Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf

  • Wieder eine lange Vorrede zum Religionsthema, und dann kommen Stellen aus dem Roman.



    Dass das Religionsthema nicht Deine „Baustelle“ ist, kann ich schon verstehen, dazu gibt es für Dich sicher tiefer gehende Lektüre, auch in Romanform.


    Den Konfessionslosen bringt allerdings die Krähe Munin schon an manchen Stellen zum Schmunzeln.


    Es ist doch für Nichtgläubige in manchem ein Rätsel geblieben: was glauben die Religiösen, hierzulande vor allem die Christen, denn wirklich? und welche Auswirkungen hat das dann für uns, die wir nicht zu dieser Menschengruppierung gehören? Und unsere Kinder wegen der Mehrheitsverhältnisse mancherorts mit praktizierter Religionsausübung, Gebeten usw. konfrontiert werden und sich als Nichtkonfessionelle in einer Minderheitenposition wiederfinden, wie umgekehrt vor 1990 weiland im Osten die christlichen Kinder? Schwarzgrau gefiederte Nebelkrähen gibt es nur östlich der Elbe.

    Dass ein Gott als Person wirklich allein oder mit Gefolge auf einer Wolke sitzt und auf uns herabschaut, wie das auf Heiligenbildern zu sehen ist, dürften wirklich nur noch die wenigsten glauben. Dass er als eine Person jedem einzelnen, Millionen von Menschen jeweils ins Herz schaut und speziell für jeden einzelnen da sein soll, ist ebenso wenig zu begreifen, man muss daran glauben.


    Dass sich Menschen in einer angestammten Religionsgemeinschaft wohlfühlen, kann ich mir ohne weiteres vorstellen. Dass viele ein unbestimmbares „Da muss es doch noch etwas außer unserer erfahrbaren Welt geben“, irgendein Prinzip, das in die Weltläufte eingreift, habe ich ebenso oft gehört wie die Bemerkung, dass es heutzutage wahrscheinlich schon ebenso viele Gottesvorstellungen gibt wie Gläubige.


    Dass bei vielen schließlich eine Art "Pantheismus" herauskommt - Gott ist in uns, ist in allem, in jedem Lebewesen, Gott und die Welt, die Natur sind eins - lässt verständlich werden, dass sich Munin auch mit vollem Recht als Gott begreifen lassen will.


    Das ist dann allerdings wirklich Glaube als Privatsache, die jedem überlassen bleiben sollte, dazu brauchten wir im Osten, falls noch getauft, auch keine Kirchensteuer zu bezahlen (meine Familie ist in dritter Generation nichtkonfessionell; schönen Gruss an Seehofer, Dobrindt usw. mit ihrer christlich-jüdischen Wertegemeinschaft).


    Die alten Attribute für einen Gott – allwissend (alles vorausschauend), allmächtig und vor allem allgütig! - dürften sich mit Blick auf Auschwitz, Srebrenica und Aleppo erledigt haben, die er dann zugelassen hätte, das wäre ja schon fast in früheren Vorstellungen "Gotteslästerung". Im 17. und 18. Jahrhundert ließ man sich vielleicht angesichts des Übels in der Welt noch damit abspeisen, dass Gott mit dem Übel den Glauben der Menschen prüfen will (was wiederum den Teufel überflüssig machte), heute geht das nicht mehr. Dieser Gott wäre aber nach den Greueln des 20. Jahrhunderts der übelste menschenverachtende Zyniker, wo gab. Also weg mit den menschengemachten Attributen.

    Die „Theodizee“-Problematik stellt sich für Nichtgläubige ebenso wenig wie die „Leib-Seele-Problematik“. Und mit all diesen Einlassungen dürfte ich heutigen Gläubigen auch hoffentlich nicht zu nahe treten? wenn ja, kann das ja geschrieben werden.


    Heutigen Christen die Kreuzzüge und die Inquisition um die Ohren hauen zu wollen, ist in meinen Augen für Konfessionslose total unhistorisch und völlig unangebracht, der Katholik Arnold Angenendt hat in meinen Augen zur Inquisition genug Zutreffendes aus den Quellen zutage gefördert. Ein Atom U-Boot „Corpus Christi“ zu nennen, wie in den USA im Kalten Krieg geschehen, geht ebenso wenig, wie ein Segnen von Waffen gegen die Kommunisten oder das Einüben von Kindern im Waffengebrauch für den Krieg gegen den "imperialistischen Klassengegner" bei Letztgenannten.

    Den Atheisten den Klosterschüler Stalin (der in einer Generation in der DDR viel eher als Hitler eine unbekannte "Unperson" war, über den im Unterricht zu meiner Zeit nichts gebracht wurde) oder Pol Pot vorzuwerfen, ist ebenso unangebracht. Ungeheure Verbrecher gab und gibt es unter Gläubigen und Ungläubigen.


    Nichtgläubigen „fehlt nichts“ im Leben, und sie müssen für nichts gewonnen werden, sie denken nicht nur an das Materielle im Leben und haben (zumeist) ebenso ihre eigenen begründeten Moralvorstellungen, wie die Gläubigen.

    Sozialleistungen und Hilfe für Alte und Kranke werden prozentual am meisten überwiegend aus allgemeinen Steuermitteln finanziert, nicht aus der Kirchensteuer, mit der vor allem der eigene Apparat am Laufen gehalten wird.

    Die Überdimensionierung von Veranstaltungen des Luther-Jahres 2017, die auch Nichtgläubige mitfinanzierten, ging nicht nur Konfessionslosen auf den Zeiger, sondern auch Kirchenmännern, wie dem von mir sehr geschätzten Friedrich Schorlemmer. Für die Rekonstruktion von Kirchenbauten und gefährdeten christlichen Kunstwerken würde ich immer auch aufkommen wollen.

    Mann, bin ich hier noch bei Literaturbetrachtung oder auch schon am hemmungslosen Ausposaunen von Weltsicht?

    (Politik, Religion und Kindererziehung nicht am Mittagstisch oder am Stammtisch, aber wie ist es in einem "Klassikerforum"?)


    Deshalb kommt jetzt natürlich Munin, denn die Religionsfrage ist dann doch zentral in dem Roman.

  • Die Krähe beginnt erst auf S. 89 zu sprechen, kurz nachdem die Sätze gefallen waren, die Leser provoziert und verärgert haben, der von den schwarzhaarigen Kindern auf dem Spielplatz, die alle erwachsen würden und selbst wieder Kinder hätten, und der:


    „War es nicht so, dass die hunderte Millionen Söhne uns längst den Krieg erklärt hatten, und wir glaubten immer noch, sie ließen sich beschwichtigen oder wir könnten sie besiegen?“ (S. 88)


    (um auf die islamistische Gefahr, die real ist, zu verweisen, darf man da in einem Roman maßlos übertreiben? darf ein anderer Schriftsteller eine ebenso fiktive Zahl hinwerfen, wie hier die "Ich-Erzählerin" Mina Wolf die "hunderten Millionen", die "95 Prozent" (Tellkamp), die man aus dem Kontext herauslöst und über die man sich empört, während andere diese Zahl sogleich mit Verweis auf tatsächliche Bewilligungen von Asylanträgen zu rechtfertigen versuchen? Angesichts der Spaltung im Land, die jetzt auch Frau Merkel anerkennt, ist es nahezu unvermeidlich, dass solche hingeworfenen Zahlen sofort extrem unterschiedliche Standpunkte herausfordern, gleich ob die "Provokation" wohldurchdacht war oder im Eifer des Gefechts aus einer emotionalen Aufwallung heraus gebracht wurde).


    und die Ich-Erzählerin Mina zu weinen und zu jammern begann: „O Gott, mein Gott“,

    (ob die Stieftochter des sozialistischen Innenministers der DDR wirklich zu beten gelernt hat oder nur ihre Romangestalt mit dieser Fähigkeit ausstattete?)

    fing Munin nach einem krächzenden Gelächter an:


    „Welchen Gott meinst du denn überhaupt?“ (S. 89)


    Eben darauf wollte ich in meiner Vorrede hinaus: Woran glauben denn überhaupt die Gläubigen, wenn sie ihren Gott anrufen?


