Was lest ihr gerade?

  • Da hier von Dostoevskij das Thema Altersproblematik aufgeworfen wurde, fällt mir eben noch ein, dass ich einen wichtigen Tipp loswerden muss: dieses wunderbare Buch von Milena Michiko Flašar "Oben Erde, unten Himmel".


    Der Roman spielt im urbanen Milieu in Japan. Die Ich-Erzählerin Suzu ist 25 und ein "Freeter", so nennt man junge Leute, die sich von einem Anlernjob zum nächsten hangeln. Suzu ist jedoch das Gegenteil einer Betriebsnudel, eher zurückhaltend und gern allein (wie sie schon im ersten Satz erklärt). Ihren Job in der Gastro kann sie deshalb nicht behalten und wechselt in einen sehr ungewöhnlichen Betrieb: ein Reinigungsunternehmen für Leichenfundorte. Womit nicht Tatorte gemeint sind, sondern Wohnungen, in denen jemand - meist ein alter Mensch - vereinsamt und unbemerkt verstorben ist.

    Suzu hat einen wachen Blick für die Lebensumstände anderer, großes Einfühlungsvermögen und viel Menschenverstand. Ihr scharfer Geist und ihre Beobachtungsgabe machen sie zu einer wunderbaren Erzählerin. Das Buch hat mich total bezaubert. Es hat einen angenehm leichten, poetischen und auch humorvollen Erzählton, obwohl auf jeder Seite durchscheint, dass es darin um die letzten Dinge geht - Alter und Tod, Einsamkeit, Einfühlung und Verantwortung für Mitmenschen. In unserer Leserunde mit anspruchsvollen Viellesern waren alle begeistert. Ganz große Leseempfehlung!

  • Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman


    Definitiv kein Pillow-Book. Mit Kalkül ist hier nicht so etwas wie eine psychologisierende Einschätzungsgeschichte gemeint, sondern genau ein mathematisches Kalkül, um die Lebensgeschichte des deutschen Mathematikers Gerhard Gentzen herum geschrieben, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsvision, mit mancherorts prominenter Personenbesetzung - Frank Schirrmacher kommt darin vor, Jeff Bezos ("Geldheini") und unter Weiteren auch Diethmar Dath ("Unfertige Idee") . Dath ist mindestens so mathematikaffin, wie Enzensberger es war, im Gegensatz zu diesem macht er daraus aber nicht nur ein intellektuelles Spiel (oder ein Stilisierungselement wie gelegentlich bei A. Schmidt), sondern wirft die Frage auf, was mit Mitteln des mathematisch-logischen Kalküls und Wahrscheinlichkeitsabschätzungen über unsere Welt herausgefunden oder prognostiziert werden kann, und von da aus zur Frage von Wahrheitswahrnehmungen, der Unterscheidung von wahren und unwahren Sätzen - und grundsätzlich zu der Frage, wieso davon niemand an gesellschaftlich relevanten Stellen davon Gebrauch zu machen scheint. Das ist ziemlich hartes Material, gelegentlich mache ich mir Skizzen ähnlich wie Flussdiagramme. Noch komme ich einigermaßen mit.

    Einmal editiert, zuletzt von Diaz Grey () aus folgendem Grund: Typo

  • Wie ist Braddon denn so? Ich habe mal eine "Literaturgeschichte des Krimis" gelesen, in der sie erwähnt wurde - wenn ich mich richtig erinnere, gehört sie ins Genre Schauerromantik?

    Nun, wie sie insgesamt so ist, weiß ich nicht. Denn dies ist mein erster Roman von ihr, von, laut englischsprachiger Wikipedia, mehr als 80.

    Ich wäre interessiert, eine ihrer Gespenstergeschichten zu lesen.


    Dieser gehört in das Genre "Ein Criminal-Roman". Wie es früher bei dtv hieß.


    Die Übersetzung finde ich unglaublich komisch.

    Der ehrwürdige Londoner Temple wird ganz korrekt als Tempel eingedeutscht, und die im Titel genannte, sehr undurchsichtige Lady geht für schönbehaart (fair-haired) durch. Eisenbahndecke (für railway rug = Reisedecke) ist auch gut.


