Preis der Leipziger Buchmesse 2018

  • Ich kenne keinen einzigen Autor oder Buch. Einzig Bernd Roeck: „Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance“ (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung, C. H. Beck)
    wartet darauf, dass ich es lese. Na mal sehen, wie das ausgeht.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Bernd Roeck ist mir noch aus Studienzeiten ein Begriff als Frühneuzeithistoriker. Guter Name.


    Und die hinreißende Übersetzung des 'Tristram Shandy' von Michael Walter habe ich seinerzeit gelesen, als sie bei Haffmans in der schönen Ausgabe in neun Bändchen erschien. Die zieren immer noch mein Regal, weshalb ich mir die Gesamtausgabe nicht kaufen werde. Aber Michael Walter hätte den Preis gewiss verdient.


    Neu aufmerksam geworden bin ich jetzt auch auf den ukrainischen Autor Serhij Zhadan. An seinem Beispiel wurde mir wieder einmal deutlich, wie Wahrnehmung funktioniert. Beim ersten Blick hielt ich seinen Namen für arabisch. In der ukrainischen Schreibweise habe ich Serhij nicht als Sergej erkannt - und somit wahrscheinlich immer einfach ausgeblendet, wenn mir der Name irgendwo begegnete, weil der arabische Kulturkreis nicht so zu meinen literarischen Jagdgründen gehört... Slavische Autoren gehören nämlich sonst für mich immer in die Kategorie 'interessant'. :zwinker:

  • So, ich habe mit meinem Listenlesen zur Leipziger Buchmesse begonnen.


    [kaufen='3957575397'][/kaufen] 
    Erster Roman war 'Dunkle Zahlen' von Matthias Senkel.
    Nach ca. 140 Seiten habe ich das für mich beendet.
    Das Buch ist formal ambitioniert und bietet sehr viele verschiedene Textsorten an, dazu Baupläne, Fotos, verschiedene IT-Dinge.
    Haupthandlung ist die Spartakiade der Programmierer 1985 in Moskau, aber es gibt diverse anderen Handlungsstränge, der Autor spielt mit Formen und Perspektiven. Insgesamt nicht schlecht erzählt, m. E. aber viel zu wenig fokussiert und nicht sehr ausgereift. Das ganze über 480 Seiten - nein, nicht für mich. Auch wenn es vielleicht böser klingt als gemeint: Das ist so ein typisches Buch für jemanden, der irrsinnig viel Kreativität zeigen will, weil er auf die eigentlichen Stärken einer guten Erzählung nicht vertraut. Ein Feuerwerk der Einfälle, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass im Zentrum die Substanz fehlt. Eine ähnliche Erfahrung machte ich vor zwei Jahren mit Nis-Momme Stockmanns Roman 'Der Fuchs' auf der Nominierungsliste des Buchpreises. Dabei merkt man bei Senkel schon deutlich, dass er etwas kann. Man hätte sich einen Lektor gewünscht, der dem Autor geraten hätte: Weniger ist mehr...


    (Ich frage mich auch, ob das ein Generationending ist. Vielleicht ist das einfach der Stil der heute 25-Jährigen und ich bin eben ein alter Knacker, der es nicht mehr versteht??)



    [kaufen='351842789X'][/kaufen] 
    Das krasse Gegenteil:
    Esther Kinsky, Hain


    Hier schreibt eine Autorin, die bereits auf den ersten beiden Seiten zeigt, dass die große Kunst in der Reduktion und Konzentration besteht. Das Buch ist ein Trauerbuch. Die Erzählerin trauert um M., der gestorben ist. Sie reist nach Italien, mietet sich dort einem Haus in einem Dorf ein, beobachtet das Leben um sich herum und beginnt dabei, ihre Trauer um M. zu bearbeiten. Der Mittelteil des Buches hingegen widmet sich einer anderen Trauererfahrung: der Erinnerung an ihren Vater. Für mich sind diese Kapitel ganz besonders eindrücklich und innig.
    Es ist ja nicht so, dass ich das nicht erwartet hätte, aber Esther Kinsky spielt in einer ganz anderen Liga als Matthias Senkel. Stark, souverän, schön.

  • Nun habe ich das dritte Buch von der Nominierungsliste (an)gelesen.


    Anja Kampmann, Wie hoch die Wasser steigen


    [kaufen='978-3446258150'][/kaufen]


    Erzählt wird die Geschichte von Waclaw, der auf einer Öl-Bohrplattform im Atlantik arbeitet. Sein engster Freund und Kollege Matyas verschwindet in einer stürmischen Nacht von der Plattform, wahrscheinlich ins Meer gespült. Waclaw gerät in eine tiefe Krise der Trauer und des Verlusts und macht sich auf zu einer Reise nach Ungarn (der Heimat Matyas) und zu Orten seines eigenen Lebens.


