Gustav Freytag

  • Ich habe da ein "Verdikt" Marcel Reich-Ranickis im Ohr, das sinngemäß lautet: Freytag ist zurecht ein Fall ausschließlich für die Germanistik geworden. Was wohl heißt: Eine breite Leserschaft hat dieser Autor nicht verdient. Aber es wird noch besser: Ich erinnere mich, dass MRR dieses Urteil auch auf Wilhelm Raabe ausdehnte. Ob sich diese Ablehnung auch auf angeblichen oder tatsächlichen Antisemitismus bezieht, ist mir entfallen. Wäre ein solcher Vorwurf überhaupt berechtigt? Ich kenne mich mit W. Raabe nicht aus.


    Raabes Roman "Der Hungerpastor" ist gewiss antisemitisch. Auch dort werden zwei Charaktäre in ihrer Entwicklung gegenübergestellt. Auf der einen Seite der verschlagene Judenspross, dessen Vater jeden Heller hortet um seinem Jungen aller Vorteile zu verschaffen, auf der anderen der verarmte aber strebsame deutsche Bursche, der sich durch eigenes Mühen und Redlichkeit seinen Platz erarbeitet.
    Beim grünen Heinrich von Keller dagegen findet sich in der Nebenhandlung einiges, das um Verständnis für die problematischen Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung wirbt.


  • Raabes Roman "Der Hungerpastor" ist gewiss antisemitisch.


    Aha, vielen Dank! Dass die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts einiges Antisemitische hervorgebracht hat, war mir nicht bewusst, da ich weder Raabe noch Freytag gelesen habe. Wie steht es eigentlich mit Fontane? Da kann ich mich beim besten Willen an nichts dergleichen erinnern. Oder gibt es auch in seinem Werk die eine oder andere "Sünde"?


    LG


    Tom


  • Also ich fand alle drei Romane von Freytag lesenswert. Am besten aber haben mit "Die Ahnen" gefallen.


    Ich habe bislang nur wg. Arno Schmidt die "verlorene Handschrift" gelesen. Und diese Apotheose des dt. Studienrats fand ich eher, äh, sagenwirmal: engstirnig, spießig und provinziell. Kurz: Grauenhaft. Und würde man mich nicht darauf hinweisen, würde ich es immer noch nicht bemerken, dass der Plot von Arno Schmidt "Das steinerne Herz" Elemente der "Verlorenen Handschrift" aufnimmt (was nicht viel mehr bedeutet als genau das: Schmidt bedient sich bei Freytag. Der sich vermutlich woanders bedient hat. Man versteht Schmidt danach kein Deut besser oder schlechter, es ist einfach wurscht). -- Bei den Ahnen bin ich über den ersten Satz nicht hinausgekommen: "Auf der Berghöhe stand an dem Verhau, das die Wäder der Tühringe von den Katten schied, der junge Wächter und hütete den steilen Pfad, welcher aus den Gründen der Katten nach der Höhle führte." Wenn da nicht darüber stünde, dass das "Im Jahr 357" spielen soll - man käme nicht drauf. Das ist einfach: Kitsch.

  • So, ich habe den Freytag beendet. Zum Antisemitismus kann ich nun hinzufügen, dass er verebbt mit den Seiten. Es versöhnt zudem aus heutiger Sicht, dass der Sohn des jüdischen Kaufmanns auch aus moralischen Bedenken stirbt. Qualitativ ist das Werk sicherlich nicht im oberen Level zu finden, salopp gesagt, ich würde es mit Austen vergleichen im Gegensatz zu den Bronte-Geschwistern, sprich mehr auf Unterhaltung angelegt. Aber insgesamt bin ich nicht enttäuscht worden, die Lektüre hat Spaß gemacht, auch wenn ich jetzt keinen Freytag mehr lesen muss (genauso wie ich keine Austen Bücher mehr lesen möchte).