    Für Fans dieser Art Literatur lesenswert, meine ich. Sagen wir, wie ein-nicht-so-gut-wie-von-Arno Schmidt übersetzter Wilkie Collins.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Mir ging es ganz ähnlich mit Schmidts Übersetzung von Wilkie Collins, "Die Frau in Weiß". Unvergessen ist mir (nur ein Beispiel unter Hunderten) der Halbsatz, nachdem der Erzähler eine Tasse kaputt geschlagen hatte - seine Gesprächspartnerin stand "trübe trauernd über den Trümmern der Teetasse". Herrlich! Collins ist in behaglicher Erzähler, aber kein glänzender Stilist, und das Besondere dieses Buches ist Schmidt zu verdanken, nicht Collins.

    Gestern mit Freundin im öffentlichen Bücherschrank geräubert.

    Bester Fund *freu* :


    Die Frau in Weiß, Übersetzung Arno Schmidt, Goverts, 5. Auflage 1965. Gut erhalten, fadengeheftet, mit Schutzumschlag.

    Foto übrigens, oder Filmstill, wie das vielleicht heißt, nehme ich an, aus dem Mehrteiler

    https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Frau_in_Wei%C3%9F_(1971)


    Ich hatte "Woman in White" und "Moonstone" auf Englisch gelesen, vor vielleicht 25 Jahren.

    Für die Schmidt-Übersetzung bin ich demnächst mal fällig.

    Wen ich raus bin aus meinen Henry-James-Exegesen.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Das dürfte genau die Ausgabe sein, die ich auch habe. Und auch die ist aus dem Offenen Schrank.

  • Das Sachbuch von RIchard David Precht und Harald Welzer: Die vierte Gewalt


    habe ich gerade zu Ende gelesen. Eine pointierte und gut begründete Erklärung für das Unbehagen, das viele von uns und in unserer Gesellschaft gegenüber dem informativen Journalismus, sei es in den Printmedien, sei es im Funk und Fernsehen, selbst im öffentlich-rechtlichen, überfällt. Hier geht es nicht um Fake News

    und alternative Fakten, sondern darum, dass sich der Journalismus aus sozialen und ökonomischen Gründen immer mehr an den Themen und der Darstellungsweise der Direktmedien orientiert, dadurch an Macht gegenüber der Politik gewinnt, aber seine eigentliche Funktion der Aufklärung und Grundlagengebung für eine breite und diversifizierte öffentliche Diskussion immer mehr vernachlässigt. Selten polemisch, immer faktenorientiert und sauber argumentierend stellen die Autoren diese Entwicklung in vielen Facetten und an den zentralen Themen der letzten Jahre dar.

    Sehr lesenswert!

  • Das Sachbuch von RIchard David Precht und Harald Welzer: Die vierte Gewalt


    habe ich gerade zu Ende gelesen. Eine pointierte und gut begründete Erklärung für das Unbehagen, das viele von uns und in unserer Gesellschaft gegenüber dem informativen Journalismus, sei es in den Printmedien, sei es im Funk und Fernsehen, selbst im öffentlich-rechtlichen, überfällt. Hier geht es nicht um Fake News

    und alternative Fakten, sondern darum, dass sich der Journalismus aus sozialen und ökonomischen Gründen immer mehr an den Themen und der Darstellungsweise der Direktmedien orientiert, dadurch an Macht gegenüber der Politik gewinnt, aber seine eigentliche Funktion der Aufklärung und Grundlagengebung für eine breite und diversifizierte öffentliche Diskussion immer mehr vernachlässigt. Selten polemisch, immer faktenorientiert und sauber argumentierend stellen die Autoren diese Entwicklung in vielen Facetten und an den zentralen Themen der letzten Jahre dar.

    Sehr lesenswert!

    Halten zu Gnaden, aber diese Einschätzung teile ich nicht. Lesenswert, das vielleicht, aber nicht als Erkenntnisquelle über den Gegenstand, vielmehr für die Machart.