    „Ich glaube überhaupt nicht an Gott, sagte ich“, antwortete die Erzählerin Mina. Dass mit "o Gott" wäre also nur so eine Redensart, wie sie nahezu alle gebrauchen, auch die Nichtgläubigen, ohne weiter darüber nachzudenken, dass sie einen "Gott" anrufen, was über Jahrhunderte hinweg durchaus ernst genommen worden war,


    wie auch das "Fluchen", das einst eine magische Beschwörungsformel bedeutete und heute zur Alltagserfahrung gehört, , wenn es nicht gerade an konkrete Personen gerichtet ist, das für einen Augenblick erleichtert, und kaum noch von irgend jemandem mit Religion in Verbindung gebracht wird.


    Die Krähe erwiderte: „Dachte ich mir … so seid ihr. Ihr versteht euch selbst nicht, darum landet ihr immer im gleichen Schlamassel, und dann heult ihr.“ … „Erst erfindet ihr euch einen Gott, dann glaubt ihr nicht an ihn, und wenn es schlimm kommt, schreit ihr wieder nach ihm. Und obendrein halten ihr euch für vernünftig.“ (S. 89)


    Der Gott der Menschen ist, der Krähe zufolge, von Menschen selbst gemacht.

  • "So fängt es immer an, ihr seid für Frieden einfach nicht begabt", sagte Munin (S. 110),


    nachdem sie zu verstehen gegeben hat, dass sie auch Gedanken lesen kann. Das ist in der Literatur nichts Neues. In Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" kommt auch eine Figur vor, die den gedachten Gedanken eines anderen laut zu Ende führt.


    Wenn man das einmal im wirklichen Leben ausprobiert und damit einen Volltreffer gelandet, den Satz eines anderen zu Ende geführt hat (ist mir schon mehrfach geschehen), denkt man an die Romanliteratur und weiß zugleich, dass es keine "Telepathie" ist, sondern die "Schwingungen" zweier Gehirne einander berühren.

    Wenn dann noch Gin Tonic und ganze Flaschen Rotwein im Spiel sind, kann so etwas ohne weiteres passieren.


    "Für Frieden einfach nicht begabt" - das weist also auf einen Grundzug in der Menschheitsgeschichte hin: es hat immer wieder Kriege gegeben und immer wieder Friedensschlüsse, wie den von JHNewman analysierten Westfälischen Frieden, der durchaus Langzeitwirkungen im Heiligen Römischen Reich hatte, wenn auch mit dem spanisch-französischen Krieg der 1650er Jahre, dem Nordischen Krieg um 1655, dem "Reunionskrieg" des Sonnenkönigs, dem Pfälzischen Erbfolgekrieg, infolge dessen Heidelberg, Speyer und Mannheim in Flammen aufgingen, gleich wieder schwere Kampfhandlungen in Europa aufflackerten.


    Für Krieg und Frieden gleichermaßen begabt? Friedensperioden waren kurzzeitig. Ein Krieg kann auch in Friedenszeiten mit anderen Mitteln weitergeführt werden, wenn man den Menschen einredet, dass die Bewohner eines anderen Landes ihre Feinde seien, wenn man nur in einer anderen Macht den Ursprung des Bösen sieht (sich selbst als "die Guten") und sie mit Wirtschaftssanktionen überzieht, die immer nur die einfachen Menschen und die eigene Wirtschaft treffen, während die Reichen ihre Schlupflöcher fanden und finden.

  • Ich muss gestehen, dass mir die Gespräche mit der Krähe beim ersten Lesen wenig gegeben haben. Aha, habe ich zunächst gedacht, nun arbeitet sich eine religionskritische Intellektuelle aus dem Osten am Religionsthema ab und lässt dabei erkennen, wie unbehaglich ihr das alles ist... Die Einsichten der Krähe haben mich wenig beeindruckt, also habe ich das weitgehend überlesen und nicht weiter bedacht.


    Nach einigem Nachdenken erscheinen mir die Gespräche mit der Krähe aber doch doppelbödiger, weil sie sich die dialektische Struktur des Romans sehr gut einpassen und - meines Erachtens - eine tiefe Ironie durchblicken lassen.


    Das fängt - natürlich - mit der Existenz der Krähe an sich schon an. Mina Wolf ist nicht für die Religion und sie ist auch nicht für das Übernatürliche. Durch die Einwanderung vieler Muslime, die ihre Religion sehr viel ernster nehmen als der Durchschnittsdeutsche, wird sie mit einem Wiedererstarken der Religion konfrontiert. Einige Muslime verstehen ihre Religion sogar als einen Aufruf zur Gewalt. Ähnliches begegnet ihr in historischer Gestalt im Christentum - nämlich in den Konfessionskämpfen des 17. Jahrhunderts. Höchst beunruhigend. Aber statt sich nun durch kühlen Rationalismus oder kämpferischen Atheismus gegen diese Rückkehr zu wappnen, begegnet der Hauptfigur die sprechende Krähe Munin. Und diese behauptet auch noch frech, Gott zu sein. Zwar quittiert Mina das mit einem harschen "Quatsch!", aber in Gestalt der Krähe muss sie sich nun mit dem 'Göttlichen' erneut auseinandersetzen...


    Ganz grob gesprochen kann man die klassischen monotheistischen Religionen dadurch charakterisieren, dass in ihnen Gott (Jahwe, Gott, Allah) den Menschen in einer personalen Form gegenübertritt. In dem Gegenüber zwischen Gott und Mensch erfährt der Mensch, wer er ist, was seine Möglichkeiten und Grenzen sind, was er eben auch nicht ist usw. Das ist ein Grundzug der monotheistischen Religionen. Wie der Mensch als Individuum sich selbst wahrnimmt und erkennt erst durch die Begegnung und Abgrenzung zu anderen Individuen, so erkennt er sich selbst als Mensch eben erst in der Begegnung mit und Abgrenzung von Gott.

    Die tiefe Ironie der Krähenszenen liegt nun darin, dass Mina, die an keinen Gott glaubt, diesem Gegenüber in Gestalt der Krähe begegnet. Und dass sie ausgerechnet mit dieser Krähe nun alle tiefen Menschheitsfragen behandelt, die der Mensch traditionellerweise mit Gott ausmacht. So geht es um die klassischen Topoi der Allmacht Gottes, der Allwissenheit, der Theodizee (also der Frage nach dem Bösen, seiner Herkunft und der Verantwortung dafür). Die Krähe hält Mina einen Spiegel vor, auch einen Spiegel der menschlichen Irrungen und Verfehlungen - wie es traditioneller Weise auch die religiöse Überlieferung tut.