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • So, ich habe den Freytag beendet. Zum Antisemitismus kann ich nun hinzufügen, dass er verebbt mit den Seiten. Es versöhnt zudem aus heutiger Sicht, dass der Sohn des jüdischen Kaufmanns auch aus moralischen Bedenken stirbt. Qualitativ ist das Werk sicherlich nicht im oberen Level zu finden, salopp gesagt, ich würde es mit Austen vergleichen im Gegensatz zu den Bronte-Geschwistern, sprich mehr auf Unterhaltung angelegt. Aber insgesamt bin ich nicht enttäuscht worden, die Lektüre hat Spaß gemacht, auch wenn ich jetzt keinen Freytag mehr lesen muss (genauso wie ich keine Austen Bücher mehr lesen möchte).


    Folgt man dem Wikipedia Artikel über Freytag, dann kann man ihn nicht Antisemit nennen. Ich bin zwar misstrauig, was Wikipedia betrifft, aber vielleicht kann jemand aus dem Forum, der Zugriff zu einer ausführlichen Literaturgeschichte, bzw. einem Literaturlexikon hat, zu dem Thema noch etwas zur Vertiefung beitragen.
    Bei einem Roman, in dem schließlich Individuen geschildert werden, lässt es sich nicht immer feststellen, ob Klischees aufgeriffen wurden oder ob die Vorlage einer Figur aus einem persönlichen Eindruck des Autors entstanden ist. Es ist natürlich kennzeichnend, wenn bei Freytag und bei Raabe das Bild des Juden so gleichsinnig negativ geschildert ist. Wie ich aus "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff und einem Märchen der Brüder Grimm entnehme war das Judenbild im 19. Jahrhundert schon verbreitet nahe am biologischen Zerrbild angesiedelt. Die Romantik hat da wohl schon ganze Arbeit geleistet.
    Ich bin gesapnnt, wie ich "Soll und Haben" unter diesem Gesichtspunkt einschätzen werde.
    Danke zunächst für deine Einschätzung, die mich nicht abhält den Roman in einige Zeit zu beginnen.


  • Aber insgesamt bin ich nicht enttäuscht worden, die Lektüre hat Spaß gemacht, auch wenn ich jetzt keinen Freytag mehr lesen muss (genauso wie ich keine Austen Bücher mehr lesen möchte).


    LG
    Anita



    Hallo Anita,


    hat jetzt nichts mit Gustav Freytag zu tun, aber ich erinnere mich gerade an einen Thread den wir vor Jahren hatten:


    Klassiker mit 20 und mit 40:
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,630.15.html


    Jane Austen wurde darin noch nicht erwähnt ;-)


    Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • "Wenn man den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki mal so richtig ärgern wollte, musste man ihn auf seine Privatadresse in Frankfurt ansprechen. Er wohnte in der Gustav-Freytag-Straße Nr. 6. Auf die Frage: „War denn im Thomas-Mann-Weg nichts mehr frei?“, reagierte er zuverlässig mit einem Wutausbruch."


    Quelle.


    :zwinker:

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Der Romanzyklus "Die Ahnen" von Gustav Freytag gehört zu den sogenannten Professorenromanen der Mitte des 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel auch "Ein Kampf um Rom" von Felix Dahn. Hier will Freytag am Beispiel einer thüringischen Familie 1500 Jahre deutsche Geschichte vermitteln, und zwar nicht aus der Sicht auf die Reichen und Mächtigen, sondern indem er die Geschicke von Einzelmenschen darstellt, die wichtige historische Bruchstellen durchleben und sich darin orientieren müssen.


    Die ersten beiden Bände beschäftigen sich mit dem Geschick einer thüringischen Adelsfamilie durch die Jahrhunderte.

    Im ersten Band "Ingo" geht es um einen vandalischen Königssohn, den es nach Kämpfen mit anderen Germanenstämmen gegen die Römer ins Thüringische verschlägt, wo er sich ein neues kleines Königtum gründen kann. Das Ganze spielt, kurz bevor die sogenannten Völkerwanderung Ende des vierten Jahrhunderts beginnt, der Hunneneinfall steht noch bevor. Aber die Bedingungen, unter denen die Germanen in dieser Zeit lebten, erfasst Freytag den historischen Quellen folgend recht genau und beschreibt am Beispiel Ingos die Unbehaustheit jener Zeit und das Streben danach, sich irgendwo neu zu verankern.


