Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf

  • Eine etwas lang geratene Vorrede, dann geht es bald los


    Diesen langen persönlichen Vorspann kann überfliegen, wer will, und gleich zu dem nächsten Beitrag herunterrollen, er wird dann zu dem vordringen, was ich nach der Lektüre des neuen Romans von Monika Maron sagen will.

    In den zurückliegenden sechs Jahren hatte ich mich in diesem Forum mit Vorliebe Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts zugewandt, in den Leserunden Wieland, Goethe, Immermann und Fontane. Hermann Kant und Christa Wolf waren kürzlich verstorbene Schriftsteller, die mit einer abgeschlossenen Periode, der DDR verbunden waren, in der ich mehrere Jahrzehnte bewusst erlebte. Wir verfolgten noch bis zum Höhepunkt der Perestrojka 1989 rege sowjetische Literatur, in der jetzt auf bisher unerhörte Weise Dinge gesagt werden durften, die auch uns angingen, dann kehrte nach derartiger Lektüre wieder Ruhe ein.


    Nach der Herstellung der deutschen Einheit ließ jedoch mein Interesse an zeitgenössischer Belletristik spürbar nach. Viel Lektüre war nachzuholen, die Werke maßgeblicher Autoren Westeuropas wurden jetzt erstmals zugänglich, die vor 1989 nicht in den Handel gelangt waren und in den Bibliotheken nur mit besonderer Genehmigung gelesen werden konnten. Es war nicht nur mein Eindruck, sondern auch der vieler Freunde, dass etliche der jetzt tonangebenden und in den westlichen Journalen bevorzugt besprochenen jüngeren Autorinnen und Schriftsteller ihre individuellen Befindlichkeiten sehr wichtig nahmen, dass sie in einer Welt lebten, die uns sehr fremd war. So wurden etwa Beziehungsprobleme behandelt, die für meine Freunde und mich nicht als so interessant empfunden wurden. Wir kamen aus einer Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung der Frau in vielen Bereichen weiter vorangeschritten war als im Westen, wenn auch das Leben vieler Frauen sehr hart war. Aber es wurde auch nicht erleichtert, wenn sie zu Hunderttausenden in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden, die unbekannt war. Fremde Länder zu erleben, konnte nach 1990 nur, wer, wie die Romanfigur Friedrich, das nötige Geld dazu hatte. Manche haben die östlichen Bundesländer überhaupt nicht mehr verlassen, manche wurden zu Pendlern zwischen völlig verschiedenen Welten.


    Unruhe und Misstrauen im Land

    Die meisten hier im Klassikerforum werden mir sicher beipflichten, dass seit 2015 eine bisher nicht gekannte Unruhe weite Landstriche Deutschlands erfasst hat. Im Westen wird gefragt, was da jetzt seit einiger Zeit im Osten los ist, den man in den Jahren zuvor eventuell kaum noch wahrgenommen hat. Sicher, ich wundere mich manchmal, dass in manchen Gebieten von dieser Unruhe, diesem Missmut, noch kaum etwas wahrzunehmen ist. In einem Thüringer Ort mit 4000 Einwohnern, wo die sechzehn Migranten weitergezogen sein sollen, hörte ich eben auch dort die Rede, dass man nur noch eine gewisse Partei wähle, dass man „ja nichts mehr sagen könne“ . Was daraufhin allerdings sofort getan wird, nachdem man sich vergewissert hat, dass man „unter sich sei“.


    Diese Situation erinnert etliche ganz verblüffend an die Grundstimmung des Jahres 1989. „Von oben“ war nichts mehr zu vernehmen, der Druck im Kessel nahm aber ständig zu. Tausende junger und gut ausgebildeter Menschen verließen in jeder Woche das Land. Das Gespenst einer „chinesischen Lösung“ lag über dem Land. Die Kommunikation zwischen „denen da oben“ und der Masse der Bevölkerung war abgebrochen. Dass diese Staatskrise am 9. November 1989 eine nicht vorhersehbare Wende nahm, überraschte dann allerdings jeden. Wie wird es jetzt weitergehen, im Jahr 2018? Oder ist das alles nur übertriebene Schwarzseherei, vor allem betrieben in den großstädtischen Ballungszentren?


    Die Ich-Erzählerin im Roman heißt mit dem Familiennamen Wolf, wie die Schriftstellerin Christa Wolf, die 1929, zwölf Jahre vor Monika Maron (* 1941), geboren wurde. Das ist ganz gewiss Zufall (oder?). Denn wenn sich gleichermaßen Christa Wolf und Monika Maron als Warnerinnen, als „Kassandra“ verstanden, so verhielten sie sich doch gegenüber der DDR völlig unterschiedlich. Sicher, Monika Maron warnte 1981 in „Flugasche“ früh vor der ökologischen Katastrophe, als dieses Thema in der DDR nicht öffentlich angesprochen werden durfte. Sie war die Tochter des Innenministers der DDR von 1955 bis 1963, Karl Maron (1903-1975), der 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ aus Moskau zurückgekehrt war und die Grundlagen sowohl für eine Zivilverwaltung in Berlin als auch den Aufbau einer streng hierarchisch organisierten Kaderorganisation der Kommunistischen Partei legen half. Wenn er später, nach 1964, das „Institut für Meinungsforschung“ in der DDR leitete, dürfte er Einblicke in die Stimmungslage in der DDR erhalten haben, über die natürlich nichts öffentlich berichtet werden durfte.

    Doch Monika Maron wandte sich schroff ab von der DDR und siedelte 1988 in die Bundesrepublik über. Die in dem Land verbrachte Jugend- und Erwachsenenzeit wird in ihrem neuen Roman immer wieder spürbar. Christa Wolf, mit der sie sich sicher nicht viel zu sagen hatte, blieb hingegen bis zum Schluss ihrem Land verbunden. Was hätte sie gesagt, wenn sie die Zeit nach 2015 noch erlebt hätte? Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich hätte sie, so meine Vermutung, nichts Zusammenhängendes mehr aufschreiben können, so anders ist diese scharf polarisierende Welt als die, die sie gekannt hatte. Im 20. Jahrhundert gab es auch eine polarisierte Welt. Doch funktionierte alles anders.

    Fortsetzung folgt.

  • Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf. Roman. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018. 222 S.


    Mina Wolf, die Erzählerin, die beim Fall der Mauer im November ihr Abitur ablegte, dürfte also um 1970/71 geboren worden sein. Von der DDR hat sie bewusst allenfalls Jugendeindrücke mitgenommen, die Welt stand ihr offen, und sie nutzte die Reisefreiheit. Die Romanautorin hingegen weiß unendlich mehr als die Erzählerin, sie war 1989 bereits achtundvierzig Jahre alt.


    Dieser Altersunterschied von drei Jahrzehnten sollte im Auge behalten werden. Monika Maron musste wissen, dass sehr bald Äußerungen ihrer „Ich-Erzählerin“ für Äußerungen der eigenen Meinung der Autorin gehalten werden würden. Das ist nicht weiter verwunderlich, bedeutet aber auch eine erste Verteidigungslinie für Schriftsteller, die immer darauf verweisen können, dass die Ansichten ihrer „Ich-Erzähler“ nicht in Allem identisch mit ihren eigenen zu sein brauchen. Schließlich führt Monika Maron ja auch ein Ensemble weiterer Figuren ein, die ebenfalls Meinungen vertreten, die nicht in allem ihre eigenen zu sein brauchen.

    Der Jugendfreund Friedrich, in den Mina Wolf einst verliebt war, hat die Reisefreiheit, die ihm der Westen bot und bietet, in vollen Zügen genossen. Er schipperte mit einem Boot um die halbe Welt. Und doch hat sich in jüngster Zeit etwas verändert: Friedrich will nicht mehr das Mittelmeer befahren, sondern zieht Nordeuropa und die baltische Staatenwelt vor. Warum wohl?