    Das ist Mina unangenehm und sie versucht sich dieser Herausforderung durch die wiederholte Versicherung, sie glaube ja gar nicht an Gott, aus der Affäre zu ziehen. Das hilft ihr gar nicht. Denn die Krähe erkennt diese Ausflucht nicht an, sondern hält sie für tadelnswert und töricht: erst macht Ihr Euch einen Gott und dann glaubt Ihr nicht an ihn... Das ist nun wirklich witzig, denn es zeigt: die Nichtreligiosität Minas löst keine Probleme. Konkret: der Problematik, die durch gewalttätige oder gewaltbereite Religionen entsteht, kann man nicht entkommen, indem man einfach nicht an Gott glaubt oder vorgibt, das zu tun.

    Aber der Gipfel der Ironie ist natürlich, dass genau die Krähe, die erklärt, die Menschen hätten Gott selbst erfunden, sich am Ende als Erfindung (oder Einbildung) Minas erweist. Denn die Stimme der Krähe, die ihr all diese Weisheiten einflüstert, kann niemand außer Mina hören...


    Das ist schon wirklich geschickt gemacht.

  • Vielen Dank!, schoen dass die Sache weitergeht. Hoffentlich schreibt auch Newmann wieder. Es ist ein Gewinn, bei zwei so beschlagenen Leuten mitzulesen. Schoen ist auch, dass Newmann glaeugbiger Christ und Karamzin - wie ich - nichtglaeubig ist. Trotzdem - oder gerade deshalb - ist die WElt fuer mich voller Wunder, die ja schon damit anfangen, dass Etwas ist und nicht Nichts. Zu meiner Freude sehe ich gerade eben die Meldung, dass Newmann auch geschrieben hat. Na, schnell mal gucken.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Danke, Newman, natuerlich mit einem n. Die Sache mit der Kraehe als innere Stimme, erinnert mich an Schopenhauer: Wir sind der Theaterdirektor unserer Traeume (oder so aehnlich).

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Vielen Dank!, schoen dass die Sache weitergeht. Hoffentlich schreibt auch Newmann wieder. Es ist ein Gewinn, bei zwei so beschlagenen Leuten mitzulesen. Schoen ist auch, dass Newmann glaeugbiger Christ und Karamzin - wie ich - nichtglaeubig ist. Trotzdem - oder gerade deshalb - ist die WElt fuer mich voller Wunder, die ja schon damit anfangen, dass Etwas ist und nicht Nichts. Zu meiner Freude sehe ich gerade eben die Meldung, dass Newmann auch geschrieben hat. Na, schnell mal gucken.

    Hallo Volker,


    "Wunder" ist das Stichwort. Mina Wolf bekennt, nachdem die Rede auf Munins Ururtante gekommen war, die noch zweihundert Jahre vor der Zeit der Annette von Droste-Hülshoff, also zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, gelebt und von der die Schriftstellerin doch gewusst habe:

    "Aber sie hat es gewusst, sagte ich, es gibt Geheimnisse. Und Wunder."

    Darauf Munin: "Was sind Wunder?"

    "Wunder sind absolut unerklärbare Geschehnisse."

    "So etwas kennen wir nicht, weil wir keine erklärbaren Geschehnisse kennen. Es ist wie es ist. Wunder sind für Menschen, sagte Munin." (S. 158)


    Das ist so eine Attacke auf den Anspruch des Menschen, Geschehnisse erklären, Ursache und Wirkung feststellen zu wollen.

    Nach einer Pause Mina Wolf:

    "Gut, sagte ich, Wunder sind für Menschen, das verstehe ich. Aber es gibt die Imagination, die Phantasie und ein Wissen, das die Zeit überdauert." (S. 159)


    Außer dem rationalen Denken sind dem Menschen auch Einfühlungsvermögen und Phantasie gegeben. Eine Historikerin, die wie Mina die Aufgabe zu bewältigen versucht, sich in Ereignisse vergangener Zeiten hineinzuversetzen, muss sich bemühen, die nüchternen, in Papierform überlieferten Quellen zum Sprechen zu bringen. Als gelernte Journalistin gelingt ihr das auch dann gut, wenn ihr die Poesie zu Hilfe kommen kann, wie das Gedicht der Droste-Hülshoff, für deren Bericht über zweihundert Jahre zurückliegende Ereignisse sie auch über Einbildungskraft verfügen musste.

    Wir kennen nicht das Ergebnis der Bemühungen Minas, sondern wissen nur, dass es in der westfälischen Kleinstadt auf Ablehnung stieß. Ich würde hier instinktive Abwehr eines sorgenvollen "Raunens" vermuten, aber wie gesagt, wir wissen es nicht.

  • Ganz grob gesprochen kann man die klassischen monotheistischen Religionen dadurch charakterisieren, dass in ihnen Gott (Jahwe, Gott, Allah) den Menschen in einer personalen Form gegenübertritt. In dem Gegenüber zwischen Gott und Mensch erfährt der Mensch, wer er ist, was seine Möglichkeiten und Grenzen sind, was er eben auch nicht ist usw. Das ist ein Grundzug der monotheistischen Religionen. Wie der Mensch als Individuum sich selbst wahrnimmt und erkennt erst durch die Begegnung und Abgrenzung zu anderen Individuen, so erkennt er sich selbst als Mensch eben erst in der Begegnung mit und Abgrenzung von Gott.

    Ich versuche, mich hier hineinzuversetzen. In allen drei monotheistischen Religionen gibt es kollektive Formen, in einen Kontakt mit Gott zu treten, gemeinsame Gottesdienste und Andachten. In meiner in Russland verbrachten Zeit habe ich den orthodoxen Gottesdienst kennengelernt, unter anderem eine überaus eindrucksvolle Osternacht in Anwesenheit des Patriarchen, mit Gesängen und Verehrung der Heiligenbilder, die sich doch merklich von der bei uns gewöhnlichen Form der christlichen Abendmahlsfeiern unterscheidet.


    Hier aber bei Mina handelt es sich um eine ausgeprägte individuelle Begegnung, in diesem Fall kurioserweise mit einer Krähe, die sich als Gott ausgibt. Damit ist das gesamtgesellschaftliche Problem einer zunehmenden Individualisierung berührt. Jeder schafft sich eine kleine individuelle Welt, in einer "Filterblase" wird sie unter Umständen mit Gleichgesinnten abgeglichen, mit anderen Gemeinschaften kann man aber kaum noch kommunizieren, ohne dass Chaos entsteht.


    Mina Wolf, nervös und feinfühlig, spürt ja diesen Zug der Zeit und entwickelt eine ausgewählte Vermeidungshaltung gegenüber kollektiven Begegnungen. Sie will sich ihre Gesprächspartner aussuchen und versteht sich bis zu einem gewissen Punkt auch mit Friedrich und Rosa. Mehr ist aber nicht drin, und ich denke, dass das auch typisch für unsere Zeit ist: über die dringendsten Probleme glaubt man kaum noch mit einem anderen Menschen sprechen zu können, ohne dass es zu Verletzungen und Chaos kommt. Die Beichte gab es ja auch noch als Erbe aus katholischer Zeit im Protestantismus, wie etwa der lutherische "Beichtstuhlstreit" in Berlin um 1690 zeigt. Das Bedürfnis, etwas Bedrängendes loszuwerden ("Sünde"), und das Bestreben der Kirchen, die Gedankenwelt ihrer Gemeinden zu kontrollieren, trafen aufeinander. Und noch zu den scharfen Rissen in dieser Zeit: die schärfsten Auseinandersetzungen in Berlin fanden ja gerade zwischen Lutheranern und Reformierten, Angehörigen zweier protestantischer Konfessionen statt, und nicht zwischen Evangelischen und Katholiken. Gerade, wenn man sich sehr ähnlich ist, zofft man sich eher (heute z.B. die "Linken" untereinander, während man mitunter mit echten, ehrlichen Konservativen durchaus aufmerksam und achtungsvoll umgehen kann). Paul Gerhardt, der so schöne und stimmungsvolle Lieder geschaffen hat, die Gemeinsamkeit stiften können, hat in den konfessionellen Auseinandersetzungen einen erbitterten Eiferer abgegeben. Aber wohin schweife ich denn ab?


