Beziehungen in mir geweckt, und ich bin ihr sehr dankbar. Einer der Menschen, die mein Leben sehr bereichert haben.

  • Leider hatte ich weder in Deutsch noch im Literaturkurs einen Lehrer der große Begeisterung für die Literatur wecken konnte, wenn ich nicht schon gelesen hätte, wäre ich dadurch sicherlich nicht zum vertieften Lesen gekommen. Ich kann mich noch gut erinnern, das ich ganz versessen auf den Literaturkurs war, der Lehrer aber ziemlich oft blau gemacht hat. Also diesmal andersrum.

    Und wenn er denn mal da war, war er ziemlich gelangweilt. Bei mir war es die Mathematiklehrerin, die Begeisterung für die Mathematik weckte, und vermutlich deshalb habe ich dann auch Mathematik studiert. Es macht schon eine Menge aus, wer da vorne sitzt und Begeisterung zu wecken in der Lage ist.


    Gruß, Lauterbach

  • Bei mir waren die Eltern und vor allem mein Vater maßgebend. Ebenso wie später meine Töchter konnte ich lange, bevor ich in die Schule kam, lesen. Meine Eltern waren Mitglieder der Büchergilde undich durfte mir immer zu Weihnachten bzw. Geburtstag Bücher aus dem Katalog aussuchen. Zudem las ich mich wahllos durch die elterliche Bibliothek; darunter war vieles, wofür ich eigentlich zu jung war und was ich nicht verstand, aber vieles machte mir auch große Freude. Ich habe zum Beispiel mit etwa 11 oder 12 Jahren die "tolldreisten Geschichten" von Balzac gelesen, in einer Ausgabe mit Illustrationen von Doré, und war ungeheuer beeindruckt.

    Die Schullektüre hat mich weit weniger interessiert. Ich kann mich erinnern, dass ich die ausgegebenen Lesebücher durchgelesen habe, von vorne bis hinten. Aber was besprochen wurde, ging meistens wenig "an mich".

  • Im Deutsch-Grundkurs (12. und 13. Klasse) hatte ich eine Lehrerin, die Literatur ganz gut vermitteln konnte. Von „Tod in Venedig“ und „Homo Faber“ war ich begeistert, habe die Bücher auch noch danach mehrmals gelesen. Für das mündliche Abi habe ich „Faust I“ ausgewählt, was mir wirklich Spaß gemacht hat.


    Gelesen habe ich aber vorher schon gerne, auch auf Englisch (seit ich ca. 16 war). Die „Neuen Leiden des jungen W.“ habe ich allerdings erst auf der Uni kennengelernt. (In der zweiten Hälfte der 70er war ich noch im Kindergarten ;)). Hat mich jetzt nicht sonderlich interessiert, aber da war die Zeit vermutlich vorbei (Mitte der 90er)...

  • Um das Jahr 2001 herum hatten wir im Französisch-LK unsere erste Erzählung gelesen. Ich hatte etwas Mühe mitzukommen. Die Geschichte war existenzialistisch angehaucht; es ging um einen Mann, der Hauseinbrüche begeht, um seine Familie ernähren zu können.

    Ein paar Jahre später und schon am Ende des Studiums hörte ich dann im Radio, wie der neue Literatur-Nobelpreisträger bekannt gegeben wurde. Er schien ein großer Unbekannter zu sein. Ein Literaturkritiker wurde in der Sendung zugeschaltet und musste gestehen, dass er von dem Autor noch nichts gehört hatte. Sein Name: Jean-Marie Gustave Le Clézio - es war der Autor, dessen Einbrecher-Geschichte wir damals im Französisch-Unterricht gelesen hatten. Das fand ich toll. :)

    Das Leben nimmt den Menschen sehr viel Zeit weg.