    Es ist ein Pamphlet, und das wird von einem der Mitautoren auf einer Podiumsdiskussion auch frank und frei eingeräumt: Harald Welzer meinte, das Buch beanspruche gar nicht, dass alle Behauptungen darin zuträfen, es beanspruche nur, zu einem so großen Anteil richtig zu sein, wie die Bahn pünktlich ist. Das wären dann etwa 80 %. Saubere Recherche stelle ich mir anders vor.


    Richard David Precht meinte auf den Vorhalt, - zweifelhafte - Zahlen aus der Luft gegriffen zu haben, ganz lässig: das Buch sei ja keine empirische Studie. Das ist genau der dreifache Sarazin ohne Netz, wie wir ihn kennen und durchaus nicht schätzen.


    A propos Empirie: Precht und Welzer hatten versprochen, dass eine genauere Studie im Dezember 2022 folgen solle - aha, und es wäre nicht möglich gewesen, den Dezember abzuwarten, das Buch musste unbedingt schon im September auf den Markt? - Ja, musste es, sonst wäre die Buchmesse schon gelaufen gewesen. Schließlich hätte die Studie die Behauptungen im Buch womöglich gar nicht stützen können.


    Darüber muss man auch nicht mehr mutmaßen, die Studie liegt vor. Die in die Debatte geworfenen Zahlen haben sich wohl nicht bestätigen lassen, aber als Narrativ stehen sie erst einmal in der öffentlichen Wahrnehmung, wie gesagt: ein klassischer Sarrazin, der machte das genau so. Das Fazit: gut, dass mal drüber geredet wird - aber das geschieht sowieso schon ständig. In der Mainstream-Medienlandschaft.

  • Hast du das Buch denn gelesen, Diaz Grey?
    Nun, ich schaue keine Talkshows, deshalb habe ich das über das Pamphlet auch nicht gehört. Der Anmerkungsteil schien mir genau zu sein, aber ich habe keine Gelegenheit, solche Daten nachzuprüfen. Sollten einige Daten falsch sein (welche, in welchem Zusammenhang?) ändert das aber nichts an der Gesamtaussage, die mir recht schlüssig scheint, weil sie sich mit Unbehagen meinerseits und vieler anderer an der Berichterstattung deckt.

    Dass ein anderer Ton in den Medien herrscht wie noch vor zehn, fünfzehn Jahren, sollte doch auffallen: Persönliches überlagert Sachliches, Skandalisierung spielt eine große Rolle, und die ruhige Diskussion verschiedener Sichtweisen wird oft überlagert von emotionalen Angriffen. Das Letztere gab es sicherlich auch schon im Internationalen Frühschoppen vor tausend Jahren, aber dass dies in fast allen Formen auch besonders der gesprochenen Berichterstattung, ob im Radio oder Fernsehen, stattfindet, ist doch auffällig. Wird ein/e Politiker/in oder eine andere Person im Scheinwerfer der Öffentlichkeit befragt, die sich zu einer Sache äußert, wird sie oft in die Ecke gedrängt, um irgendwelche Fehleinschätzungen eigener oder beteiligter Personen einzugestehen und / oder zu beurteilen.
    Wie wir alle wissen, ist Demokratie eine langwierige und oft auch nervende Form, durch Diskussion zum gesellschaftlichen Konsens zu kommen, und hier zu mehr Versachlichung und dem Ernstnehmen der Argumente des Meinungsgegners zu kommen, würde der allgemeinen Politikverdrossenheit und dem schwindenden Vertrauen in die klassischen Medien sicher abhelfen.
    Wobei ich finde, dass sich zumindest in der Hintergrundberichterstattung über die Breite der Gesichtspunkte in letzter Zeit auch einiges tut.

    Insofern finde ich, dass das Buch sehr wohl als Erkenntnisquelle über den Gegenstand nutzt, und wenn Precht /Welzer tatsächlich unsauber belegt haben, stehen diese Belege nicht für Behauptungen von menschenverachtender und demokratiefeindlicher Art, wie sie von Sarrazin vorgetragen werden, sondern wenden sich gerade gegen solche.