    Um wieder in den Roman zu gehen:


    "Du willst die Kontrolle behalten" (S. 160), sagte die Krähe zu Mina. Das ist es: Die einsame Frau fürchtet den Kontrollverlust. Und doch tritt er ein: eine Krähe (ihr Unterbewusstsein) gewinnt unter dem Einfluss entsprechender Substanzen zunehmend die Kontrolle über sie.

  • Das ist so eine Attacke auf den Anspruch des Menschen, Geschehnisse erklären, Ursache und Wirkung feststellen zu wollen.

    Nach einer Pause Mina Wolf:

    "Gut, sagte ich, Wunder sind für Menschen, das verstehe ich. Aber es gibt die Imagination, die Phantasie und ein Wissen, das die Zeit überdauert." (S. 159)


    Ja, und damit wären wir in etwa auch bei Schleiermacher, an den ich in dieser Diskussion schon einige Male dachte, der Religion beschrieb als 'Sinn und Geschmack für das Unendliche'.

    Und das ist für mich im Kontext des Romans dann sozusagen auch die Gretchenfrage: Bietet Religion nur die Perspektive des Störfaktors, des Bedrohlichen, der Gewalt und Gefahr des Missbrauchs - oder bietet sie ebenso auch ein Reservoir an Bildern, Gedanken und Imagination, das sich zum Guten verwenden lässt?

    Gerade das Poetische, das die Autorin durch ihren Rekurs auf die Droste immer wieder aufruft, weist ja eine besondere Nähe zum Religiösen auf. Ich erinnere mich einen Satz aus einem ganz anderen Roman, in dem eine der Hauptfiguren erklärte, sie könne sich nur deshalb nicht zur Atheistin erklären, weil sie sich einen Rest an religiöser Offenheit bewahren müsse, die sie hin und wieder zum Verständnis eines Gedichts benötige... Das hat mich ungemein erheitert.

  • Ich versuche, mich hier hineinzuversetzen. In allen drei monotheistischen Religionen gibt es kollektive Formen, in einen Kontakt mit Gott zu treten, gemeinsame Gottesdienste und Andachten.

    Hier aber bei Mina handelt es sich um eine ausgeprägte individuelle Begegnung, in diesem Fall kurioserweise mit einer Krähe, die sich als Gott ausgibt. Damit ist das gesamtgesellschaftliche Problem einer zunehmenden Individualisierung berührt. Jeder schafft sich eine kleine individuelle Welt, in einer "Filterblase" wird sie unter Umständen mit Gleichgesinnten abgeglichen, mit anderen Gemeinschaften kann man aber kaum noch kommunizieren, ohne dass Chaos entsteht.

    Ja, das ist fein beobachtet und m. E. durchaus zutreffend. Religion hat sowohl die kollektive wie auch die individuelle Dimension, und je nach Ausprägung ist das eine oder das andere stärker betont. Gewiss hat der Protestantismus eine stärker individuelle Prägung (zumal in seiner nachaufklärerischen und nachpietistischen Form), während die Katholiken und die Orthodoxen eine mehr liturgisch-rituelle Kohärenz aufweisen.

    Aber mir scheint gegenwärtig doch auch sehr augenfällig, dass nach dem Bedeutungsverlust der Religion in unseren Weltgegenden, der ja schon seit mehreren Generationen wirksam ist, sich Folgen zeigen, die man nicht unbedingt erwartet hat. Durch das Fehlen der religiösen Verortung des Menschen, ist nicht unbedingt eine Befreiung oder Selbstvergewisserung eingetreten, die man hätte erwarten können, im Sinne von: Der Mensch hat sich des göttlichen Joches entledigt und steht nun freier und aufrechter und würdevoller da. Stattdessen nehme ich wahr, dass es im Zuge neuerer Entwicklungen zu einer Verunsicherung kommt im Hinblick darauf, was und wer der Mensch denn nun sei. Und diese manifestiert sich an den Randzonen des Lebens: die Frage von vorgeburtlicher Diagnostik und daraus folgenden Schwangerschaftsabbrüchen, die Frage von Plan- und Gestaltbarkeit des menschlichen Lebens (genetisches Design), die Frage von Euthanasie und 'selbstgewähltem Sterben', die Frage von Eingriffen in menschliches genetisches Material, Klonen, Vermischung von menschlichem und tierischem genetischen Material, überhaupt die ganze Frage der Ernährung: darf man Tiere essen? Und wenn nein, warum nicht?

    Die ganzen Diskussionen des Veganismus etwa haben ja auch viel damit zu tun, wie ich den Menschen in eine Ordnung einbinde und welche Position der Mensch in dieser Ordnung hat. Wenn ich davon ausgehe, dass er Mensch nicht nur KEIN Tier ist, sondern auch innerhalb der Ordnung über dem Tier steht, dann ist die Frage des Fleischkonsums eine ganz andere, als wenn ich mir in dieser Frage unsicher bin. Das sind ja so Diskussionen, die man gegenwärtig führt...


    Zitat

    Die Beichte gab es ja auch noch als Erbe aus katholischer Zeit im Protestantismus, wie etwa der lutherische "Beichtstuhlstreit" in Berlin um 1690 zeigt. Das Bedürfnis, etwas Bedrängendes loszuwerden ("Sünde"), und das Bestreben der Kirchen, die Gedankenwelt ihrer Gemeinden zu kontrollieren, trafen aufeinander. Und noch zu den scharfen Rissen in dieser Zeit: die schärfsten Auseinandersetzungen in Berlin fanden ja gerade zwischen Lutheranern und Reformierten, Angehörigen zweier protestantischer Konfessionen statt, und nicht zwischen Evangelischen und Katholiken.


    Das ist auch ein guter Hinweis.

    Gerade die Beichte ist ein interessanter Punkt. Denn sie diente natürlich der individuellen Seelenhygiene, hatte aber auch einen ganz entscheidenden sozialen Effekt. Es ging sicherlich um Kontrolle, wobei die lutherische Beichtpraxis des 17. Jahrhunderts nicht mehr vorsah, dass der Beichtende seine Sünden einzelnen aufzählte und ausbreitete (wie das bei der kath. Ohrenbeichte der Fall war), sondern dass er als Büßender vor dem Beichtvater erschien und in einer standardisierten Form sein Beichtbekenntnis ablegte, woraufhin ihm bzw. ihr dann die Absolution erteilt wurde. Der entscheidende Begriff hier wäre ebenfalls wieder der der Ordnung. Die Beichtenden zeigten durch ihr Erscheinen und das Ablegen ihres Bekenntnisses, dass sie bereit waren, sich in die bestehende soziale und religiöse Ordnung zu fügen. Das Nichterscheinen bei der Beichte hatte den Ausschluss von der Kommunion zur Folge, was einer sozialen Ächtung gleichkam und den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das konnte sich in der eng gefügten frühneuzeitlichen Gemeinschaft niemand ohne Not herausnehmen.

