Aber es gibt doch keine neuere, oder?
Genau. Joyce ist zwar seit 10 Jahren auch hierzulande "frei" und von "Dubliners" oder dem "Portrait" gibt es ja auch neue Übersetzungen – aber an eine Neuübersetzung des "Ulysses" hat sich bislang kein Verlag gewagt.
Zum einen liegt das wohl daran, dass die derzeit als zuverlässig geltende Ausgabe des Original-Textes eine Edition von 1984 ist, die also noch nicht frei ist, zum anderen, dass eine Neuübersetzung auch ohne Lizenzgebühren ein erhebliches finanzielles Risiko darstellt, das wohl kein Verlag eingehen möchte. Die Übersetzung würde wohl sehr lange dauern (was schon per se kostspielig ist) und auf dem Markt müsste eine Neuübersetzung gegen die kanonische Wollschläger-Übersetzung antreten, was ich mir ziemlich schwierig vorstelle. Ohne einen Mäzenaten gleich welcher Art lässt sich dergleichen wohl nicht auf die Beine stellen.
Die seinerzeit geplante Revision der Wollschläger-Übersetzung – die natürlich als solche noch geschützt ist – scheiterte vor ein paar Jahren an Einsprüchen der Rechte-Erbin dieser Übersetzung, das gab einen ziemlichen Wirbel (ich hatte damals ein paar Links zusammengetragen, ob die noch funktionieren, weiß ich nicht). Von der Revision wurde eine Mini-Auflage von 200 Exemplaren oder so gedruckt, die an Uni-Bibliothek für die Forschung verteilt wurden (oder so ähnlich ;-)).
Das ist alles sehr bedauerlich. In der "Nachbemerkung" der Wollschläger-Übersetzung heißt es: "Es gibt zur Zeit immer noch keinen zuverlässigen, fehlerfreien englischen Text des Ulysses: alle Ausgaben des Originals sind unverhältnismäßig korrupt". Daher würden "Übersetzer und Herausgeber … weiter an der Übersetzung arbeiten …. Es ist denkbar, daß sie in einer späteren Auflage an einzelnen Stellen zu anderen Lösungsvorschlägen als den hier gemachten gekommen sein werden."
Das war 1975. Die Weiterarbeit an der Übersetzung fand anscheinend nicht statt, und seither hat sich in der Joyce-Philologie einiges getan. Inzwischen gibt es, soweit ich weiß, mit der oben erwähnten Gabler-Edition von 1984 einen Text, der in der Forschung wohl als zuverlässig gilt. Wollschlägers Übersetzung müsste also allein schon deshalb überarbeitet werden, weil sich die Textgrundlage an vielen Stellen geändert hat (oft wohl nur minimal, mitunter auch deutlich). Es gibt in der Wollschläger-Übersetzung Passagen, die sind schlicht unverständlich – nicht, weil Wollschläger da gepfuscht oder Joyce absichtlich Unfug geschrieben hätte, sondern weil da im Original-Text einfach einzelne Wörter oder gar Zeilen fehlen.
Der nächste große Joyce-Termin, der genügend Aufmerksamkeit für eine Neuübersetzung verspricht, wäre sein 100. Todestag 2041 …: Da wäre ich 80, das könnten ich vielleicht noch erleben ;-).