    Der zweite Band "Ingraban" spielt im 8. Jahrhundert. Ingraban, ein Nachfahre Ingos, ist ein schlachtenerprobter Krieger, der im Thüringischen den Rabenhof besitzt und dort Kriegsrosse züchtet, wenn er nicht auf Heerfahrt ist. Er, der treu dem alten Glauben der Germanen anhängt, wird als Begleiter für den angelsächsischen Winfried angeworben, als Bischof Bonifatius genannt, eine historische Person, die später heiliggesprochen wurde und viel für die Verbreitung des Christentums unter den germanischen Stämmen geleistet hat. Obwohl er dessen Glauben ablehnt und ihn sogar als Feind empfindet, befreit Ingraban in seinem Auftrag später verschleppte Frauen und Kinder aus sorbischer Gefangenschaft, unter denen sich auch seine heimliche Liebe Walburg befindet. Später bekehrt er sich auch zum Christentum und findet zusammen mit Bonifatius bei einer Bekehrungsfahrt zu den heidnischen Friesen den Märtyrertod. Hier steht der Umbruch vom Heiden- zum Christentum im Mittelpunkt und wird in den inneren Konflikten Ingrabans lebendig.


    Freytags Deutsch in diesen beiden Bänden ist sehr altertümelnd und zeitgebunden äußerst patriarchalisch orientiert: Die Menschen leben auf einer "Männererde" und Frauen haben eine deutlich untergeordnete Stellung, welches Letztere ja nun aber leider auch so war und wahrscheinlich realistischer ist als die ganzen unwahrscheinlich emanzipierten Frauen in den historischen Romanen aus unserer Zeit. Dennoch nervt der Ton manchmal, wenn von den Männern stets als Helden gesprochen wird und die Kinder der Germanen stets blondgelockt daherkommen. Aber Freytag war ein Liberaler, der am Vormärz und der Revolution von 1848 viel Anteil nahm. Ich fühlte mich ganz gut unterhalten und habe einiges über die dargestellten Epochen dazu gelernt, weil mich solche Lektüren auch immer zu weiteren Recherchen anhalten.


    Heutige historische Romane der Massenware sind deutlich schwächer.

  • Wie liest sich das Buch denn im Vergleich zum "Kampf um Rom"? Davon war ich als Teenager nämlich mal total begeistert.
    (Später habe ich in einem anderen Forum noch ein, zwei andere Frauen meines Alters kennen gelernt, die als Jugendliche für den finsteren Teja geschwärmt hatten ...)

  • Den "Kampf um Rom" fand ich auch sehr spannend, aber im Vergleich zu Freytag doch noch ein bisschen tümelnder D.h. man muss den "Ahnen" wirklich zusprechen, dass Freytag viele Seiten zu ihrem Recht kommen lässt. Natürlich tümelt er auch, aber es wirkt nicht so, als seien die Germanen die besseren Menschen, sondern auch bei ihnen gibt es solche und solche: Die slawischen Sorben im zweiten Band kommen zwar schlecht weg, aber das liegt auch an der Erzählperspektive.

    Was mich an den "Ahnen" auch reizt, ist, dass die geschichtlichen Momente zumindest in den ersten beiden Bänden jeweils so ein bisschen jenseits des Mainstreams historisch beliebter Zeiten liegen: Im "Ingo" geht es um die zwei Jahrzehnte vor dem Hunneneinfall und dem dadurch ausgelösten Start der sogenannten "Völkerwanderung"; Im "Ingraban" steht nicht die beliebte Zeit Karls des Großen, sondern die seines Großvaters Karl Martell, des Hausmeiers, im Vordergrund und eben die fortgesetzte Christianisierung der mitteldeutschen Stämme. Da habe ich einiges dazu gelernt.

  • Das Gute ist, dass man die Romane unabhängig voneinander lesen kann. Die ersten beiden umfassen in meiner Ausgabe jeweils nur ca. 160 Seiten, die nächsten beiden dann zwischen zwei- und dreihundert Seiten. Da es sich um völlig unterschiedliche Epochen handelt und die Vorfahren schon so lange tot sind, dass sie im nächsten Band kaum eine Rolle mehr spielen, kann man sich Zeit mit dem Lesen lassen. Ich jedenfalls habe nicht vor, alles an einem Stück zu lesen. Da ginge mir dieser altertümliche Stil dann doch zu sehr auf den Wecker.