    Wer die Zeitung liest und Nachrichten verfolgt, weiß es.


    Ihrer Freundin Rosa, die sich in Rumänien um herrenlose Hunde kümmert und sich immer mit Hunden umgibt, kann sie ihr Herz ausschütten, sie versteht die Ängste von Mina Wolf. Da ist auch kein Hohn gegenüber dieser literarischen Figur der Art zu verspüren „Seit ich die Menschen kannte, lernte ich die Tiere lieben“. Rosa hat ihren Mann durch einen Unfall verloren. Mina Wolf hat ebenfalls eine Ehe hinter sich, in der sich beide nur noch wehtaten.

    Und sie ist ja auch zunehmend einem Tier verfallen: einer deutschen Nebelkrähe (westlich der Elbe kommen sie nicht vor, nur Rabenkrähen und natürlich Saatkrähen), die sie nach der altgermanischen Mythologie Munin nennt und die, im Unterschied zu einem Hund, sprechen und Weisheiten von sich geben kann. Oder nur zu sprechen scheint, und Mina Wolf hat alles nur geträumt, Traum und Wirklichkeit vermengen einander.



    Die „Vorkriegszeit“

    Wenn Monika Marons Hauptfigur wie viele unserer Zeitgenossen das Gefühl beschleicht, in einer „Vorkriegszeit“ zu leben, so deckt sich dieser Befund mit dem Empfinden vieler einfacher Menschen, also keiner Diplomaten, Politiker oder Militärs, die kurz vor einer großen Völkertragödie eben von einer solchen unbestimmten Vorahnung erfasst werden.

    Gleich am Anfang des „Schwejk“ ist der Held davon überzeugt, dass ein Krieg unmittelbar bevorstehe. Nun wird es heute, im Jahr 2018, viele Leser geben, die am liebsten Entwarnung geben würden: Toben die offenen Kriege nicht doch noch etwas weit weg, in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Afghanistan und Jemen? Natürlich ist man mit einem Flugzeug in wenigen Stunden in der Nähe dieser Kriegsschauplätze, mit Smartphones können in Bruchteilen von Sekunden echte Kriegsnachrichten übermittelt werden. Wer soll denn aber hierzulande Krieg führen? Liegt nicht das Waffenmonopol beim Staat, gibt es nicht bei uns Polizei und Armee? Ist die Masse der Bevölkerung denn nicht unbewaffnet (na ja, in Amerika sieht man, was Schusswaffen in jeder Hand anrichten können). Monika Maron zitiert Albert Einstein, wonach der vierte Weltkrieg mit Knüppeln und Steinen ausgetragen werden würde, was auf die ewig kriegerische Natur des Menschen zurück verweist, der es letztlich nicht gelernt habe, in Frieden zu leben. Das ist eine Hauptaussage dieses Romans.


    Er spielt in Berlin, in einer Straße, die zugleich Neubauten, wie wir sie in Berlin sattsam kennen (ich wohne seit 1974 mit Unterbrechungen in Berlin), als auch einen eher vorstädtischen Charakter aufweist.

    Am Ende scheint wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt zu sein. Die angenommene Verursacherin der Beunruhigung in der Straße ist tot.

    Das abrupte Ende des Romans erinnert mich fatal an Günter de Bruyns „Märkische Forschungen“. Während die Forschungsergebnisse des Lehrers im Osten verstören, weil sie der verordneten Geschichtssicht widersprechen und demzufolge verboten gehören, werden sie im Westen abgelehnt – welche Ironie! -, da zu sehr dem Geschichtsbild in der DDR verhaftet.

    Die Betrachtungen der Mina Wolf zum Dreißigjährigen Krieg werden in der westfälischen Kleinstadt abgelehnt, weil sie als zu pessimistisch erscheinen, da doch dort angesichts des Stadtjubiläums freudiges Feiern angesagt ist, das nicht durch verstörende Geschichtsparallelen beeinträchtigt werden sollte.

    Die Rezension von Miriam Seidler auf Literaturkritik.de vom 16.03. 2018 erscheint mir zwar auf weite Strecken durchaus sympathisch, weil frei von vorschnellen Verurteilungen gemutmaßter Intentionen der Autorin Monika Maron.

    http://literaturkritik.de/maro…achtstueck-vor,24336.html

    Doch äußert sich die Rezensentin auch nicht zur Mutmaßung einer „Vorkriegszeit“. Ist alles „falscher Alarm“? Wird die große Koalition der Politiker da oben alles wieder, wie zuvor, in gewünschte ruhige Bahnen lenken können? War das wieder, mal wieder im „Osten“, ein Sturm im Wasserglas?


    Fortsetzung folgt.

  • Einige Grundaussagen, die verstören und polarisieren können:

    Eine einzige Figur, die falsch tönende, psychisch gestörte Sängerin, bringt Unruhe in die Straße, die sicher schon zuvor latent vorhanden war, jetzt aber zum Ausbruch kommt.

    Letztlich leiden etliche der hart arbeitenden Menschen unter der Ruhestörung. Zwischen einem Taxifahrer, der auf Ruhezeiten angewiesen ist, und einem Audi-Fahrer aus der Medienbranche, der jene Anwohner repräsentiert, die sich tagsüber gar nicht in der Straße aufhalten, sondern auf Arbeit sind, entwickelt sich der Streit.

    Wie die "Sängerin" zeige, die angeblich eine ganze Straße "terrorisiere" (kann man das Wort verwenden in den Zeiten des "richtigen" Terrors? S. 97)


    „In diesem Land muss man inzwischen verrückt sein, zu doof oder zu faul zum Arbeiten, nicht Deutsch können, drogenabhängig oder kriminell sein, damit sich jemand mit dir beschäftigt.“ (S. 95)


    Wer unauffällig seiner Arbeit nachgeht, wird hingegen nicht beachtet.

    „Wenn einem gar nichts mehr einfiel, musste man Respekt fordern. Respekt war das abgedroschenste Wort der letzten Jahre.“ (S. 101).

    Mina Wolf entwickelt eine Vermeidungshaltung, arbeitet zunächst nur noch nachts. Aber sie wird zunehmend in das Geschehen hineingezogen. (Einwohnerversammlungen kennt man noch aus besten DDR-Zeiten).

  • Religion zum Ersten

    Vor einigen Tagen ließ Horst Seehofer seiner Behauptung "Der Islam gehört nicht zu Deutschland", die ebenso pauschal wie die entgegengesetzte des einstigen Maschmeyer-Bundespräsidenten war, sofort den Verweis auf das Christentum folgen und die den Jahresablauf prägenden Feiertage. Na ja, muss sofort hinzugefügt werden: wir stehen in der jüdisch-christlichen Tradition.

    Millionen von Menschen gehören auch zu Deutschland, die sind religionsfern, sie interessieren sich nicht in ihrem Alltag für Religion und Kirche, wollen nicht damit behelligt werden, da es auch schon vor 1990 ausgeprägte religionsfreie Zonen gab, sie sind nicht konfessionsgebunden, sind Agnostiker oder Atheisten, wenn sie sich dennoch Gedanken über Religion machen. Es gibt keine verläßlichen Zahlen dazu, aber mitunter wird davon ausgegangen, dass ein Drittel der Bevölkerung religionsfrei ist, vor allem im Osten. Durch solche historischen Gestalten wie Frau Merkel (die Frau, bei der sich nach Monika Maron die untere Gesichtshälfte zu einem Viereck verzieht) und Joachim Gauck wird dieser Eindruck nicht zu deutlich. Eines könnte hier diskutiert werden: Monika Maron gehört eindeutig zu den Konfessionslosen. Ihr erscheint Religion als Beschleunigung für die zunehmende Verrohung, wenn sie auch andere der komplexen Ursachen für Krieg oft nur verdeckt. So ist es heute - sie wird kaum der Behauptung zustimmen, dass ein moderater, friedfertiger Islam heute irgendeinen nennenswerten Einfluss ausüben könnte.