    - Stanislaw Jerzy Lec -

  • Abi 90

    Deutsch und Englisch Leistungskurs


    erinnere mich an

    (die Bücher, die ich wirklich mochte sind fett gedruckt)


    Deutsch


    (Mittelstufe)

    Der Papalagi - Erich Scheurmann

    Biedermann und die Brandstifter - Max Frisch

    Der gute Mensch von Sezuan - Brecht

    Mutter Courage - Brecht

    Der Schimmelreiter - Storm

    Kleider machen Leute - Gottfried Keller

    Romeo und Julia auf dem Dorfe - Gottfried Keller

    Wilhelm Tell - Schiller



    (Oberstufe)

    Die Räuber - Schiller

    Emilia Galotti - Lessing

    Faust I - Goethe

    Simplicissimus - Grimmelshausen

    Bahnwärter Thiel - Gerhart Hauptmann

    Die Ratten - ebender

    Dr. Faustus - Thomas Mann

    Der Prozess - Franz Kafka

    Der Hauptmann von Köpenick - Carl Zuckmayer

    Die Entwicklung - Peter Weiss

    Michael Kohlhaas - Kleist

    Jakob der Lügner - Jurek Becker


    und - scheinbar die einzige Frau -

    Das siebte Kreuz - Anna Seghers

    und selbst da komme ich ins Schwanken, ob ich das nicht neben der Schule gelesen habe


    Englisch


    Macbeth - Shakespeare

    Tom Sawyer - Mark Twain

    Lord of the flies -William Golding

    (wobei das war halb Pflicht - freiwillig für ein Referat ausgesucht)

    irgend etwas von Hemingway und Orwell meine ich noch zu erinnern


    Was ich in der Schule gelesen habe, hat mich geprägt -

    den Deutschlehrer - den gab es bei mir aber nicht.


    5. - 7. Klasse, da erinnere ich fast nur Grammatik und der Lehrer wurde seitens Teilen der Elternschaft "erledigt" - ich meine, er hatte ein Alkoholproblem oder es wurde ihm angedichtet - der war dann einfach weg -

    der Lehrer in der Mittelstufe danach, mit dem bin ich nicht wirklich warm geworden - alerdings vermute ich, dass meine Brecht-Prägung von ihm stammt.

    Oberstufe, ein tief gläubiger Katholik, war mir eher fremd von seiner Prägung - aber fachlich guten Unterricht hat er gemacht -


    Ich habe nichts mit Literatur studiert - aber im Studium dann noch "Èmile" - Rousseau gelesen.

    "Der Mann ohne Eigenschaften" - Robert Musil, da habe ich ein Seminar, was ich freiwillig extra besucht hatte, abgebrochen - habe ich bis heute nicht fertig gelesen.

    Wäre vielleicht auch mal ein Ziel.

    _____________________________________________________


    Das Lehrer sehr prägen können, dass ist auch meine Erfahrung, in den Naturwissenschaften, wurden meine Noten z. B. sofort deutlich besser, wenn Lehrerinnen unterrichtet haben. Hatte für mich persönlicheren Vorbild-Charakter, mehr Identifikationspotential.

    Eine Mathe- und eine Physiklehrerin sind mir sehr klar in Erinnerung. Beide haben mir viel gegeben.

    Zeuge vom Ablauf der Dinge zu sein, heißt zunächst, sie wahrzunehmen.

    (Pascal Dusapin)

    Ich bin niemand. Wer bist Du?

    (Emily Elizabeth Dickinson)