  • Stattdessen nehme ich wahr, dass es im Zuge neuerer Entwicklungen zu einer Verunsicherung kommt im Hinblick darauf, was und wer der Mensch denn nun sei. Und diese manifestiert sich an den Randzonen des Lebens: die Frage von vorgeburtlicher Diagnostik und daraus folgenden Schwangerschaftsabbrüchen, die Frage von Plan- und Gestaltbarkeit des menschlichen Lebens (genetisches Design), die Frage von Euthanasie und 'selbstgewähltem Sterben', die Frage von Eingriffen in menschliches genetisches Material, Klonen, Vermischung von menschlichem und tierischem genetischen Material, überhaupt die ganze Frage der Ernährung: darf man Tiere essen? Und wenn nein, warum nicht?

    .....


    Eine dieser "Randzonen" ist mit einem Ausspruch Munins verbunden, der sicher zu den problematischsten des ganzen Buches gehört:


    "Sterben lassen, was nicht leben kann. So jedenfalls machen wir es." (S. 114)


    Er widerspricht jedem ärztlichen Ethos, wonach Hilfe bis zum "Geht nicht mehr" zu leisten ist.

    Die Passage davor ruft die Erinnerung an eine der dunkelsten Perioden hervor, als "das Schwache und Verrückte ausgemerzt, liebe, blöde Menschen umgebracht" (S. 111) wurden und dieses mit dem Wort "Euthanasie" euphemistisch verbrämte Verbrechen unter Umständen in einer Zeit gar nicht weiter aufgefallen wäre (es wurde ja auch von den Nazis vertuscht), wenn nicht wenig später und zugleich auch sechs Millionen Juden ermordet worden wären. Betrachtungen im Sinne einer "Eugenik" hat es im 20. Jahrhundert auch in anderen Ländern gegeben.

    Heutige Diskussionen über Geburt und "selbstgewähltes Sterben" werden unweigerlich durch diese Verbrechen belastet, die von deutschem Boden ausgingen. Und doch müssen sie geführt werden, und die Debatten im Bundestag zur "Sterbehilfe" waren ernsthaft und mit Verantwortungsgefühl geführt worden.

    Was Gesetz geworden ist, wird nicht jeden befriedigen und kann immer wieder zu Konflikten führen.


    "Sterben lassen, was nicht leben kann" kann man einerseits als Gemeinplatz abtun, denn der Tod wird sich in jedem Fall durchsetzen. Andererseits wird sich immer wieder die Frage auftun, "wie man lebt", ob so ein Leben aus der Sicht des Betroffenen selbst noch lebenswert ist. Hier kann unter Umständen kein Gesetzgeber mehr mit eindeutigen Regelungen kommen, und die Religion hilft da auch nicht weiter.

  • Die Religion bietet immerhin eine Grundeinsicht an - und die gilt m. E. sogar dann, wenn man die Religion als solche für ein Konstrukt des Menschen hält: das ist die Einsicht, dass Leben letztlich unverfügbar ist und sogar gewissermaßen ein Geheimnis bleibt. Diese Grundeinsicht bewahrt davor, allzu forsch an manche Fragen heranzugehen. Und sie gilt ebenso in beide Richtungen: sie wehrt einem Machbarkeitswahn, was die Schaffung und Formung des Lebens angeht, wie sie umgekehrt auch davor bewahrt, sich eine Verfügungsgewalt über Leben anzumaßen, das vermeintlich unwert oder nicht mehr lebenswert ist. Und sie gilt auch einer irre gewordenen Apparatemedizin gegenüber: denn wenn Leben unverfügbar ist, dann ist es auch nicht ewig künstlicher verlängerbar.

  • Man kann einsehen, dass etliches ein "Geheimnis" bleiben wird, das man mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ergründen wird. Das wird dann so stehen bleiben müssen, andere nach uns mögen mit der Lösung dieser Rätsel weiterkommen. Da sollte man bescheiden bleiben.

    Es ist allerdings das eine, wenn man sich eingesteht, diese "weißen Flecken" zu Lebzeiten nicht mehr ausmalen zu können - oder man begreift etliches auch schlicht nicht mehr, wie ich mangels Vorbildung Erscheinungen im Bereich der physikalischen Welt und des Kosmos -

    oder aber die Welt mit Figuren der Phantasie bevölkert (Engel usw.) und eine Schöpferfigur als real existierend an den Anfang setzt, die von den meisten Menschen mit menschlichen Zügen ausgestattet wird, die geahnt wird, an die man glaubt, die sich aber nicht nachweisen lässt, so jedenfalls, wie ich mir vorstelle, dass es Kreationisten in den USA tun.


    Mir geht es dabei beileibe nicht um die Verherrlichung der exakten Wissenschaften. Das Wesen und die Möglichkeiten der Menschen zu erforschen, wäre eine beständige, nie abgeschlossene Aufgabe. Und Naturwissenschaftler allein können auch nicht darstellen, wie die empirisch nachweisbaren Abermillionen neuronaler Verknüpfungen in den Gehirnen sich in Gestalt von Gedanken, Ideen, Gefühlen, Träumen, Bildern wiederfinden, die dann von anderen Menschen beschrieben werden, Wissenschaftlern wie Künstlern und jedem von uns.


    Wenn man das Leben in seiner ganzen Vielgestaltigkeit als "Geheimnis" setzt, das man nie bis ins letzte zu Lebzeiten erfassen wird, oder es, wie Volker angedeutet hat, als ein großes "Wunder" bestaunt und sich daran erfreut, wäre ich ja einverstanden.

  • Die Religion bietet immerhin eine Grundeinsicht an - und die gilt m. E. sogar dann, wenn man die Religion als solche für ein Konstrukt des Menschen hält: das ist die Einsicht, dass Leben letztlich unverfügbar ist und sogar gewissermaßen ein Geheimnis bleibt. Diese Grundeinsicht bewahrt davor, allzu forsch an manche Fragen heranzugehen. Und sie gilt ebenso in beide Richtungen: sie wehrt einem Machbarkeitswahn, was die Schaffung und Formung des Lebens angeht, wie sie umgekehrt auch davor bewahrt, sich eine Verfügungsgewalt über Leben anzumaßen, das vermeintlich unwert oder nicht mehr lebenswert ist. Und sie gilt auch einer irre gewordenen Apparatemedizin gegenüber: denn wenn Leben unverfügbar ist, dann ist es auch nicht ewig künstlicher verlängerbar.