  • Zitat von Finsbury

    Ach wie schön, dass du auch in die "Ahnen" eingestiegen bist, JHNewman!

    Das regionale Kleinkönigtum in Form einer Herrschaft mit einigen festen Kriegern (die Freytag ja lustigerweise Knaben nennt, was natürlich aufs Hochmittelalter verweist) und ansonsten bäuerlichen Untertanen ist aber wohl typisch in der Völkerwanderungszeit - ich lese gerade das GEO-Epoche-Heft zu diesem Thema. Auch die Holzhäuser auf dem Anwesen mit der Halle sind wohl eine typische Bauweise dieser Zeit.

    Dagegen hast du mit den Dialekten wohl Recht. Obwohl: Nach den neueren Forschungen ist die Völkerwanderung gar keine von Völkern gewesen, sondern von losen Verbänden aus bestimmten Gegenden, denen sich auf ihren Wanderungen durch Europa immer mehr unbehauste, vertriebene oder ansonsten unzufriedene Menschen anschlossen. Da muss sich wohl so eine Art Pidgin-Germanisch entwickelt haben, vermutlich mit lateinischen Versatzstücken, die zur rudimentären Verständigung diente. Abgesehen davon lagen die Vandalen, die ursprünglich zwischen Oder und Weichsel siedelten, gar nicht so weit von den Thüringen, die eventuell mit den gotischen Terwingen, die ursprünglich aus einer ähnlichen Gegend wie die Vandalen kamen, zusammenhängen. Jedenfalls wanderten die Germanen, welcher Stamm auch immer, aus dem Nordosten im 2.u.3. Jh. unserer Zeitrechnung in das mittelelbische Gebiet ein.


    Vielleicht kann sandhofer die beiden letzten Beiträge ja abtrennen und dem Freytag-Thread anfügen. Dort können wir dann weiterdiskutieren.

    Gestern habe ich den ersten Band (Ingo) beendet.

    Die Sprache ist etwas altertümelnd und verschwurbelt. Aber die historischen Entwicklungen der Völkerwanderungszeit hat Freytag m. E. schon recht gut eingefangen. Die Dynamik der Herrschaftsbildung, auch das fluide der einzelnen 'Stämme' kommt schon gut raus. Und die Götterdämmerungsähnliche Schlussszene hat natürlich was...


    Sehr erheiternd fand ich auch das Gespräch über die Römer und diese komische Religion, die sich jüngst bei ihnen ausgebreitet hat.


    Ich bin schon gespannt auf die Entwicklung im nächsten Band, dann springen wir ja gleich ins 8. Jahrhundert.

  • Den "Ingraban" fand ich womöglich noch eine Spur interessanter. Diese Auseinandersetzung mit dem neuen Glauben wird in der Person des Ingraban und seiner geliebten Walburg sowie dem Bischof und dessen Neffen in unterschiedlichen Facetten dargestellt.

    Der Band nimmt nur lose auf den "Ingo" Bezug, die Lage der Burg und die Abstammung werden erwähnt, sind aber nicht handlungstragend.

    Wenn ich mit dem Flaubert fertig bin, lese ich den dritten Band "Das Nest der Zaunkönige", da wird wohl das Germanische in den Hintergrund rücken, da dieser Band im Mittelalter spielt.

  • In einem Roman spielen ja Kunstfiguren, und Freytag hat seinen Juden mit so ziemlich allen einschlägigen Stereotypen ausgestattet. Also ist der Roman antisemitisch.

    Vor ewigen Jahren habe ich ein Mal ein Interview mit einer israelischen Literaturwissenschaftlerin gehört (die früher eine deutsche Literaturwissenschaftlerin war), in dem sie sagte, dass alle deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts, einschließlich Heine und nur mit einer Ausnahme, Antisemiten waren. Die Ausnahme ist Gottfried Keller und wer den Grünen Heinrich gelesen hat, kann bestätigen, dass Keller nichts mit Diskriminierung verbindet.