    3 Mal editiert, zuletzt von dike ()

  • Diese Diskussion ist ja grundsätzlich schwierig zu führen. Wenn Ziel des Deutsch- (bzw. Literatur-)unterrichts ist, einen fundierten Überblick über die klassischen und prägenden Werke der Literaturgeschichte zu vermitteln, dann wird man eben einen Überhang männlicher Autoren haben. Einfach weil die Kultur und die Öffentlichkeit über weite Strecken männlich dominiert war. Zudem folge ich der Autorin des Beitrags auch nicht darin, dass Bücher von Männern keine weiblichen Themen adäquat vermitteln oder vermitteln können. Romane von Theodor Fontane über Frauenfiguren halte ich für durchaus geeignet, eine weibliche Perspektive darzustellen (um nur ein Beispiel zu nennen). Es ist überdies ja legitim, auch die Werke von männlichen Autoren mit einem feministischen Blick zu lesen und zu interpretieren. Ich bin aber nicht dafür, den klassischen Kanon überhaupt zu skandalisieren, weil er nicht die den Erwartungen einer heutigen Gesellschaft gerecht wird. Da teile ich die Prämissen der Autorin überhaupt nicht. Ich habe auch den Eindruck, dass sie zu viele sekundäre Kriterien in die Literaturbetrachtung einbezieht, anhand derer sie dann entscheiden möchte, was gelesen werden soll bzw. gelesen werden darf. Wenn man das ein bisschen weiterspinnt und nicht nur die feministische Sicht einbringt, sondern auch andere Perspektiven, dann wird die Literatur zu einem Spielball gesellschaftlicher Interessen. Dann könnte man auch mit Fug und Recht fordern, nicht nur die weibliche Perspektive berücksichtigen zu müssen (Autorenseite und Inhalt bzw. Personen der Literatur), sondern auch die von LGBTIQ+, von ethnischer Diversität, von gesellschaftlichen und ökonomisch marginaliserten Randgruppen, von nicht-humanen Charakteren (Speziezismus!!) usw. usf. Dann werden Bücher auch danach beurteilt, ob darin Tiere gegessen werden oder geraucht oder Arbeiter ausgebeutet oder CO2 ausgestoßen. Ich übertreibe natürlich. Aber die Tendenz sehe ich - und halte sie für fatal.


    In letzter Konsequenz führt sich dann möglicherweise zu einer Haltung, wie Suse sie jüngst im Nachbarforum formulierte, als sie sich aus Ärger über Äußerungen von Wolfgang Hohlbein dazu entschied, in Zukunft keine Bücher mehr von weißen Cis-Männern zu lesen. Das ist dann das andere Ende des Spektrums. Aber ich frage mich, was es bringen soll, wenn man eine kritisierte oder empfundene Form von 'Diskriminierung' mit einer ebensolchen Haltung beantwortet - besonders, wenn sie sich gar nicht auf geäußerte Meinungen oder Werke, sondern ganz schlicht auf die Personen der Autoren beziehen.

  • Verstehe die Aufregung um Hohlbein auf Twitter nicht so ganz. Schaut man sich das Original Video an, dann erst recht nicht. Warum soll ein Autor einen Rassisten nicht das Wort Nigger sagen lassen? Bei Literatur kommt es doch letztlich darauf an wie gut sie gemacht ist.

  • Ja, ich verstehe das ebenfalls nicht. Es wäre ja authentisch, wenn ein Rassist dieses Wort benutzt, denn es gehört zu seinem Wortschatz.


    Nun ist es aber - soweit ich einige der Diskussionen um das Thema richtig verstanden habe - so, dass das N-Wort nicht mehr verwendet werden darf, weil es beleidigend ist und negative Gefühle auslöst. Und das ganz unabhängig davon, von wem und in welchem Kontext. Deshalb darf sogar eine Diskussion um das Wort schon das Wort selbst nicht mehr verwenden (siehe Diskussion im MDR vor einger Zeit). Und das passt sehr in eine generelle gegenwärtige Tendenz, in der Kunst vorwiegend danach bewertet wird, welche Affekte sie auslöst. Sobald eine Gruppe von Menschen sich dadurch potenziell beleidigt oder herabgesetzt fühlt, gilt die Kunst als böse und kann verboten werden.


    Einige dieser Fälle beschreibt Hanno Rautenberg in einem sehr lesenswerten Büchlein:

    https://www.suhrkamp.de/bueche…nno_rauterberg_12725.html


    Ein bisschen scheint mir auch die Autorin des verlinkten Textes in diese Falle zu tappen, denn ihr Anspruch an die zu behandelnde Schullektüre ist ja offenbar, dass auch junge Leserinnen "sich identifizieren" können. Jetzt kann man natürlich fragen: ist denn das überhaupt das Ziel? Für eine Literaturrezeption, die in erster Linie auf Affekte setzt, ist das bestimmt so. Aber das darf man gewiss in Frage stellen.

  • Die Autorin hebt nach meiner Erinnerung (ich habe den Artikel jetzt nicht noch einmal gelesen) u.a. stark darauf ab, dass das Ziel der Schullektüre sein soll, Schüler und Schülerinnen erst mal ans Lesen heranzubringen, Interesse für Bücher zu wecken. Nach ihrer Meinung spielt es dabei eine Hauptrolle, inwieweit eine Identifikation möglich ist, bzw. der Leser / die Leserin beim Lesen das Gefühl hat, dass die Lektüre "einen angeht".