  • Nach einigen aktuellen Büchern habe ich ein altes neues gefunden.


    Vladimir Jabotinksy - Die Fünf


    Es geht um eine jüdische Familie zum Ende des Zarenreiches im kosmopolitischen Odessa. Das Buch ist in den 1930ern erschienen und es hat 70 Jahre gedauert, bis es ins Deutsche übersetzt wurde.


    Ich bin noch relativ am Anfang aber bin bereits in der multikulturellen Welt Odessas gefangen.


    Hat von euch schon jemand das Buch gelesen?

  • Ich habe es am sog. SUB, aber es wird wohl noch dauern, bis ich dazu komme, habe gerade noch Leserundenverpflichtungen.
    Die Buddenbrooks am Schwarzen Meer, das klingt verlockend!

  • Zu der Diskussion um Precht:


    Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern das Bohei darum und die Position der Autoren beispielsweise zum Krieg in der Ukraine, insbesondere den Waffenlieferungen, eher am Rande mitbekommen.


    Ich halte es, milde gesagt, für äußerst problematisch, dass bei eindeutigen Angelegenheiten wie der Zuschreibung der Kriegsverantwortung immer wieder die Narrative der russischen Propaganda aufgegriffen und der Realität des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegenübergestellt werden. Diese Erzählungen wechseln am laufenden Band, angefangen von der Befreiung der Nazi-Ukraine bis zuletzt zu folgender, wörtlich zitierten, Aussage Lawrows beim G20 Gipfel in Indien: „The war which we are trying to stop which was launched against us using the Ukraine...[der Satz wird von Gelächter unterbrochen]“


    Im Rückblick steht außer Frage, dass Russland (hier wahrscheinlich ein kleiner Kreis um Putin) die schwache Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim eher in seiner Haltung bestärkt hat. Es geht auch um Aussagen, die unsere östlichen Nachbarn und das Baltikum schon lange mit großer Sorge betrachteten, der Westen jedoch praktisch ignorierte.


    Die von Dir, finsbury, beschriebenen Tendenzen und Beobachtungen gibt es sicherlich, dazu reicht ein Blick auf die Skandale in den Öffentlich Rechtlichen. Dass persönliche Ansichten einzelner Journalisten sich zuweilen in den Vordergrund drängen und die Arbeit manchmal den Anstrich einer bestimmten politischen Farbe auszustrahlen scheint, ist so und wird auch in Zukunft so diskutiert werden, wie die Unparteilichkeit von Schiedsrichtern im Fußball.


    Ich sehe Menschen wie Precht und Welzer eher kritisch, denn besonders Erstgenannter ist ein Rädchen des Getriebes, das er kritisiert. Kaum ein Thema, zu dem er sich nicht medial äußert. Was wäre Precht ohne die bekannten Fernsehformate? Ich bezweifle, dass er die hohen Maßstäbe, an denen er andere mißt, immer bei sich selbst anlegt. Die angesprochene Studie scheint dem recht zu geben.


    https://www.otto-brenner-stift…s-a/show/news-c/NewsItem/

    https://uebermedien.de/79973/l…och-regierungsfreundlich/


    Überhaupt habe ich den Eindruck, dass in den bekannten Talkrunden häufig dieselben Leute sitzen und sich in ihrer Argumentation einem Karussell gleich im Kreis drehen.


    ***

    Jetzt schlage ich mal einen Bogen von diesem Feld zu der zurückliegenden Lektüre, weil ich da Verknüpfungen sehe:


    Nach meiner Lektüre von Prus’ „Die Puppe“ bin ich thematisch sozusagen in den Kaninchenbau gestürzt und habe mich da ein wenig verlaufen (und stecke immer noch fest). Dabei ist mein Feuer für die osteuropäische Geschichte und Literatur, das zuletzt etwas eingeschlafen war, wieder neu entfacht. Aus der Flut von interessanten Zeitgenossen und historischen Ereignissen, denen ich da eher zufällig begegnet bin, habe ich mir einen Stapel an Romanen und anderen Publikationen zusammengestellt, der mich wohl die nächste Zeit beschäftigen wird.