    Über die Religion bei Monika Maron könnte man hier diskutieren.

  • Herzlichen Dank, Karamzin, dass Du die Diskussion eröffnet hast. Herzlichen Dank auch, dass Du mit einem längeren Eingangsposting sozusagen den Hintergrund etwas erläutert hast, von dem aus Du den Roman gelesen hast. Das finde ich ungeheuer wichtig, denn er verortet das Buch ja nicht nur in Deiner subjektiven Lesebiographie, sondern zugleich auch in einer literarischen Landschaft, die uns alle betrifft. Und was Du zu der Befindlichkeitsprosa junger (vornehmlich weiblicher) westlicher Autorinnen der Nachwendezeit schreibst, kann ich ebenfalls vollkommen unterschreiben.


    Ich mache es auch so, dass ich zunächst einmal ein paar grundsätzliche Dinge zum Roman sage, bevor wir dann gerne in Einzelheiten einsteigen können.


    Zuvor noch dies: Ich habe die Autorin in Leipzig auf der Buchmesse erlebt. Sie wurde beim Deutschlandradio interviewt. Es war ein hochinteressantes Gespräch, das natürlich auch auf die politische Verortung des Romans einging. Die Autorin hat ja durch recht klare Äußerungen in den letzten Monaten (NZZ: Ich bin wohl das, was man heute rechts nennt) eine Selbstverortung vorgenommen, die auf die Rezeption des Romans zurückwirkt. Zugleich hat sie in dem Gespräch in Leipzig auch immer wieder sehr deutlich gemacht, dass der Roman dialektisch angelegt ist und sie zur Haltung der Hauptfigur (Mina Wolf) immer wieder auch Gegenpositionen einbringt, die ernst zu nehmen sind. Manche Figuren schreibe sie eben nur deshalb in einen Roman, um sie Dinge sagen zu lassen, die sie gerne sagen möchte.


    Es fällt mir schwer, das Buch gleich in einem Statement auf einen Nenner zu bringen, denn es ist trotz seiner überschaubaren Textmenge (220 dünne Seiten) sehr ökonomisch angelegt, stringent erzählt, stilistisch ausgesprochen ausgereift und höchst komplex. Allein das zu lesen, hat mir Freude gemacht.


    Die Hauptfigur Mina Wolf lebt in einer Straße in West-Berlin, die von einer irren Sängerin heimgesucht wird. Die Frau kann nicht singen, belästigt aber alle in der Straße durch ihren Lärm. Sie ist also ein Störfaktor in einem ansonsten gut und geschlossen funktionierenden System. Sie bringt das System zum Kippen und löst einen Prozess aus, der blutig endet. Die Sängerin hat keinen Namen, sie wird nur Frau S. genannt - ich habe ihren Gesang aber auch als den Warnruf oder die unspezifische Prophezeiung einer Sibylle verstanen. Ihr Unheilsgesang treibt nicht nur die Bewohner der Straße dazu, aktiv zu werden, er ruft das kommende Unheil erst selbst hervor.


    Die Unruhe in der Straße wird aber sofort verstanden als Ausdruck einer tief greifenden allgemeinen Unruhe, die das gesamte Land erfasst hat und die gesamte Welt. Es ist - um mit Thomas Mann zu sprechen - die 'Große Gereiztheit' (der Soziologe Pörksen hat diesen treffenden Begriff jüngst auch im Titel eines Buches aufgegriffen). In der Reaktion auf die Störung durch die Sängerin brechen sofort alte Verletzungen, Weltanschauungen, Gefühle von Überlegenheit oder Benachteiligung auf. Es gibt den pöbelnden AfD-Wähler, die indifferenten Intellektuellen, die vorsichtigen Ostbürger (Ehepaar Herforth) oder den großsprecherischen Kapitalisten.


    Die Reaktion von Mina Wolf ist zunächst der Rückzug in die Nacht. Durch ihre Entkoppelung vom normalen Leben kann sie zwar der Sängerin und ihrem unmittelbaren Einwirken auf ihr Leben entkommen, aber sie gerät immer tiefer in einen Strudel aus Angst. Indem sie der unmittelbaren Störung ausweicht, nimmt das Bedrohungsgefühl durch die Weltlage so sehr zu, dass die Hauptfigur es als Chaos im Kopf erlebt. Eine Krähe wird zu ihrer Gesprächspartnerin - was aber recht leicht aufzulösen ist als innerer Dialog. Die Krähe ist alter ego oder advocatus diaboli, sie wird gebraucht, um Gedanken der Hauptfigur zu klären. Überhaupt, die Namen: Mina, Munin, Moni(ka), Maron - das ist alles so nah beieinander, dass es klar ist, dass die Autorin diese Nähe sichtbar machen möchte.


    Die Isolation Minas wird immer wieder aufgebrochen durch Kontakte in der Nachbarschaft, die sie tiefer in die unmittelbare Konfliktlage hineinziehen, und durch Gespräche und Treffen mit Freunden. Diese wiederum sind ein wichtiges Gegengewicht zu ihrer Isolation. Friedrich bereist die Welt, lebt überwiegend auf seiner Yacht und nimmt zwar die Bedrohungen wahr, lässt sich von ihnen aber in keiner Weise tiefer verunsichern. Ihre Freundin Rosa kümmert sich um verwahrloste Tiere in Rumänien. Beide Haltungen lese ich nicht als Flucht. Sie sind auch zeichenhaft. Mina wird von Angst umgetrieben, obwohl sie in einem sehr engen Zirkel in Berlin lebt. Friedrich, der in die Welt geht, kennt und sieht die Probleme, aber er lässt sich nicht von ihnen gefangennehmen. Rosa ist ebenfalls aktiv und geht raus. Ich lese daraus auch den Hinweis: Die Angst vor der Welt wächst im Rückzug, sie reduziert sich aber in der aktiven Kontaktaufnahme mit dem Leben und der Welt.


    Nun noch zum Krieg. Ich finde es fast einen Geniestreich, einen Roman im Jahr 2018 auch mit einer so deutlichen Bezugnahme auf den Dreißigjährigen Krieg zu schreiben. Zumal das nicht gewollt erscheint. Wedgwood ist zwar nicht mehr erste Garde der Forschung, aber die Monika Maron hat zum Thema wirklich kluge und gute Einsichten zu liefern. Und das sage ich als jemand, der sich im Studium viel mit dem Dreißigjährigen Krieg befasst hat. Chapeau!


    Besonders prominent ist der Begriff der Vorkriegszeit. Die Diskussion darüber wird ja seit einiger Zeit geführt, zuletzt sehr prominent auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Ob man in einer solchen lebt oder nicht, wird man naturgemäß immer erst hinterher bewerten können. Gerade im Hinblick auf den Dreißigjährigen Krieg und auch auf den Ersten Weltkrieg lässt sich aber aus historischer Sicht mit Bestimmheit sagen: Das Gefühl der allgemeinen Bedrohung und des 'kommenden Krieges' hat die Kriegsgefahr immer erhöht, statt sie zu bannen. Das Bewußtsein, bedroht zu sein, hat die Aggressivität gesteigert. Das Denken, von Feinden umringt zu sein, hat das Säbelrasseln intensiviert. Insofern ist auch klar, dass eine Steigerung des Bedrohungsgefühls die reale Bedrohung erhöht. Dieser Gedanke fehlt mir in dem Buch. Oder wenigstens kommt er nur immanent vor, denn der Hauptfigur gelingt es punktuell immer wieder in Gesprächen, durch eine Geste, eine Wendung und ein befreiendes Lachen aus ihrer Angstspirale zu entkommen.