    Das sehe ich alles ebenfalls so, wobei ich aber auch hier unterscheiden möchte zwischen der "Verfügbarkeit" anderer über das eigene Leben oder der selbstgewählten Verfügbarkeit über das eigene Leben. Das sollte die eigene Entscheidung bleiben, wie auch nach meiner Erfahrung in der DDR jeder Frau die Entscheidung über die Geburt ihres Kindes selbst überlassen bleiben sollte, wie es Holger Biege sang:


    "Wie viel Kinder hat die Erde

    wie viel Eltern haben Sorgen

    nicht alltäglich ist das täglich Brot

    Kinder bleiben ungeboren

    Frauen haben sich geschworen

    selber zu entscheiden, ohne Not."


    http://www.holger-biege.de/son…agte-mal-ein-dichter.html

  • Also, ich muss mich nochmal bedanken bei Euch. Es ist ja wirklich so, dass Diskussionen ueber derartige Themen sehr schnell im Chaos enden und, dass deshalb und aus anderen Gruenden derartige Gespraeche - auch unter Freunden - kaum noch zustandekommen. Da liefert Ihr zwei, obwohl Ihr aus unterschiedlichen Richtungen kommt, nun auf hohem Niveau ein aeusserst zivilisiertes Zwiegespraech. Es fuehrt zwar weit weg vom Buch, das ich noch nicht habe, aber ich kann es mir als Unglaeubiger nicht verkneifen, hier ein kleines Gedicht vom (m.E. unterschaetzten) Wilhelm Busch einzufuegen, das schoen, witzig und leicht sarkastisch zeigt, wie auch der hartgesottene Agnostiker angeruehrt wird von einem in einem bestimmten Kontext aufteretenden "religioesen Gefuehl":


    Der Stern

    Haette auch einer fast mehr Verstand

    als wie die drei Weisen aus Morgenland

    und liesse sich duenken, er waere wohl nie

    dem Sternlein nachgereist wie sie,

    dennoch, wenn nun das Weihnachtsfest

    seine Lichtlein wonniglich scheinen laesst,

    dann faellt auch auf sein verstaendig Gesicht

    - er mag es merken oder nicht -

    ein freundlicher Strahl

    des Wundersterns von dazumal.


    fast mehr Verstand ist doch herrlich und verstaendig Gesicht rueckbeszogen auf fast mehr Verstand ebenso.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Wunderbar!


    Mir zeigt die Diskussion wieder einmal, wie viel ich davon profitiere, wenn ich mit Menschen über ein Buch diskutiere, die einen ganz anderen Hintergrund und andere Erfahrungen haben. Vieles an dem Buch wäre mir nicht aufgegangen, wenn Karamzin mich nicht darauf gestoßen hätte. Deshalb lese ich ja eigentlich Bücher - damit ich etwas kennenlerne und erfahre, das ich ohne dies nicht kennen würde. Und für ein Gespräch mit angenehmen Menschen gilt das in gleicher Weise. Dafür herzlichen Dank!


    Das soll jetzt allerdings kein Schlusswort sein.

  • 38 Seiten habt Ihr geschrieben. Die habe ich nochmal nachgelesen. Alles ganz grossartig! Leider kann ich mit dem Zitieren noch nicht umgehen. Aber auf ein paar Stellen moechte ich zurueckkommen: Munin. Karamzin schreibt irgendwo zutreffend nordische Mythologie. Ich hatte dunkel etwas in Erinnerung von Odins Raben und habe das bei Wikipedia nochmal nachgelesen; Munin und Hugin waren seine Raben, die fuer ihn Kundschafterfluege machten und ihm berichteten. Dieser Germanengott brauchte also Kundschafter, war also selbst nicht allwissend und allgegenwaertig (in der in diesen und anderen Dingen widerspruechlichen Bibel gibt es ja auch nicht nur den Allwissenden, Allgegenwaertigen "Ganz Anderen" Gott, von dem man sich kein Bildnis oder Gleichnis machen darf, sondern auch den, der "Hilfs-Personal" hat/braucht?).

    Interessant ist, dass Ihr immer von einer Kraehe schreibt. Tut das die Maron auch? Dann waere das ja eine bewusste Herabsetzung gegenueber den "originalen" Raben in der Mythologie(?). Raben sind ja sowas von menschlich. (Kraehen zwar auch, aber eben nicht so "edel und beeindruckend".

    Newmans Passage ueber die nicht zur Verfuegung stehende Macht ueber das nicht mehr als lebenswetrt empfundene Leben hat mich sehr nachdenklich gemacht. Karamzin hat mir "aus der Patsche geholfen": Selber darf man, andere duerfen nicht. Das gefaellt mir.

    Newman hat zwar geschrieben, dass sein letzter Text kein Schluswort sein soll, obwohl es ein gutes Schlusswort waere, aber ich haette auch nichts dagegen, wenn Euch noch etwas einfallen wuerde....(Das Buch habe ich in unserer Stadtbibliothek "bestellt", mal sehen wie lange das dauert. Dann schreibe ich VIELLEICHT einen Nachklapp. Ich moechte keine Buecher mehr kaufen, ich habe in unserer winzigen Zweizimmrwohnung, in die wir aus Altersgruenden gezogen sind, zu wenig Platz).

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Hallo Volker,


    Monika Maron schreibt tatsächlich ausschließlich von einer Krähe, nicht von einem Raben, als den man Munin und Odin in der nordischen Mythologie ansah, und nennt sie an einer Stelle eine "Nebelkrähe", also eine schwarz-grau gefiederte Vertreterin dieser Art. Die Nebelkrähe ist in Berlin zu Hause, während in der niedersächsischen Lessingstadt massenhaft tiefschwarze Rabenkrähen sowie Saatkrähen nisten, in der ich mich häufig aufhalte.

    http://www.spiegel.de/wissensc…-der-voegel-a-976806.html


    Übrigens schreibt Monika Maron selbst, dass hinsichtlich des genetischen Erbgutes sich ein Schimpanse nur zu einem ganz geringen Prozentsatz von einer Maus unterscheidet. Das lässt einen Rückschluss auf ihre Weltsicht zu, die man als Pantheismus bezeichnen könnte, wenn ihr nicht doch als Nichtgläubiger der "Theismus" insgesamt abginge. Wenn sich also Schimpanse und Maus genetisch nur ganz geringfügig voneinander unterschieden, so wären die Unterschiede zwischen den Bewohnern der verschiedenen Straßenseiten und Haustypen auch nur als gering anzusehen. Das sind alles Vertreter der Gattung Mensch. So einfach wäre es dann eben nicht, auch Monika Maron selbst in ein "Lager" zu verfrachten, in ein rechtes oder (nicht mehr) ein linkes.

    Ohne jetzt in die Spielerei zu verfallen: Wenn man sich umdreht, wird dann nicht aus links rechts und aus rechts links? oder an Erich Maria Remarques Roman "Der schwarze Obelisk" denkt, wo sich die in der Psychiatrie gelandete Isabelle Gedanken darüber macht, ob die Spiegelbilder, wenn man sich umdreht, dann "einfach weg" seien - wo sind sie denn geblieben, die Spiegelbilder oder die Spiegel? (bei dem ebenfalls betrunkenen Ich-Erzähler verwirrt sich jetzt auch alles.)