    Die Autorin kommt von der Lyrik her, das macht das Buch sprachlich intensiv, poetisch und bildreich. Mir persönlich war es zu metapherngeladen, letztlich blieb aus meiner Sicht die Autorin dabei, Bilder zu malen, Landschaften und Stimmungen zu beschreiben. Eine wirkliche Geschichte wurde daraus nicht, es blieb langweilig, sodass ich nach 100 Seiten nicht mehr weiter lesen mochte.


    Für Leserinnen und Leser, die atmosphärisch dichte Beschreibungen mögen und sich darin verlieren, durchaus ein empfehlenswertes Buch. Für Leser, die sich etwas mehr Bewegung und Handlung wünschen, eher nicht.


    Auch in diesem Buch geht es um Trauer, es ist also vom Genre her - obwohl stärker romanhaft - dem Buch von Esther Kinsky sehr ähnlich. Esther Kinsky jedoch ist darin für mich weitaus überzeugender. Ihr Buch tröstet, ohne trösten zu wollen - formulierte jemand im Feuilleton. Indem sie weniger einsetzt an sprachlicher Intensität, erreicht sie mehr. Bei Anja Kampmann wirkt das doch - bei aller Kunst - auf mich auch sehr bemüht.

  • Zitat

    Und die hinreißende Übersetzung des 'Tristram Shandy' von Michael Walter habe ich seinerzeit gelesen, als sie bei Haffmans in der schönen Ausgabe in neun Bändchen erschien. Die zieren immer noch mein Regal, weshalb ich mir die Gesamtausgabe nicht kaufen werde. Aber Michael Walter hätte den Preis gewiss verdient.


    Ich habe die komplette Lesung mit Harry Rowohlt. Hatte ich vergessen! Und nun hervorgeholt und auf meinen MP3 Player geladen. Mal sehen ob ich einer so opulenten Lesung konzentriert folgen kann.


    Deine Ausführungen, JHNewman, verfolge ich gern, obwohl jetzt kein Roman darunter ist, wo ich sagen würde, den müsste ich unbedingt kaufen, aber ich fühle mich informierter durch deine Beiträge.


    Gruß,

    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ich mag es kaum sagen, aber ich habe nun gestern und heute die ersten ca. 100 Seiten des Romans 'Die grüne Grenze' gelesen und breche auch dieses Buch ab.


    [kaufen='3960540493'][/kaufen]


    Es geht um ein junges Paar, das im Jahr 1973 von Berlin in ein kleines Dorf im Harz zieht, genauer: nach Sorge. Das Dörfchen liegt unmittelbar an der innerdeutschen Grenze im Sperrgebiet. Thomas ist Schriftsteller, hat ein Buch veröffentlicht und arbeitet an einem zweiten Buch. Editha ist Bildhauerin. Sie haben ein altes Gasthaus geerbt, in dem sie ihr Ateliers einrichten und ihre gerade zur Welt kommende Tochter Eli aufziehen. Thomas ist von der Grenze - oder man könnte sagen - von Grenzen allgemein fasziniert. Er vertieft sich in die Geschichte des Ortes, der immer Grenzland war, philosophiert über die Grenze, die er vor Augen hat, schreibt einen Roman über das Mittelalter und über Grenzüberschreitungen. Zu dieser Erzählebene kommt eine historische Ebene, die Thomas' Kindheitsgeschichte erzählt, dazu eine Ebene, in der es dann um das spätere Schicksal von Eli geht, die irgendwann auf mysteriöse Weise verschwindet und - wenn ich das dann beim kursiven Durchblättern richtig verstanden habe - die Zeitgrenze zu einer anderen Epoche überschreitet.


    Das Buch erfordert eine erhöhte Konzentration beim Lesen. Die Erzählung ist nicht linear, jede Szene wird durch Reflexionen aufgebrochen, angereichert durch zusätzliche Ebenen und damit für mein Empfinden auch künstlich aufgeblasen.


    Mir ist nicht wirklich klargeworden, warum die Autorin das tut. Zum Lesen war es mir zu mühsam, da die Abschweifungen nicht wirklich interessant oder erhellend waren.


    Damit werde ich meine Lektüre durch die Nominierungsliste beenden. Die Jury hat in meinen Augen in diesem Jahr keine gute Liste erarbeitet. Einzig das Buch von Esther Kinsky halte ich für nominierungswürdig (wenngleich es auch kein Roman ist). Möglicherweise ist auch Georg Kleins Buch gut, aber das ist mir vom Genre her zu abseitig oder schräg, darauf habe ich wenig Lust. Dass mit dieser Auswahl die interessantesten deutschen Romane der aktuellen Saison erfasst wären, glaube ich keinen Augenblick. Ich habe bereits eine Reihe von anderen Büchern gelesen, die den hier vorgestellten meilenweit voraus waren - alllerdings auch von bekannteren Autoren (Pleschinski oder Geiger etwa). Trotzdem: das war keine gute Leistung der Jury. Ich hoffe, dass nun wenigstens Esther Kinsky den Preis bekommt.