    Geärgert habe ich mich auch an einigen Stellen. Mina Wolf fühlt sich bedroht vor allem und zuvorderst von jungen Männern mit Migrationshintergrund. Das ist subjektiv nachvollziehbar, bei allem, was sie so in den Zeitungen liest, zumal ein Fall versuchter Vergewaltigung in der Nachbarschaft ihre Ängste weiter schürt. Bei diesem Thema fehlte mir in dem Roman das Dialektische dann doch. Denn die in großer Zahl bei uns eingewanderten jungen Männer sind zwar ein Symptom, aber eben nicht nur einziger Ausdruck der Weltkrise (oder dessen, was wir in unserem Bedrohtsein dafür halten). Dass sie hier so herausgehoben dafür hergenommen werden, hat bei mir ein vielleicht reflexhaftes, aber doch klar unangenehmes Gefühl hinterlassen.


    Und noch zuletzt: Die Absage des westfälischen Kleinstadt - wie soll man sie lesen? Ist sie tatsächlich Ausdruck einer Naivität, die sich weigert, die Realität der 'Vorkriegszeit' zu sehen? Ist sie kluge Abwehr einer alarmistischen Verranntheit der Autorin des Aufsatzes in ihr eigenes Chaos im Kopf? Oder gar böswillige Unterdrückung einer unliebsamen abweichenden Meinung? Oder gar von allem etwas?


    Egal: doller Roman. Ich wünsche ihm viele Leser und lebhafte Diskussionen. So kommen wir weiter.

  • Der Dreißigjährige Krieg und die "Magdeburgische Hochzeit" 1631


    So war es auch um 1618, als ein Komet von künftigem Unheil kündete. Die Religionsparteien, die europäischen Mächte, bereiteten sich auf das Gemetzel vor. Oder schlitterte man nicht doch in den großen Krieg hinein, wie das Clarke für 1914 schildert? Während die Schriftstellerin Monika Maron die Geschichte genau kennt, muss sich ihre Mina Wolf in die Grundlagen einarbeiten, um das Honorar der westfälischen Kleinstadt für eine Skizze über den Dreißigjährigen Krieg zu erhalten.

    Welche Kleinstadt zahlt heute noch solche Honorare? Es mag sie geben. Mina Wolf ist jedenfalls auf Gelegenheitsarbeiten dieser Art angewiesen und kann sich die Nachtarbeit auch erlauben.

    An "Cicely", wie sie die britische Historikerin Wedgwood nennt, die 1932 über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben hatte, ist erstaunlich, dass diese Autorin erst 28 Jahre alt war, also in einem Alter, in der von Frauen verfasste historische Darstellungen kaum veröffentlicht wurden, heute vermutlich gar nicht (die Dame von "Darm mit Charme" ist zwar auch erst 26 Jahre alt, aber sie berücksichtigt nicht ausreichend chronische Durchfälle, die sich auch einstellen können, wenn man sich alles zu sehr zu Herzen nimmt). "Cicely" lebte auch in einer "Vorkriegs"-Zeit.


    Der Berliner Historiker Jan Peters (1932-2011) berichtete in den 1980er Jahren zuerst über das den gebürtigen DDR-Bürgern damals entfernte Schweden, wo er im Exil aufwuchs, und weckte Sehnsüchte: "Die alten Schweden" (1981). Dann wandte er sich den relativ seltenen Selbstzeugnissen der Unterschichten in der Frühen Neuzeit zu, entdeckte und edierte das Kriegstagebuch des Peter Hagendorf.



    Im Jubiläumsjahr 2018 biegen sich die Tische unter der Last an Jubiläums-Literatur: Herfried Münkler ist wieder mit einem kiloschweren Werk da, Georg Schmidt, Harold Wilson und viele, viele andere, wie seit 2013, als Jubiläen drohten und den Schreibwettbewerb beförderten.


    Meine nächste Bezugsperson im Leben ist Magdeburgerin. Ich war seit 40 Jahren sehr oft in dieser Stadt. Magdeburg, das 1631 von den katholischen Kaiserlichen verwüstet wurde, stand symbolisch für Greuel des Krieges (Friedrich Schiller!), wie im Ersten Weltkrieg Leuven, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Dresden oder Hiroshima. In einem Dorf auf engstem Raum 1968 zusammengedrängt in Vietnam: My Lai (und das prägte das Amerikabild stark, während die der gleichen Generation angehörende Angela Merkel, wertfrei gesagt, starke Sympathien für Amerika entwickelte.)

    Diese evangelische Hochburg Magdeburg, die nach der Reformation "Des Herrgotts Kanzlei" genannt wurde (wo Mitte des 16. Jh. die protestantische Geschichtsschreibung der "Magdeburger Centurien" um Flacius Illyricus entstand), verlor in wenigen Tagen mehr als 20.000 Einwohner. Die "Magdeburgische Hochzeit" war das Thema des 1938 erschienenen, die Zeitläufte verarbeitenden Romans der christlichen Autorin Gertrud Le Fort. Die Magdeburger Jungfrau wurde im Krieg geschändet.

    Monika Maron lässt ihre Gestalt im Zusammenhang mit Magdeburg vor allem an das Jahr 1631 denken. Allerdings hatte meine Schwiegermutter auch den 16. Januar 1945 täglich vor Augen gehabt, an dem ihr Elternhaus in Schutt und Asche versank und sie mit knapper Not ihr Leben rettete, wie meine Eltern am 13. Februar 1945 in Dresden bzw. 1944 in Chemnitz.


    Aber jetzt höre ich wirklich auf, vielleicht für ein paar Tage, in denen ich gar nicht in dieses Forum schaue. An Stoff für eine Diskussion dürfte sich vielleicht einiges angesammelt haben. Dann komme ich eventuell wieder.

  • Noch eine Anmerkung zum Titel: Munin oder Chaos im Kopf. Auch das Chaos im Kopf ist doppeldeutig: Die Hauptfigur denkt über das historische Chaos (Dreißigjähriger Krieg) nach und über das heutige (Weltlage, Migration). Durch dieses Nachdenken gerät aber ihre eigenes Denken in einen Strudel der Verwirrung und Angst, der selbst wieder Chaos ist.

  • Monika Maron gehört eindeutig zu den Konfessionslosen. Ihr erscheint Religion als Beschleunigung für die zunehmende Verrohung, wenn sie auch andere der komplexen Ursachen für Krieg oft nur verdeckt. So ist es heute - sie wird kaum der Behauptung zustimmen, dass ein moderater, friedfertiger Islam heute irgendeinen nennenswerten Einfluss ausüben könnte.

    Über die Religion bei Monika Maron könnte man hier diskutieren.


    Auch hier stellt sich natürlich wieder die Frage: Monika Maron oder Mina Wolf?

    Insgesamt haben mich die religionsphilosophischen Passagen des Romans am wenigsten angesprochen. Das hängt wohl mit meinem Hintergrund zusammen. Als religiös gebundener Westdeutscher ist diese Baustelle sozusagen nicht meine Baustelle. Ich habe diese Passagen vor allem wahrgenommen als das Nachdenken einer Frau, die aus einer Gesellschaft kommt, für die Religion ein abgetanes Thema von gestern ist und sich nun damit konfrontiert sieht, dass das eine Fehlannahme war. Was also soll das sein mit diesem Gott und dem Glauben - das ist ja ein Grundmotiv ihrer Diskussionen mit der Krähe. Religion bereitet ihr Unbehagen. Und während man die gegenwärtige Ausprägung des westlichen Christentums noch für domestizierbar hält, begegnet der Hauptfigur im Konfessionalismus des 17. Jahrhunderts ein Christentum, das vor Gewalt eben nicht zurückschreckte, so wie heute der Islam.


