Eine etwas lang geratene Vorrede, dann geht es bald los
Diesen langen persönlichen Vorspann kann überfliegen, wer will, und gleich zu dem nächsten Beitrag herunterrollen, er wird dann zu dem vordringen, was ich nach der Lektüre des neuen Romans von Monika Maron sagen will.
In den zurückliegenden sechs Jahren hatte ich mich in diesem Forum mit Vorliebe Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts zugewandt, in den Leserunden Wieland, Goethe, Immermann und Fontane. Hermann Kant und Christa Wolf waren kürzlich verstorbene Schriftsteller, die mit einer abgeschlossenen Periode, der DDR verbunden waren, in der ich mehrere Jahrzehnte bewusst erlebte. Wir verfolgten noch bis zum Höhepunkt der Perestrojka 1989 rege sowjetische Literatur, in der jetzt auf bisher unerhörte Weise Dinge gesagt werden durften, die auch uns angingen, dann kehrte nach derartiger Lektüre wieder Ruhe ein.
Nach der Herstellung der deutschen Einheit ließ jedoch mein Interesse an zeitgenössischer Belletristik spürbar nach. Viel Lektüre war nachzuholen, die Werke maßgeblicher Autoren Westeuropas wurden jetzt erstmals zugänglich, die vor 1989 nicht in den Handel gelangt waren und in den Bibliotheken nur mit besonderer Genehmigung gelesen werden konnten. Es war nicht nur mein Eindruck, sondern auch der vieler Freunde, dass etliche der jetzt tonangebenden und in den westlichen Journalen bevorzugt besprochenen jüngeren Autorinnen und Schriftsteller ihre individuellen Befindlichkeiten sehr wichtig nahmen, dass sie in einer Welt lebten, die uns sehr fremd war. So wurden etwa Beziehungsprobleme behandelt, die für meine Freunde und mich nicht als so interessant empfunden wurden. Wir kamen aus einer Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung der Frau in vielen Bereichen weiter vorangeschritten war als im Westen, wenn auch das Leben vieler Frauen sehr hart war. Aber es wurde auch nicht erleichtert, wenn sie zu Hunderttausenden in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden, die unbekannt war. Fremde Länder zu erleben, konnte nach 1990 nur, wer, wie die Romanfigur Friedrich, das nötige Geld dazu hatte. Manche haben die östlichen Bundesländer überhaupt nicht mehr verlassen, manche wurden zu Pendlern zwischen völlig verschiedenen Welten.
Unruhe und Misstrauen im Land
Die meisten hier im Klassikerforum werden mir sicher beipflichten, dass seit 2015 eine bisher nicht gekannte Unruhe weite Landstriche Deutschlands erfasst hat. Im Westen wird gefragt, was da jetzt seit einiger Zeit im Osten los ist, den man in den Jahren zuvor eventuell kaum noch wahrgenommen hat. Sicher, ich wundere mich manchmal, dass in manchen Gebieten von dieser Unruhe, diesem Missmut, noch kaum etwas wahrzunehmen ist. In einem Thüringer Ort mit 4000 Einwohnern, wo die sechzehn Migranten weitergezogen sein sollen, hörte ich eben auch dort die Rede, dass man nur noch eine gewisse Partei wähle, dass man „ja nichts mehr sagen könne“ . Was daraufhin allerdings sofort getan wird, nachdem man sich vergewissert hat, dass man „unter sich sei“.
Diese Situation erinnert etliche ganz verblüffend an die Grundstimmung des Jahres 1989. „Von oben“ war nichts mehr zu vernehmen, der Druck im Kessel nahm aber ständig zu. Tausende junger und gut ausgebildeter Menschen verließen in jeder Woche das Land. Das Gespenst einer „chinesischen Lösung“ lag über dem Land. Die Kommunikation zwischen „denen da oben“ und der Masse der Bevölkerung war abgebrochen. Dass diese Staatskrise am 9. November 1989 eine nicht vorhersehbare Wende nahm, überraschte dann allerdings jeden. Wie wird es jetzt weitergehen, im Jahr 2018? Oder ist das alles nur übertriebene Schwarzseherei, vor allem betrieben in den großstädtischen Ballungszentren?
Die Ich-Erzählerin im Roman heißt mit dem Familiennamen Wolf, wie die Schriftstellerin Christa Wolf, die 1929, zwölf Jahre vor Monika Maron (* 1941), geboren wurde. Das ist ganz gewiss Zufall (oder?). Denn wenn sich gleichermaßen Christa Wolf und Monika Maron als Warnerinnen, als „Kassandra“ verstanden, so verhielten sie sich doch gegenüber der DDR völlig unterschiedlich. Sicher, Monika Maron warnte 1981 in „Flugasche“ früh vor der ökologischen Katastrophe, als dieses Thema in der DDR nicht öffentlich angesprochen werden durfte. Sie war die Tochter des Innenministers der DDR von 1955 bis 1963, Karl Maron (1903-1975), der 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ aus Moskau zurückgekehrt war und die Grundlagen sowohl für eine Zivilverwaltung in Berlin als auch den Aufbau einer streng hierarchisch organisierten Kaderorganisation der Kommunistischen Partei legen half. Wenn er später, nach 1964, das „Institut für Meinungsforschung“ in der DDR leitete, dürfte er Einblicke in die Stimmungslage in der DDR erhalten haben, über die natürlich nichts öffentlich berichtet werden durfte.
Doch Monika Maron wandte sich schroff ab von der DDR und siedelte 1988 in die Bundesrepublik über. Die in dem Land verbrachte Jugend- und Erwachsenenzeit wird in ihrem neuen Roman immer wieder spürbar. Christa Wolf, mit der sie sich sicher nicht viel zu sagen hatte, blieb hingegen bis zum Schluss ihrem Land verbunden. Was hätte sie gesagt, wenn sie die Zeit nach 2015 noch erlebt hätte? Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich hätte sie, so meine Vermutung, nichts Zusammenhängendes mehr aufschreiben können, so anders ist diese scharf polarisierende Welt als die, die sie gekannt hatte. Im 20. Jahrhundert gab es auch eine polarisierte Welt. Doch funktionierte alles anders.
Fortsetzung folgt.