    „Die Puppe“ beginnt im Jahre 1878, einer Zeit, in der Polen von der Landkarte verschwunden war, aufgeteilt unter Preußen, Österreich und Russland. Auf verschlungenen Wegen bin ich auf eine erst kürzlich veröffentlichte Publikation zur deutsch-polnischen Kommunikation mit dem Titel „Kriegerische Nachbarschaft? Wie der Krieg den deutsch-polnischen Dialog prägt“ gestoßen, herausgegeben vom Deutschen Polen Institut (DPI). Unter anderem wird der „Gebrauch einer kriegerischen Sprache“ in den deutsch-polnischen Beziehungen „auf verschiedenen Ebenen analysiert“. Zum Inhalt heißt es:


    Die folgenden Ausführungen sind von einer Hauptthese geleitet: Polen befindet sich – auf der Ebene der Emotionen und der Kommunikation – im Krieg, Deutschland nicht. Und, daraus folgend: Polen will den Krieg gewinnen, Deutschland den Frieden nicht verlieren. Aus dieser Konstellation heraus, so unser Argument, lassen sich viele der derzeitigen Verwerfungen in den deutsch-polnischen Beziehungen besser einordnen und werden verständlicher.“


    https://www.deutsches-polen-in…erische-Nachbarschaft.pdf


    Mit Bezug auf den 2. Weltkrieg seien Polen und Deutschland „weit von einer gemeinsamen Erinnerungskultur entfernt“. „Nie wieder Krieg“ hatte in Deutschland und Polen „völlig unterschiedliche politische Implikationen.“


    Nie wieder Krieg“ bedeutet in Deutschland so viel wie: „Nie wieder darf von deutschem Boden Krieg ausgehen.“ In Polen hingegen bedeutet „Nie wieder Krieg“ ungefähr: „Nie wieder darf Polen so schwach sein, um zum Opfer zu werden.“


    Im Kontext des Ukraine-Kriegs werden die Unterschiede „im Gebrauch von Kriegsrhetorik in unseren politischen Kulturen“ als riesig bezeichnet:


    Die Polen behandeln den Krieg – mit Rücksicht auf ihre Erfahrungen – als existenzielle Bedrohung des eigenen Landes, ihrer Nation und ihrer Kultur. Sie befürchten, dass diese durch einen Krieg schlicht und ergreifend in ihrer Existenz gefährdet sind. Und so nehmen sie auch die Lage der Ukrainer wahr, die nach der Auffassung der Polen um ihre Existenz und ihre Freiheit kämpfen, wobei sie gleichzeitig andere schützen, die weiter im Westen leben. Auch die Polen sehen Russland seit langem als Bedrohung, und der russische Überfall auf die Ukraine hat diese Erfahrung nur noch verstärkt und realistischer gemacht.


    Die Deutschen betrachten den Krieg zum Teil anders, da ihre Erfahrung eine andere ist (ihre Existenz war nie gefährdet). Nach 1945 wurden sie – zumindest im Westen – in einem Geist erzogen, dass es notwendig ist, alle Konflikte durch Dialog zu lösen. Die Bundesrepublik Deutschland wollte sich bewusst in keinerlei militärische Konflikte begeben. Dieses Denken zu verändern, ist sehr schwer.“


    Im weiteren werden diese unterschiedlichen Einstellungen und die Unterstützung der Ukraine (in Polen: Selbstverständlichkeit; in Deutschland: etwas Neues [das Wort Zeitenwende fehlt zum Glück] ausgeführt.

    Die Schlussfolgerungen ordnen die genannten unterschiedlichen Perspektiven beider Länder ein und erklären den Gebrauch der polnischen Kriegs-Metaphorik. Außerdem werden Vorschläge für einen konstruktiven deutsch-polnischen Dialog angeboten.