    Das verunsichert sie, weshalb sie die Beurteilung des sog. Westfälischen Friedens auch hinterfragt. Allgemein gilt dieser Friedensschluss als ein wichtiger Entwicklungsschritt, denn er erklärte einen politischen Frieden zwischen den Kriegsparteien unter Ausschluss der religiösen Wahrheitsfrage. Erst von da an war es möglich, Staatlichkeit in Mitteleuropa zu denken, die die religiöse Homogenität eines Staatsgebildes und -volks nicht mehr als Voraussetzung hatte. Bis dahin war es immer noch darum gegangen, einen Weg zu finden, die Bevölkerung eines Territoriums einer einzigen Konfession zuordnen zu können, auch auf dem Wege der Gewalt. Erst in der Zeit nach 1648 entwickelte sich innerhalb des Reiches so etwas wie eine dauerhafte Toleranz religiösen Minderheiten gegenüber - eine wichtige Voraussetzung dann auch der Aufklärung.


  • Noch ein Hinweis, um nicht zu sehr in die Ost-West-Falle bei der Interpretation zu tappen: Die Hauptfigur lebt in einer Straße in alten Westen Berlins. Die Szenerie ist also 'West', wenngleich natürlich in Berlin die alte Dichotomie stärker aufgelöst ist als im restlichen Deutschland. Die Störung und die Reaktionen darauf spiegeln also nicht nur eine Seite wider, sondern schon die gesamte Bandbreite der deutschen Gesellschaft. Allerdings sind darin wiederum die ehemaligen DDR-Bürger klar erkennbar (Ehepaar Herforth und die Hauptfigur).

    Ehepaar Herforth zeichnet sich aus durch ein vorsichtiges Sich-Zurückziehen ("Man muss aufpassen, was man sagt.") Offen bleibt, ob diese Zurückhaltung sich in einer lange eingeübten Furcht davor gründet, sich zu exponieren, oder ob sie davon ausgehen, dass das Äußern ihrer Meinung sie automatisch 'in die rechte Ecke' stellt. Klug auch hier wieder von der Autorin, nicht zu explizit zu sein.


    Mina Wolf wiederum hat zwar auch diesen Widerwillen, sich in die Auseinanderesetzung um die Sängerin hineinziehen zu lassen, jedoch ist sie zugleich auch diejenige, die am sensibelsten die Erschütterungen wahrnimmt. Das ergibt ja Sinn bei Menschen, die während der DDR-Zeit gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen und die dann einen kompletten Systemwechsel verarbeiten mussten. Sie reagieren sensibler auf neue gesellschaftliche Veränderungen, während die Westdeutschen mit ihren gewissermaßen ungebrochenen Biographien diese Veränderungen weniger stark empfinden oder als weniger bedrohlich erleben. Es fehlt ihnen schlicht an Vorstellungskraft, dass das System, in dem sie zu leben gewohnt sind, sich radikal ändern könnte.

  • Zitat

    Das ergibt ja Sinn bei Menschen, die während der DDR-Zeit gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen und die dann einen kompletten Systemwechsel verarbeiten mussten. Sie reagieren sensibler auf neue gesellschaftliche Veränderungen, während die Westdeutschen mit ihren gewissermaßen ungebrochenen Biographien diese Veränderungen weniger stark empfinden oder als weniger bedrohlich erleben. Es fehlt ihnen schlicht an Vorstellungskraft, dass das System, in dem sie zu leben gewohnt sind, sich radikal ändern könnte.

    Dann doch noch etwas, bevor ich wieder in Klausur gehe (und es sind ja nach unseren auch noch weitere Beiträge zu erwarten).


    JHNewman


    Besten Dank für all Deine interessanten Betrachtungen, auf die ich später gern eingehen will. Selbst in diesem Forum rechnet der gelernte DDR-Bürger, dass auch hier Menschen aus dem realen Leben vorbeischauen können.8)

    Und da glaube ich auch heute einen Unterschied wahrnehmen zu können: Die einen sagen: Hoppla, jetzt komme ich, ich stehe jetzt hier und sage offen meine Meinung! Das Ehepaar Herforth sieht sich auch heute noch, nach mehr als dreißig Jahren, vorsichtig um, bevor es etwas zum Besten gibt.

    Die "verdeckte Schreibweise" ist bei manchen in Fleisch und Blut übergegangen.

    Der Umgang mit diesem Roman von Monika Maron erleichtert, hier etwas aufzuschreiben, weil sie auch vieldeutig schreibt und immer auf die Verwendung der Begriffe achtet.

    Ängsten kann man sozusagen therapeutisch (selbsttherapeutisch) begegnen, wenn man sich aktiv mit der Wirklichkeit auseinander setzt, lese ich bei Dir heraus. (auch kollektiven Ängsten? Massenpsychosen?). Es gibt allerdings auch Leute, die versuchen, erst einmal alles an sich herankommen zu lassen. Das Chaos im Kopf muss nicht zwangsläufig und unumkehrbar zur Selbstzerstörung führen. Es kann auch passieren, dass sich die Wirklichkeit wieder etwas aufklart.

  • Liebe Maron-Leser,

    vorab, ich kenne das Buch (noch) nicht.

    Eben habe ich einen Blick in die Amazon-Rezensionen geworfen und lese dort u.a.:

    Ganz fein gesponnen in gekonnten Dialogen erkennen wir die marginale Problemlösungsfähigkeit einer Gesellschaft, die verlernt hat, Entscheidungen zu treffen. Alles dreht sich an runden Tischen um nichts mehr, Arbeitskreise entspannen sich und lassen zu, wer oder was auch immer sein Recht einfordert: je mehr, desto besser. Vielfalt statt Einfalt, dabei gerät Vorsicht und Vernunft unter die Räder.

    Es geht in diesem Buch primär um eine sich komplett ins Nichts auflösende Gesellschaft, die vor lauterem Verständnis für alles für niemanden mehr Kraft aufbringt und die kulturellen Wurzeln nahezu völlig aufgegeben hat.


    Wir beurteilt ihr diese Einschätzung? Es liest sich für mich wie eine Kritik an einer Form des Zusammenlebens, die nur noch auf Randgruppen abhebt und die "Mitte" der Gesellschaft, die eigentlich (so habe ich es als Kind gelernt) Hauptstütze der Gesellschaft ist, verkümmern lässt.


  • Liebe Zefira,

    ich kann mich dieser Beschreibung des Buches von Maron nicht anschließen, besonders nicht dem zweiten Absatz. Das habe ich im Buch so nicht gefunden, sondern halte das für eine Lesart, die schon von einer bestimmten Ideologie geprägt ist. Es gibt allerdings eine Figur im Buch (den Taxifahrer), der diese Sichtweise teilen würde, denn von ihm ist das von Karamzin oben angeführte Zitat:

    „In diesem Land muss man inzwischen verrückt sein, zu doof oder zu faul zum Arbeiten, nicht Deutsch können, drogenabhängig oder kriminell sein, damit sich jemand mit dir beschäftigt.“ (S. 95)


    Die Sängerin ist ja zwar der Anlass der Verwirrung in der geschilderten Straße, aber das Problem mit ihr ist - wenngleich ärgerlich - kein allgemein gesellschaftliches Problem und auch nicht wirklich bedrohlich. Zwar gibt es in der Tat ihren amtlichen Status als Verrückte, was sie gewissermaßen unangreifbar macht. Viel problematischer ist aber, dass sich anhand des Umgangs mit dem Störfaktor offenbar, dass die anderen Straßenbewohnerinnen und -bewohner keine gemeinsame Basis mehr finden, wie sie mit dem Problem umgehen wollen. Es gibt keinen sozialen 'Kitt' mehr, der erlauben würde, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Zwar werden Verbündete in der Straße gesucht, aber es entstehen auch Feindschaften. Und diese soziale Spannung wird verschärft durch die allgemeine Weltlage (die Große Gereiztheit...). Interessant ist auch, dass keiner versucht, mit der Sängerin zu reden oder mit ihren Betreuern von Amts wegen Kontakt aufzunehmen. Ich leben ja auf dem Dorf, da würde ein solcher Fall vermutlich komplett anders ablaufen.


