Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf

  • Ich möchte diesen Strang und die Diskussion noch um einen weiteren Beitrag ergänzen. Ich lese gerade zur Vorbereitung unseres Lesekreises noch einmal den neuen Roman von Matthias Nawrat: Der traurige Gast. Und mir ist in der Auseinandersetzung mit dem Buch sowie auch bei den Interviews, die ich mit Matthias Nawrat auf der Leipziger Buchmesse und im Radio gehört habe, bewusst geworden, wie sehr Monika Marons Roman und der Roman von Nawrat zusammenhängen.


    Es sind zwei literarische Verarbeitungen desselben Themas. Beide Romane spielen in Berlin, beide beschäftigen sich mit der Problematik der Migration, beide beschreiben Menschen, die sich auf ihre Weise mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Während der Hintergrund von Marons Buch die Ereignisse des Jahres 2015 und danach sind, steht bei Matthias Nawrat das Jahr des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Hintergrund.


    Für die Hauptfigur in Marons Erzählung bedeuten die politischen Ereignisse einen Einbruch in ihre Welt der Normalität, sie erlebt das als Bedrohung und droht, in ihrem Lebensfluss ins Stocken zu geraten. In ihre Wahrnehmung der Gegenwart mischen sich zunehmen die Kriegsbilder und -metaphern der historischen Epoche, über die sie schreibt (die Zeit des Dreißigjährigen Krieges).


    Der Erzähler in Nawrats Buch (der sehr viel vom Autor selbst hat) ist selbst 'Migrant' - er wurde im polnischen Oppeln geboren und kam als Junge nach Deutschland. In seinem Roman kommt er immer wieder mit den Mikrokosmen migrantischer Kulturen in Berlin in Berührung. Das Thema der Migration kommt ihm plötzlich wieder nahe, es rückt ihm regelrecht auf die Pelle und er empfindet das als äußerst unangenehm. Als er der ebenfalls polnischen Architektin Dorota begegnet, die sich in einem Zustand der Transition regelrecht verbissen hat (sie lebt in einer Mietwohnung, die vor allem aus Durchgangszimmern zu bestehen scheint), weigert sich aber, diese Wohnung und überhaupt ihren Stadtteil zu verlassen), befällt den Erzähler ein regelrechtes Grauen. Er wird dies nicht mehr los, sondern wird immer tiefer in die Biographien von Menschen hineinverwickelt, die ihre Heimat verlassen mussten und deren Leben keine Stetigkeit mehr entwickeln. Für die Menschen in Nawrats Buch ist der Übergang zum Dauerzustand geworden. Und von diesem Zustand der Veränderung sind alle betroffen, auch die, die sich räumlich nicht verändern. Denn die Welt um sie herum ändert sich, und deshalb werden auch sie zu Transitionen gezwungen.


    Nawrats Erzähler wählt aber einen ganz anderen Ausweg - oder vielleicht kann man nicht von einer Wahl sprechen. Er reagiert anders als die Hauptfigur in Monika Marons Buch. Er entzieht sich nicht. Er lässt sich in das Leben und das Schicksal der Menschen hineinziehen, denen er begegnet, auch wenn er mitunter Unbehagen und Widerstände in sich spürt.


    Nawrats Erzählung ist völlig frei von Pathos oder irgendwelchen Multi-Kulti-Romantizismen. Ganz im Gegenteil. Die Traumata der Migration werden benannt und beschrieben. Einige der Figuren zerbrechen daran. Und trotzdem durchweht das Buch ein Ton der Mitmenschlichkeit und der Empathie. Diese - so meint Nawrat - ist das Einzige, was uns bleibt, wenn wir mit den Ereignissen konfrontiert werden.


    Das macht das Buch für mich zu einer so wichtigen Ergänzung zum Buch von Monika Maron. Sehr lesenswert sind beide Romane. Aber dass zwei Autoren vom Format Monika Marons und Matthias Nawrats das gleiche Thema verarbeiten und darin unterschiedliche Wege des Umgangs damit für uns ausloten, das ist schon ein großes Glück.