  • Ich kenne die Gegend um Sorge (es gibt auch noch den Ort Zorge), Elend und Benneckenstein im Oberharz aus eigener Anschauung ziemlich gut, habe allerdings jetzt nicht das Bedürfnis, das Buch "Die Grüne Grenze" zu lesen. Mit der DDR-Vergangenheit beschäftige ich mich zur Zeit auf eine andere Weise, jetzt einmal ohne Belletristik.


    Gelesen habe ich Monika Maron "Munin oder Chaos im Kopf", das nicht auf der Liste für den Leipziger Buchpreis steht, jedoch in den zurückliegenden Wochen schon eine beträchtliche Resonanz in verschiedenen Medien erfahren hat. Sie wurde durch die Reaktion auf Uwe Tellkamp verstärkt (zu ihm werde ich mich aber nicht äußern, das im "Turm" geschilderte Dresden auf dem "Weißen Hirsch" der Zeit vor 1989 ist nicht das, das ich seit den 1960er Jahren kenne, und etwas anderes von ihm habe ich auch nicht mehr gelesen).


    Ich werde dazu einen eigenen Thread eröffnen, hätte nicht gedacht, dass ich mich noch einmal dermaßen in ein Buch dieser Autorin einlesen würde.

    Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben aus der DDR kommende Schriftsteller wieder Emotionen erweckende Debatten eröffnet. Wir hatten zwar aus der Schulzeit noch das Wort von Karl Marx in dem Schreiben an Ferdinand Lassalle von einer bestimmten Tendenz-Literatur als "bloßer Sprachröhre des Zeitgeistes" wegen dessen "Franz von Sickingen" (1857) in Erinnerung. Gut, Marx war der an Belletristik interessierte Sozialist und Ökonom, nicht jedes Wort muss zu der jetzigen Zeit passen.


    Es ist sicher Zufall, dass Monika Marons "Ich-Erzählerin" mit Familiennamen Wolf heißt: wie die 1929 geborene Schriftstellerin Christa Wolf, die sensibel als "Kassandra" auf sie Bedrohendes reagierte und ihm durch Schreiben therapeutisch begegnete (was die im Westen vor allem auf das Ästhetische schauenden Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Greiner eher abstieß, die in gesicherten Gefilden ohne Staatszensur arbeiten konnten).

    Meine These, auf die ich in diesem Thread noch zurückkommen möchte: Würde Christa Wolf heute noch leben - das seit zweieinhalb Jahren Geschehende könnte sie wahrscheinlich nicht mehr als Schriftstellerin verarbeiten. Jetzt ist eine völlig andere Zeit angebrochen, der mit den Denkgewohnheiten des ebenfalls, aber auf eine andere Weise polarisierenden 20. Jahrhunderts nicht mehr beizukommen sein dürfte.


    Jedoch hatten in der Sowjetunion während der Perestrojka 1987-1989 und in der DDR vor 1989 die Schriftsteller das zu artikulieren versucht, wozu es kein ausreichendes Forum in der Öffentlichkeit gab, um das Polarisierende anzusprechen.

  • Karamzin

    Ich habe Monika Maron in Leipzig auf der Messe erlebt und auf der Rückfahrt im Zug heute ihr Buch begonnen. Ich bin höchst gefesselt und würde das Buch äußerst gern diskutieren. Eröffnest Du einen Strang dazu?

    Ich habe das Buch heute morgen beendet. Ich bin sehr beeindruckt. Es ist ein sehr kluges Buch, großartig komponiert, aber auch ein Buch, über das ich mich an einigen Stellen geärgert habe. Ich bin sicher, die Autorin wollte auch genau das erreichen. Die dialektische Anlage des Buches lädt ja geradezu dazu ein. In jedem Fall habe ich jetzt Gesprächsbedarf. ^^

  • Ich habe das Buch heute morgen beendet. Ich bin sehr beeindruckt. Es ist ein sehr kluges Buch, großartig komponiert, aber auch ein Buch, über das ich mich an einigen Stellen geärgert habe. Ich bin sicher, die Autorin wollte auch genau das erreichen. Die dialektische Anlage des Buches lädt ja geradezu dazu ein. In jedem Fall habe ich jetzt Gesprächsbedarf. ^^

    Ich werde in aller Kürze einen eigenen Thread dazu aufmachen. Es ist seit Jahren das erste Buch der Gegenwartsliteratur, das mich gefesselt hat, und nicht nur mich: das Buch wird im gesamten Bekanntenkreis (Ost und West) gelesen und diskutiert.