  • Die Sängerin ist eine fiktive Figur der Erzählerin, wenn sich ihr Auftritt im wirklichen Leben so ereignen würde, wie im Roman dargestellt wird, würde man schon eher zu einer Lösung gelangt sein. Mit ihr zu reden, ist offensichtlich sinnlos. Sie greift sogar Kinder verbal an, was in den Augen der Eltern gar nicht geht, wobei manche dieser Kinder - nicht die Unschuld an sich - ja auch ihrerseits der Sängerin zuleibe rücken, wie wir auch selber heute mancherorts erleben müssen, dass die Hemmschwelle für manche Kinder und Jugendliche herabgesetzt zu sein scheint, Erwachsene verbal oder tätlich anzugreifen, was in etlichen Schulen der Großstädte seit längerem geschieht. Die Kinder richten sich nur spiegelbildlich nach dem Vorbild der Eltern. Und die Betreuer der Sängerin würden sich auf die Position zurückziehen, dass sie keine gesetzliche Handhabe haben, um etwas an dem Zustand zu ändern.


    "Der vormundschaftliche Staat" hieß ein Buch des Rechtsanwalts Rolf Henrich, das zur Auslösung der Staatskrise in der DDR 1989 beitrug. Ob man das jetzt - JHNewman - als "Ost-West-Falle" bei der Interpretation ansieht oder nicht: vielerorts gelangt man inzwischen durchaus zu der Ansicht, dass inzwischen die "Ost-Problematik" den Westen einzuholen begonnen hat. Durch zentrale Entscheidungen wird vielen Ansichten zufolge auch heute zentral vorgegeben, was die Menschen zu denken und zu leisten hätten.

    Ja natürlich kommen jetzt auch hier ideologische Interpretationen auf: dass die Frage der zeitweise unkontrollierten Masseneinwanderung im Raum steht (der berühmte "weiße Elefant" im Raum), wird regierungsseitig mit eben solchen Formulierungen inzwischen zugegeben, dass die Bevölkerung politisch gespalten ist, wird mittlerweile von der Bundeskanzlerin auch eingeräumt. Die einen sagen, dass es ein Akt der Mitmenschlichkeit gewesen sei, wenn zugelassen wurde, dass nach 2015 Hunderttausende Fremder ins Land kamen, von denen man nur bei einem Bruchteil ihren Status bestimmen kann. Die anderen sagen, dass damit die Kontrolle über die Landesgrenzen aufgegeben worden und dem Land Probleme auferlegt worden seien, die als schwer beherrschbar erscheinen, wozu man in den übrigen europäischen Ländern nur den Kopf schüttelt. Die Juristen bieten verschiedene Beurteilungen dieser Vorfälle an.

    Kann ich noch sagen, dass ich hier keine politische Diskussion lostreten will, sondern dass es erst einmal nur um Literatur geht? Die Autorin Monika Maron macht jedenfalls keinen Hehl daraus, dass es vor allem der politisierte Islam ist, der ihr Sorgen bereitet und der hierzulande Gewalt freisetzen kann, die es ansonsten im Gemeinwesen nicht gegeben hätte, dessen christlich-jüdische Wurzeln von Leuten wie Horst Seehofer festgehalten werden, wobei, wie ich oben festhalten wollte, der Anteil der Nichtreligiösen beträchtlich ist, die sich in dieser Bestimmung der gesellschaftlichen Grundlagen auch nicht wiederfinden können.


    Historischer Exkurs

    Die DDR glaubte alles unter Kontrolle zu haben. Im Herbst 1988 nahm ich an einer Einwohnerversammlung in einem Neubauviertel 100 Meter von der Mauer, der Grenze zu Westberlin in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs Heinrich-Heine-Straße teil. Solche Versammlungen finden auch in dem Roman statt, wenngleich in einem kleineren Rahmen - Monika Maron kennt sie natürlich noch - und 1988 mit einem vergleichsweise vielleicht schwerer wiegendem Anlass als den nervenden Auftritten der fiktiven Sängerin in der Erzählung.

    Ein Staatsanwalt nahm vor Hunderten beunruhigter Bürger Stellung zu einem einige Tage zurückliegenden Vorfall, wonach etwa fünfzig Jugendliche aus dem Neubauviertel sich zu einem Marschzug formierten, die von ihrer sozialen Herkunft her alle Bevölkerungsschichten repräsentierten, wie sich bei der anschließenden gerichtlichen Untersuchung herausstellte. Zu ihnen gehörten Kinder von SED-Funktionären, Offizieren und Polizisten. Sie streckten die Arme zum Hitlergruß empor und sangen: "Es zittern die morschen Knochen" (wo sie nur diesen SS-Text herhatten!). Es dauerte geschlagene zehn Minuten, bis Polizei und Staatssicherheit mit Lastkraftwagen herangerückt waren, um die Jugendlichen alle festzunehmen und "zuzuführen", wie es damals hieß. Die Deutung stellte sich ein: um seine Verachtung sowohl gegenüber der Elterngeneration als auch gegenüber dem Staat zu äußern, musste man zu dem greifen, was die in der DDR herrschenden Antifaschisten am meisten verletzen musste.


    Zefira

    Die von Dir wiedergegebene Beurteilung des Romans durch eine Leserzuschrift ist für mich irgendwie schwer fassbar. "Problemlösungsfähigkeit einer Gesellschaft" - das geht von der Vorstellung aus, dass es noch eine geschlossene Gesellschaft mit gemeinsamen Wertevorstellungen geben würde.


    Der Roman von Monika Maron ist sicher raben- / krähenschwarz. Wo will man aber Optimismus hernehmen? Ist es die Aufgabe von Schriftstellern, Lösungsvorschläge anzubieten, wenn sich "die" Gesellschaft vor Probleme gestellt sieht, die sie nicht bewusst herbeigeführt hat? Müssen "wir" uns verantwortlich fühlen, wenn sich etwa ein französischer Präsident mutmaßlich vom libyschen Staatschef im Wahlkampf bestechen ließ, daraufhin einen Krieg gegen das Land erstmals mit dem Ziel lostrat, dort einen Systemwechsel herbeizuführen, was auch gelang, der Mann an der Spitze war tot, das Land zerfiel in mehrere Teile - da war unser Westerwelle doch noch ein weitblickender Politiker! - und dann kamen die sogenannten nordafrikanischen Intensivtäter in unser Land? Ich weiß, alles sehr zugespitzt, das darf man auch nicht machen. Aber so einfach ist das "weiß Gott" nicht mit "unserer" Mitverantwortung, und "dem Westen" fühle ich mich auch nicht von vornherein als zugehörig, weil ich in der Sowjetunion einen Teil meiner Ausbildung absolviert habe.

    Und die DDR und die Sowjetunion haben in den 1970/80er Jahren die Armee und die Staatssicherheit und ein säkulares Bildungssystem in Syrien aufgebaut (ich war da nicht dabei), das dann von Islamisten größtenteils wieder beseitigt wurde - wer hat den ersten Dolch in Syrien hineingesteckt? Muss sich aber dafür ein Westdeutscher verantwortlich fühlen?


    Man sollte bitte einer Schriftstellerin nicht den Vorwurf machen, wenn ihr alles als sehr verworren und überaus düster vorkommt und sie keine "Lösungsvorschläge" für das anzubieten hat, was die halbtierisch-kriegerische Natur des Menschen laut Urteil der Krähe zugelassen hat.

  • Mina Wolf hört den Lehrerinnen zu, die sich am Nachbartisch darüber empören, dass Kinder schon in jungen Jahren mit sexuellen Orientierungen konfrontiert werden, die vielleicht nur einen geringen Prozentsatz betreffen oder gar im Promillebereich liegen, aber nicht die Hauptprobleme der Mehrheit der Heranwachsenden mit der Geschlechterfrage in den Schulen diskutiert würden. Auch hier greift die Autorin ein gesellschaftliches Problem auf, das vor allem im Südwesten des Landes heiß diskutiert wird.