    Monika Maron will sich nicht ohne weiteres in eine "linke" oder eine "rechte" Ecke stellen lassen, und es werden von mir mit Sympathie begleitete Debatten darüber geführt, ob dieses Links-Rechts-Schema überhaupt noch heutigen Gegebenheiten entsprechen dürfte, da es mitunter leicht erscheinen mag, anderen Leuten so einfach ein AFD- oder Pegida-Schildchen an die Bluse zu heften, man selbst ist dann fein heraus, man ist ja auf der Seite der Guten, und braucht das Gespräch nicht mehr weiter zu führen. Gewaltbereitschaft gibt es auf der 'rechten' und der 'linken' Seite, Antisemitismus und Menschenverachtung auch, dann kann man diese Erscheinungen auch so beschreiben, braucht das aber nicht mehr unbedingt mit "Links" oder "Rechts" zu tun, weil dann Willkür walten kann. So jedenfalls dürfte es Monika Maron sehen:

    http://www.deutschlandfunk.de/…ml?dram:article_id=413037

    Auseinandersetzungen werden wohl eher als zwischen "Linken" und "Rechten" (man müsste sich dann ja über deren Definition einig werden, was kaum noch gelingen dürfte) zwischen jenen geführt, die durch ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht besonders mobil sein können, die gezwungen sind, in einer bestimmten Lebensumwelt zu verharren, dort ihren Unterhalt zu verdienen, die gewohnt sind, die Sprache der Einheimischen zu sprechen und diese Landschaft dann auch lieben und sie nicht etwa durch Windräder verziert sehen wollen, die auf ihre engere Lebensumwelt stolz sind und sie nicht missen wollen - während sich andere auf der halben Welt zu Hause fühlen, die die Ländergrenzen am liebsten komplett abschaffen würden, ins Flugzeug steigen, im Internet chatten, und Konversation auf Englisch oder was sie dafür halten, führen, während DDR-Bürger wegen der Mauer für gewöhnlich vor 1990 kaum lebende Amerikaner, Engländer oder Franzosen zu sehen bekamen, bei denen sie ihre im Sprachlabor und kollektiv mit der ganzen Schulklasse vor dem Fernseher ("English for you" mit der lispelnden Diana Loeser) erworbenen Sprachkenntnisse jemals im mündlichen Gespräch hätten anwenden können. Im Spanischunterricht erfuhr man eine Menge über die Zuckerrohrernte im sozialistischen Kuba, aber nichts über das viel weiter entfernt erscheinende Spanien, im Englischunterricht viel mehr darüber, wie der "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) in Moskau vom "Morning Star", dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Großbritanniens, beurteilt wurde, als davon, wie es in Liverpool aussah, wo die heimlich gehörten Beatles herkamen. Aber das ist auch alles wieder nur sehr schematisch; das sind Zuspitzungen, Extreme, selbstverständlich gibt es außerordentlich häufig Mischformen (bin vielleicht selbst eine, wandere am ,liebsten in heimatlichen Gefilden und schreibe mich doch mit meinen russischen Freunden im Internet).


    Monika Maron hat bereits 2016 in ihrem schmalen Buch "Krähengeflüster", der auf den Roman in vielem vorbereitete, ihr besonderes Verhältnis zu diesen Vögeln beschrieben. Auch die Krähe gilt seit langem als Symbolisierung der Klugheit.

    Eher harmlos im Vergleich zu den im Roman geschilderten Auseinandersetzungen sind die Streits in der gelehrten und laienhaften Welt der Ornithologen und Hobby-Ornithologen, an denen ich mich als im Monat April durch das Gekrächz der Hunderten von Krähen jeden Morgen gegen fünf Uhr geweckter Laie virtuell beteiligt habe, ob Nebelkrähe und Rabenkrähe bloße Varianten der selbst in "Wikipedia" als "Aaskrähe" bezeichneten (diskriminierten!) Rabenvögel darstellten. Ja es gibt richtige Streits um "Saatkrähen", "Rabenkrähen" und "Nebelkrähen".


    Als die Belästigung durch die massenhaft nistenden Krähen in dieser zauberhaften niedersächsischen Stadt zu stark wurde, entfernte man vor einigen Jahren auf der einen Seite eines etwa drei Meter breiten Kanals, für den die städtische Verwaltung zuständig ist, die Nester der Krähen auf den Bäumen, worauf die klugen Tiere über die wenigen Meter auf die andere Seite des Kanals überwechselten, die hingegen vom für das Flüßchen Oker zuständigen Wasserbauamt verwaltet wurde, wo sie dann ungestört blieben und ihre Jungen aufziehen konnten. Die Stadt wurde deswegen noch nicht in "Krähwinkel" umbenannt, während die Bezeichnung "Lessingstadt" unterdessen nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der klassische Literat in manchen Kreisen weniger bekannt ist als der in der gleichen Stadt produzierte "Jägermeister" - von diesem klebrigen süßen, braunen Zeug werden ganze Tanklastzüge nach Russland und China verfrachtet. So etwas geschieht in Zeiten der Globalisierung mit den Krähen und mit dem Kräuterlikör.



    Ein richtiger, größerer Rabe ist bei uns hingegen der "Kolkrabe", dessen charakteristischer Ruf in der Nähe von Bad Harzburg bei der idyllischen Waldgaststätte "Rabenklippe" zu vernehmen ist, wo auch Luchse zu besichtigen sind.

    Was die Raben betrifft, so gaben sie Anlass zu der Sage vom "Raben im Schloss zu Merseburg", der ein Schmuckstück stahl und zum Tod eines zu Unrecht des Diebstahls beschuldigten Dieners führte. Daraufhin wurde in der Bischofsstadt Merseburg bis in die jüngste Zeit zur Erinnerung ein Käfig aufgestellt, in dem ein Rabe gehalten werden sollte; da es aber in dieser sachsen-anhaltischen Gegend keine Kolkraben mehr gibt, musste eine Krähe dafür herhalten.

    http://www.merseburg.de/de/merseburger-rabensage.html


    Gute Nacht, morgen früh beginnen die Krähen wieder zu krächzen.

  • Newmans Passage ueber die nicht zur Verfuegung stehende Macht ueber das nicht mehr als lebenswetrt empfundene Leben hat mich sehr nachdenklich gemacht. Karamzin hat mir "aus der Patsche geholfen": Selber darf man, andere duerfen nicht. Das gefaellt mir.

    Nicht nur die Christen, die meisten von uns finden sich in der feierlichen Osternacht wieder. Die orthodoxen Russen strahlen und beglückwünschen sich, wenn auch an einem anderen Wochenende, auch ein Mitteleuropäer fühlt sich von der Schilderung einer Osternacht bei Kerzenschein durch Lev Tolstoj in "Krieg und Frieden" ergriffen. "Christos voskres!" "Christ ist auferstanden!" Er ist wirklich auferstanden.


    Hier aber finden sich eher düstere Gedanken, aneinandergereiht, sie passen vielleicht eher zum christlichen Karfreitag.

    Denn das Ganze - Volker - kann mich dann allerdings selbst doch nicht befriedigen. Es kann wohl überhaupt kaum jemand zu einer gefestigten, in sich schlüssigen Meinung für jeden Fall gelangen, gesellschaftliche Übereinkünfte dürften erst recht sehr schwierig werden. Dieser Komplex der Verfügung über das menschliche Leben gehört gewiss zu den kompliziertesten und umstrittensten, die es überhaupt gibt. Mancher dürfte seine Ansicht im Laufe seines Lebens mehrfach ändern, das wäre auch normal.


    Der Verlust an Religion - JHNewman, Du hast wahrscheinlich in diesem Fall zuerst vor allem in gesamtgesellschaftlichen Maßstäben gedacht - wird ja von denen nicht empfunden, die selbst nicht, deren Familien nicht religiös waren. Aber die bedrängenden Fragen bleiben bestehen in dem einen wie in dem anderen Falle, des Glaubens wie des Unglaubens.

    Fortschritte (Palliativmedizin, lebensverlängernde Maßnahmen, die man früher nicht für möglich hielt) und Gefahren der Zeit nach der großen Macht der Religionen, können sie überhaupt jemals ausgeglichen werden?