    Ich befinde mich da ehrlich gesagt auf unsicherem Gelände, weil ich gerade darüber nachdenke, was mich eigentlich als Jugendliche fürs Lesen begeistert hat - und ich habe so viel und so vertieft gelesen, dass meine Eltern mir schon mal im Ärger gesagt haben, ich lebe nur in Phantasiewelten. Ich glaube, ich habe viel eher aus Begeisterung über die Sprache gelesen als aus Interesse für bestimmte Themen. Zum Beispiel war ich begeistert von Balzacs Tolldreisten Geschichten und von Ludwig Thomas Lausbubengeschichten, die mir als Dreizehnjähriger glatt gar keine Gelegenheit zur Identifikation gegeben haben - ich habe mich nur an dem ungewohnten Sprachduktus berauscht. (“Ich habe doch gar keinen Stein nicht hineingeschmissen" usw - für mich als Mitteldeutsche eine irre Sprache ...)

    Ein Buch wie Hermann Kants "Die Aula", das bei uns Schullektüre war, hat mich dagegen sehr wenig interessiert. Das war mir mit all dem spätpubertären Gelaber viel zu nah an der Wirklichkeit.

    Ich meine mich zu erinnern, dass meine beiden Töchter (die immer gern gelesen haben, es auch beide schon lange vor der Einschulung konnten) einen ähnlichen Ansatz bei der Wahl ihrer Lektüre hatten.


    ps. Ich lese in einer Facebookgruppe für deutsche Literatur mit. Da ist gerade eine heftige Diskussion entbrannt über diese Aktion hier:
    Künstlergruppe bewirft Goethes Gartenhaus mit Klopapier
    Wie auf FB üblich, wird die Debatte schnell unnötig emotional bis zur gegenseitigen Beleidigung. Speziell geht es um Goethes "Heideröslein", worin er eine Vergewaltigung bagatellisiere. Wer natürlich an klassische Literatur die Maßstäbe der metoo-Debatte anlegt, kann fast den ganzen Kanon in die Tonne treten ... dies nur am Rand ...


    pps. "

    Nun ist es aber - soweit ich einige der Diskussionen um das Thema richtig verstanden habe - so, dass das N-Wort nicht mehr verwendet werden darf, weil es beleidigend ist und negative Gefühle auslöst." (Zitat JHNewman)

    Mein Himmel - wenn man das so weiterdenkt - das wäre ja das Ende jeder Literatur. Zum Haareraufen, dieser Standpunkt.



  • Ja, zum Haare raufen. Und auch eine Umkehrung aller klassischen Kunstdefinitionen, oder? Früher war es so, dass Kunst ja gerade die Freiheit hatte, Grenzen zu überschreiten. Kunst sollte verunsichern und provozieren. Diese neue Art der Unfreiheit verhindert künstlerische Freiheit dadurch, indem sie den Künsterinnen und Künstlern verbietet etwas zu tun, das die 'Gefühle' von Menschen irgendwie verletzen könnte. Und ironischereweise im Namen einer 'Freiheit' - diese Aktionsgruppe "Frankfurter Hauptschule" würde sich ja wahrscheinlich als Agentin der Frauenbefreiung verstehen.

  • Ich verstehe natürlich, was diese Aktionsgruppe meint. Ich habe vor ein paar Wochen die ersten Kapitel in Zolas "Rom" gelesen - es ist das einzige, was mir von der Städtetrilogie noch fehlt - und war diesmal wirklich verärgert über Zolas hanebüchenes Frauenbild, obwohl ich es ja von der Rougon-Maquart-Serie hinreichend kenne. Aber andererseits ist das ja der Grund, warum man liest - um sich in einen anderen Kopf zu versetzen. Wenn ich nur noch Selbstbestätigung lesen will, kann ich es auch ganz lassen.


    Edit, hier noch ein Link zum Thema - auch da jetzt über den allgemeinen Kunstbegriff, nicht über Schullektüre:

    Schreiben mit Kondom