    Aus meiner bisherigen Erfahrung heraus kommt mir das alles als wahnsinnig fremd vor (und Monika Maron auch). Ich frage mich, woher solche Bestrebungen des frühen Hineintragens von sexuellen Themen in die Schulen kommen. Ist es dann dieses Einsetzen für Minderheiten, denen tolerant begegnet werden soll, wie es in der von Zefira zitierten Lesermeinung anklingt?

    Wahrscheinlich bin ich dann aber doch selber sehr konservativ (DDR nicht "links", sondern unter Umständen ausgesprochen "konservativ"), wenn auch völlig frei von religiösen Einflüssen. Und wenn ich meine, dass es bei Kindern dieses Alters in erster Linie um die Herausbildung elementarer Fähigkeiten im Schreiben, Lesen und Rechnen gehen sollte, die ganz offenkundig in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen sind, was den Eintritt dieser Kinder in das Berufsleben kolossal erschwert. Wenn in den Elternhäusern nicht die elementaren alltäglichen Umgangsformen herrschen, sollten sie auch in den Schulen eingeübt werden, etliche Schüler würden wahrscheinlich das erste Mal etwas davon mitbekommen.

    Das hat übrigens mit 1968ern nichts zu tun, diese Jahreszahl stand für uns in erster Linie im Zusammenhang mit einem "demokratischen Sozialismus" in der Tschechoslowakei. Meine Befindlichkeit ist allerdings nur eine von vielen möglichen, das gebe ich zu. Monika Maron sollte man nicht vorwerfen können, dass sie auf den 220 Seiten nur ein Problem in den Vordergrund gerückt hätte.

  • Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, dass ich an dieser Diskussion teilnehme; ich habe ja das Buch (noch) gar nicht gelesen.

    Das Thema der Sexualerziehung in der Schule kam bei uns zu Hause immer mal wieder auf den Tisch, weil mein Mann bis letzten Sommer als Biolehrer am Gymnasium unterrichtet hat. Er hatte einen heftigen Widerwillen gegen dieses Thema, weil er zum Beispiel als Lehrer gehalten war, Schüler und Schülerinnen zum Coming-Out zu "ermutigen".

    Interessant fand ich auch zum Beispiel folgendes Erlebnis. Ich sah in der Fernsehzeitung die Ankündigung einer Serie aus dem Schulleben. Es hieß sinngemäß: "Schüler Cem hat Biggis Fahrrad geklaut und heimlich verkauft. Lehrer Müller überlegt, wie er Cem helfen kann."

    Mein Mann, dem ich diese Zeilen vorlas, fand das typisch für die Perspektivenverschiebung in den Schulen. Der Fokus richtet sich als erstes auf den "kleinkriminellen" Schüler; es wird überlegt, etwas für ihn zu tun. Viele Menschen empfinden diesen Blickwinkel spontan als, sagen wir mal, unangemessen.

  • Hallo Zefira,


    ich finde es sehr gut, dass Du Dich an der Diskussion beteiligst und hier die Erfahrungen Deiner Familie einbringst. Auch mein Sohn ist an einer Berliner Schule als Lehrer tätig und berichtet täglich von seinen Erfahrungen. Ich hätte es selbst im Februar noch nicht für möglich gehalten, dass mich der Roman von Monika Maron so beschäftigen würde, hatte ich doch zuvor ihr als Autorin gegenüber eine eher reservierte Haltung eingenommen.

    So sehr ich mich bei einem - zugegeben sehr selektiven Leseverhalten in Bezug auf Gegenwartsliteratur - vor allem auf Christa Wolf fixiert hatte, muss ich jetzt doch anerkennen, dass mich auch, wie @JH Newman, vor allem die sprachliche Gestaltung des Romans sehr einnimmt. In den zurückliegenden Monaten eher zurückhaltend, strömt es hier heraus wie ein Wasserfall.

    Viele Grüße

  • Ui ui, jetzt kommen wir schon gleich in die Diskussion verschiedener Detailthemen, die im Roman aufgegriffen werden. :-)


    Es ist interessant, Karamzin, dass Du Deine Erfahrung mit Einwohnerversammlungen in Deine Lektüre einbringst. Für mich ist der Hintergrund dieser Szene eher der einer Bürgerversammlung (so etwas gibt es bei uns im Dorf) oder einer Bürgerinitiative. Das ist im Westen so ein Kind der Siebziger und Achtziger, als sich wegen aller möglicher Dinge Bürgerinnen und Bürger zu freien Initiativen zusammenschließen, um irgendetwas zu erreichen oder auch zu verhindern. Besonders populär sind derzeit bei uns div. BIs gegen den Bau von immer neuen Windparks, die unsere waldreiche Mittelgebirgslandschaft sehr stark verändern. Diese Bürgerinitiativen dienen allerdings dazu, die Menschen im Erreichen eines gemeinsamen Ziels zu einen - bei Monika Maron hat die Versammlung den gegenteiligen Effekt.


    Monika Maron webt in ihren Roman eine ganze Reihe von Themen ein, die heute in der gesellschaftlichen Debatte emotional besetzt sind. Genderismus ist das eine Thema, die Frage von LGBTIQ usw. (die Abkürzung wird immer länger...) ist ein anderes, die Migrationsthematik ein beherrschendes.


    Übrigens ist mir aufgefallen, dass auch der Zugriff Mina Wolfs auf die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges diesen Zug der 'Emotionalisierung' hat, was mich als Historiker etwas irritierte. Sie bewegt sich lange durch die Literatur und die Quellen auf der Suche nach dem Aspekt des Krieges, der ihre Nervenbahnen zum Schwingen bringt - also eine emotionale Resonanz erzeugt, die sie dann als Sprungbrett für ihren Aufsatz nehmen kann. Diese Emotionalisierung ist ein Zug unserer Zeit und auch ein Problem einer immer stärker um sich greifenden Empörungskultur, die sich ja in dem Roman auch sehr schön niederschlägt. Die Sängerin ist eben nicht mehr ein Alltagsproblem der Straße, das man irgendwie lösen muss, sondern sie ist Ausdruck einer Gesellschaft, die sich eben nur um die falschen kümmert usw. Das lässt sich auf viele andere Themen übertragen. Dass in Kandel ein jugendlicher Afghane ein junges Mädchen umbringt, ist nicht mehr nur eine furchtbare Tat, sondern direktes Ergebnis einer verfehlten Flüchtlings- und Migrationspolitik der Angela Merkel.


    Alle einzelnen Themen, die in dem Roman benannt werden, entwicklen ihre Brisanz vor allem erst dann, wenn sie nicht mehr als Einzelproblem wahrgenommen werden, sondern zu einer ideologischen Kampfzone. Daran haben alle Seiten einen Anteil. Man merkt das im Kleinen in der Einwohnerversammlung, als bereits deutlich wird, dass die objektiv vorhandene Situation von unterschiedlichen Akteuren ganz unterschiedlich dargestellt wird. Das ist sehr abhängig von deren Lebensverhältnissen und von ihren weltanschaulichen Vorprägungen. Und das ist genau ein Grundproblem unserer Zeit heute, dass wir uns schon nicht mehr auf eine gemeinsame Beschreibung des Ist-Zustandes einigen können. Um nur zwei Pole dieser Gemengelage aufzuzeigen: die links-emanzipatorischen Bewegungen profilieren sich als 'Kümmerer', die eins ums andere Mal neue Minderheiten und schützenswerte Personengruppen identifizieren, die sie betütteln und durch immer neue 'awareness'-Kampagnen in die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit rücken können. Dabei entsteht dann der Eindruck, dass die Minderheiten (die durchaus zu schützen wären) zum Maßstab für die Allgemeinheit werden. Auf der anderen Seite gibt es die grummelnde und manchmal raunende Unzufriedenheit derer, die meinen, nicht mehr vorzukommen und insgesamt zu kurz zu kommen. "Jetzt sind aber endlich mal wieder wir dran!" ist eine ihrer Aussagen oder die des beleidigten "Wir dürfen ja gar nicht mehr sagen, was wir denken."