    Am Schluss ist sowieso jeder allein auf seinem Weg. In dem Roman der christlichen Autorin Christa Johannsen aus Halberstadt "Leibniz" heisst es: "Ich aber gehe in die Nacht." Der Schriftsteller und Reichshistoriograph Karamzin schrieb in einem Brief, dass ihn bei dem Gedanken an seinen Tod ausschließlich der Gedanke an seine leidende Familie belaste, nicht der an sein eigenes Ableben. Seine Frau, Ekaterina Karamzina, fand die Kraft, mit den Kindern weiterzuleben und das Andenken an ihren Mann zu ehren, in ihrem Salon trafen sich die wichtigsten Vertreter des kulturellen Lebens in St. Petersburg, Puschkin (der sie platonisch liebte), Shukovskij, Lermontov und Gogol.


    Im "Spiegel" vom 14/2018, 31. 3. 2018, S. 40-43, gibt es einen Artikel von Cornelia Schmergal: "'Die spielen auf Zeit'. Beim Recht auf Sterbehilfe ist auf nichts mehr Verlass. Die Politik macht Todkranken das Lebensende schwer"

    War bei diesem Thema überhaupt jemals "auf etwas Verlass"?

    Möglicherweise wird das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden, aber ist das das letzte Wort, kann es so etwas überhaupt geben?


    Dazu staccato-artig:

    - Man denkt in einer Zeit, in der man relativ gesund ist, daran, unter selbst als nicht mehr lebenswert empfundenen Umständen so nicht mehr weiterleben zu wollen: Abgabe der Kontrolle über Körperfunktionen an andere (ob Angehörige oder Fremde), da man Jahrzehnte mit Schamgefühlen gelebt hat ? (Borrasio: man muss eben lernen, sich helfen zu lassen, und wenn man es nicht mehr selbst kann, wird es sowieso Infusion, Katheder und Windel geben).

    - wo ist die Grenze für dauerhafte körperliche Einschränkungen (blind? weitgehend gelähmt?), mit denen man das Leben nicht mehr für lebenswert hält? ja es gibt den Fall, dass man selbst die eigene Diagnose "Demenz" oder "Alzheimer" kennt und sie anderen noch mitteilen kann, aber da gleitet man sicher schon hinein in eine Situation, selbst nichts mehr tun zu können, die einen bedrängende Situation auch nicht mehr deuten zu können;

    - ja, dann kann man aber die Selbsttötung schon nicht mehr ausführen und andere Menschen, zumeist medizinisches Personal, und Angehörige geraten in eine rechtliche Grauzone, die man ihnen auch nicht zumuten will und kann;

    - und dann wird gesagt, dass die Mediziner Maßnahmen nur ergreifen dürfen, das Leben zu retten und nicht, es durch aktiven Eingriff zu beenden - die von JHNewman erwähnte (Fremd)Verfügung über das menschliche Leben, wo beginnen die Möglichkeiten für "Unterlassen" und wo liegen ihre Grenzen; dazu gab es Aufsehen erregende Prozesse;

    warum gibt man doch schwer an Schmerzen leidenden Menschen keine ausreichenden Opiate, so dass sie unter Qualen starben (erlebt bei drei nächsten Familienangehörigen), das mit dem "Suchtpotential" von Morphium kann es in diesem Stadium nun wirklich nicht mehr sein;

    die wenigsten dürften das nötige Kleingeld haben, um am Schluss noch in die Schweiz fahren zu können;

    - ganz klar, dass kommerzielle Unternehmen, die das Leid der Betroffenen zur Gewinnmaximierung benutzen, belangt werden müssen; wo aber ist die Grenze zu ziehen zu Medizinern, die schließlich auch ihre Einnahmen haben müssen und nur in einigen Fällen sicher sein können, dass sie richtig handeln bzw. zur richtigen Zeit nicht handeln?

    - dann ist Palliativmedizin immer noch nicht flächendeckend verbreitet, wie ist es mit der Kostenfrage, kann dann wirklich jeder schmerzfrei und in Würde sterben?; und ist das dort gewährleistet, lauern da nicht auch wieder eine ganze "Industrie", ein großer Markt?

    - wie sieht es mit der individuellen Zuwendung aus, wenn man keine Verwandten oder Freunde mehr hat, wenn man nicht religiös ist, wird man dann nicht doch noch von Missionaren belästigt, weil die eventuell "in gutem Glauben" davon ausgehen, wie sie selber empfinden, was "normal" sein müsste, und wie die Mehrheit tickt, gibt es für das Sterben nichtreligiöser Menschen auch verbreitet entsprechende Rituale und Erleichterungen?

    - wie sieht es nun wirklich mit der "Selbstbestimmtheit" bei der Entscheidung über den eigenen Tod aus - Dir Volker, erscheint sie wahrscheinlich als eher einleuchtend als das religiöse "Der Wille des Herrn wird geschehen" - "Der Herr hat es (das Leben) gegeben, er hat es genommen", nichtreligiöse Menschen aber dabei (hat es gegeben) nur ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, im Blick haben und keine Transzendenz benötigen,

    - wenn der Betreffende nicht uneingeschränkt entscheidungsfähig sein kann (ganz häufig Depression, psychische Krankheit, eben doch Einfluss von Schmerzen, die man bis dahin nicht in den Griff bekam; Patienten verlieren dann doch teilweise den Verstand und verändern ungewollt ihre Persönlichkeit; werden tyrannisch, aggressiv, ohne die Kontrolle mehr darüber zu haben?

    Wichtiges Motiv bei Monika Maron, dieser mögliche Kontrollverlust!

    - können die Mediziner, die am Schluss einzig noch die Macht über die Lebensverkürzung haben können (wenn man sich nicht schon für den selbstbestimmten Tod durch Verhungern und Verdursten entscheidet, aber wer vermag das vorauszusagen), wirklich in jedem Fall den letzten Willen in der Patientenverfügung achten, für voll nehmen und umsetzen, oder gehen sie dann doch aus Angst vor gerichtlichen Konsequenzen den für sie sicheren Weg - und der Wille des Patienten wird dann doch nicht umgesetzt?

    - "gierige Erben" können doch lauern, und der schwer kranke Patient kann zu dem Urteil gelangen, dass er anderen nur noch zur Last fällt; man weiss ja, dass die Angehörigen auch zu "funktionieren" haben und auch an sich selbst denken müssen, nicht ebenfalls zugrunde gehen sollten, wenn ihr Angehöriger sowieso schon verloren ist; bei Monika Maron der Spruch der Krähe: "Sterben lassen, was nicht leben kann";

    - dann hat man aber auch wieder die Erfahrung gemacht, dass zwar die Diagnose sehr hoffnungslos klang, sich dann aber doch noch erfüllte Gemeinsamkeit mit Angehörigen einstellte? dass ferner Krebspatienten, die mit einer sicheren Diagnose versehen sind (z. B. Bauchspeicheldrüsenkrebs) dennoch nur in selteneren Fällen Suizid begehen? Angst, den Mitmenschen dadurch noch mehr Leid zuzufügen?


    Alles so Fragen, die das mit der Selbstbestimmtheit über das eigene Leben auch wieder als fragwürdig erscheinen lassen. Allgemeine Rezepte kann es nicht geben. Religion kann nur dem etwas geben, der den Glauben dazu hat.


    Ich wünsche trotzdem eine gute Nacht. Feiert ein schönes Osterfest. Den Menschen mit Schmerzen wünsche ich Linderung, den Einsamen den Trost: Vielleicht hilft ja die klassische Literatur, sich auf diese großen Entscheidungen vorzubereiten.

    (klingt ja hier selbst schon fast wie ne Predigt ;))