    Exkurs zum Dresdner Gespräch

    Es ist übrigens diese letztere Haltung, die mir auch im Gespräch zwischen Tellkamp und Grünbein so negativ aufgefallen ist. Ganz unabhängig von den sachlichen Standpunkten, die Tellkamp da vertreten hat und die m. E. wenig skandalös waren, weil eher gemäßigte AfD-Position oder möglicherweise CSU-nah, war es seine Haltung, die mich tiefgreifend befremdet hat. Er kam nicht aus seiner Opferrolle, aus dem latent-aggressiven Beleidigtsein heraus. Wenn das bei vielen Menschen verständlich ist, so erwarte ich von einem Intellektuellen wie Tellkamp, dass er seinen eigenen Standpunkt kritisch reflektieren kann. Grünbein hat ihm im Gespräch immer wieder Brücken gebaut, aus seiner Rolle einen Moment herauszutreten und auf eine allgemeinere Ebene zu wechseln. Tellkamp konnte oder wollte darauf nicht eingehen. Seine Haltung war die eines Menschen, der endlich einmal rauslassen will, was er ja sonst nicht sagen darf. Und das auf einem öffentlichen Podium mit vielen Zuhörern und zigtausend Menschen, die das per Stream bzw. Video später verfolgen würden. Allein die Umstände des Gespräches führten die Behauptung ad absurdum, hier werde eine Meinung 'unterdrückt'. Es gibt natürlich Widerspruch. Aber das ist die Natur des öffentlichen Diskurses und hat nichts mit einem 'Gesinnungskorridor' zu tun. Wenn die Erwartung ist, dass man für jede Äußerung nur Zustimmung auch in den sog. 'main stream'-Medien erhält, hat das auch nichts mit freier Rede zu tun, wie sie von vielen heute eingefordert wird.


    Aber wieder zurück zum Roman:

    Beide Ausprägungen findet man in dem Roman. Nur: wo findet man die Mitte? Gibt es in dieser Dialektik überhaupt noch so etwas wie eine gesellschaftliche Synthese?

  • Herzlichen Dank an Euch, dass ich hier eine so interessante Diskussion lesen darf. Um selbst mitzudiskutieren "reicht es bei mir nicht". Erstens habe ich das Buch nicht gelesen (werde es aber noch tun, hatte aber BISHER auch "irgendwie" Vorurteile gegen die Maron. Woher? "Ossifrau"?), zweitens waere ich auch nicht faehig, auf gleicher Hoehe mit Euch mitzuhalten (Newman ist wohl studierter Historiker?!). Umso dankbarer bin ich Euch.

    Nachtrag: ETWAS kann ich allerdings doch beitragen: Einer von Euch erwaehnt das traurige Ereignis in Kandel. Dort wurde eine 15 jaehige von einem Afghanen erstochen (Beziehungstat). Kandel liegt im Landkreis Germersheim in der Palz. Germersheim ist mein Wohnort. Ein Freund von mir und dessen Bruder (ein pensionierter katholischer Pfarrer aus dem Nachbarort) haben einen Bus organisiert fuer Gegendemonstranten gegen die Rechten. So haengt doch wieder alles mit allem zusammen....

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

    Einmal editiert, zuletzt von Volker ()

  • Ich habe noch nie etwas von M. Maron gelesen außer einem Interview kürzlich, wo es um die Migrationsproblematik ging.

    In der Büchersammlung meiner Eltern, die ich geerbt habe, ist ein Buch von ihr, "Die Überläuferin", ich werde es nachher mal heraussuchen.

    "Munin" möchte ich mir kaufen, aber für diesen Monat ist mein Buchbudget schon mehr als ausgereizt, es muss noch etwas warten.

  • Deine umfangreichen Betrachtungen bieten eine Menge Gesprächsstoff. Vielleich etwas zur "Emotionalisierung" von Geschichtsschreibung:

    Übrigens ist mir aufgefallen, dass auch der Zugriff Mina Wolfs auf die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges diesen Zug der 'Emotionalisierung' hat, was mich als Historiker etwas irritierte. Sie bewegt sich lange durch die Literatur und die Quellen auf der Suche nach dem Aspekt des Krieges, der ihre Nervenbahnen zum Schwingen bringt - also eine emotionale Resonanz erzeugt, die sie dann als Sprungbrett für ihren Aufsatz nehmen kann. Diese Emotionalisierung ist ein Zug unserer Zeit und auch ein Problem einer immer stärker um sich greifenden Empörungskultur, die sich ja in dem Roman auch sehr schön niederschlägt.

    So wie Mina Wolf an ihr Thema für die Jubiläumsschrift der westfälischen Kleinstadt herangeht, können wohl auch ausgebildete Historiker ihren Zugang suchen. Da gibt es diejenigen, die eine Ader für eine Art von Geschichtsdarstellung haben, die auch ein breites Lesepublikum anspricht, die "Erzähler". Andere schreiben eher vorwiegend für ihre Fachkollegen in einem Jargon, den kaum jemand außerhalb dieser Disziplin versteht.

    Unter den Geschichtsforschern gibt es etwa den Typ des "Sammlers", der sich in die Quellen eingräbt, jedoch Mühe hat, seine Ergebnisse allgemeinverständlich vorzustellen, den des "Philosophen", der in höheren Gefilden wolkiger Geschichtstheorien schwebt, für den die Quellen nur austauschbares Anschauungsmaterial sind.


    Gerade im Zusammenhang mit dem Thema der Mina Wolf, auch emotional nachvollziehen zu wollen, wie sich vor dem Dreißigjährigen Krieg etwas zusammenbraute, habe ich ein Beispiel, das mich regelrecht begeisterte. Mein Erfurter Landsmann Ulman Weiss (* 1949) ist sowohl "Erzähler" als auch unermüdlicher "Sammler" in einer Person, der auch einen Preis für seine schriftstellerischen Leistungen erhielt. Der Band ist 640 Seiten stark und nicht ganz billig.

    Es hat mich ergriffen, wie der Autor unmittelbar aus den Archivquellen schöpfte - gedruckte Titel gibt es nur ganz wenige, die Forschungsliteratur ist an den Fingern abzuzählen - und die Lebenswelten der Bauern, der Stadtbürger von Erfurt und Langensalza und jener Handwerker erfassen konnte, die von apokalyptischen Ängsten umgetrieben wurden und mit ihren phantastischen Deutungen der Zeitläufte schließlich in Konflikt mit der weltlichen und der geistlichen Gewalt gerieten. Sogar ein Kind wurde in den Kerker geworfen und kam dort um. Die Herrschenden wurden ebenfalls nervös, von Sorgen und Ängsten ergriffen, einhundert Jahre später war die Erinnerung an den Bauernkrieg in Thüringen von 1525 und Thomas Müntzer noch nicht gänzlich erloschen. Nach der "Thüringer Sintflut" von 1616 (neue "Eiszeit") folgten Krieg und Söldnerdurchzüge, die mit friedlichen Phasen abwechselten, Seuchen, Mißernten, Fürbitten in den Kirchen, Unruhen in der bikonfessionellen Stadt Erfurt, wo sich zuvor friedlich nebeneinander lebende Katholiken und Protestanten nun in die Haare gerieten ... das liest sich alles ungemein fesselnd und emotional anrührend, manches klingt, als wären wir in DDR oder heutiger Bundesrepublik Augenzeugen vom "Umgang mit Dissidenten" (habe ich Tellkamp gesagt oder wahrscheinlich nur gedacht, geträumt),

    so schreiben kann nicht jeder ...


    Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart 2007. 640 Seiten.

    http://www.steiner-verlag.de/titel/56211.html