    ***

    Ich finde es spannend, wie unterschiedlich dieselben Begriffe in zwei Ländern aufgrund ihrer Geschichte wahrgenommen werden. Gerade in dieser Hinsicht würde ich mir öfter einen Blick über den Tellerrand wünschen und andere Haltungen erklärt sehen, als nur den Blick durch die deutsche Brille. Ich glaube, dass dieser Blick – man ist immer noch weit genug weg, in der Existenz nicht direkt bedroht – die Wahrnehmung trübt. Wie sollen denn Friedensbemühungen aussehen, wenn Russland die Bedingungen diktiert und sich weigert, die Ukraine als Staat anzuerkennen? Mir scheinen da Wagenknecht, Schwarzer usw. (auch Precht) an einem Wolkenkuckucksheim zu basteln, das die Realität ausklammert oder umschreibt und ein Luftschloss bleiben wird.

  • Ich werfe da einfach mal den Namen „Karl Kraus“ ins Rennen. KK hat eigentlich alles gesagt & geschrieben, was es zu dem Thema zu sagen und zu schreiben gibt. Ich empfehle „Die letzten Tage der Menschheit“ und „Die Dritte Walpurgisnacht“. Kaum etwas hat mich mehr sagenwirmal berührt und ja:erschüttert. Nach der Lektüre war ich ein anderer. Alles, was nach KK über Medien & Presse gesagt wurde, kam und kommt mir geradezu grotesk unzulänglich vor.

  • Ich schaue wie gesagt keine Talkshows oder ähnliche Formate , ob klassisch oder online. Dass die Stellung zum Ukraine-Krieg problematisch ist, will ich gar nicht abstreiten, da ist das Buch auch schnell von der Realität überholt worden. Dennoch finde ich die grundsätzlichen Thesen der Autoren - unabhängig von den Themen, an denen sie sie festmachen, aus oben genannten Gründen richtig. Und dass man zuerst nachdenkt und dann reagiert, anstatt sich als Politiker von den Medien vor sich hertreiben zu lassen, sollte Usus sein, wird aber für die politischen Entscheider aufgrund des Drucks immer schwieriger, egalg um welches THema es geht. Aber nun kommen wir off topic hier, ich lasse es also dabei.

  • Ich habe zu dem Roman "Hinter der Tür" von Magda Szabó eine Rezension geschrieben, die ich hier gleichlautend eingestellt habe; entsprechend der Zielsetzung dieses anderen Forums ist die Rezi so geschrieben, dass sie auf das Buch neugierig machen soll, deshalb habe ich das zentrale Drama nur angedeutet. Das Buch ist unbedingt lesenswert. Es wirft moralische Fragen auf, die universell mit dem Thema Altern und Hilfsbedürftigkeit zusammenhängen, und ist großartig geschrieben (und übersetzt).

    Eben habe ich mir nochmal den Film mit Martina Gedeck und Helen Mirren in den Hauptrollen angesehen. Es ist ein Genuss, diese beiden Schauspielerinnen zu erleben; sie tragen praktisch den ganzen Film (alle anderen sind nur Nebenpersonen) und wissen mit einem Zucken des Gesichts mehr auszudrücken als viele andere Schauspieler mit ewig langen Monologen.

    Jetzt bin ich in einer Leserunde mit dem neuen Buch von Percival Everett "Die Bäume". Der Beginn ist schon mal vielversprechend, im Fokus steht einstweilen eine "white trash"-Familie in einem Kaff in Mississippi, und der Tonfall ist trocken-ironisch.

  • Ich habe es am sog. SUB, aber es wird wohl noch dauern, bis ich dazu komme, habe gerade noch Leserundenverpflichtungen.
    Die Buddenbrooks am Schwarzen Meer, das klingt verlockend!

    Nun ja der Buddenbrook Satz ist weglassbar für mich. So vordefinierte Vergleiche mag ich nicht.


    Ich habe das Buch sehr sehr gerne gelesen, es ist atmosphärisch sehr gut ausgearbeitet, der Verfall des Systems und der Stadt, die anhand der Familie erzählt werden und auch die tiefere Auseinandersetzung mit der Revolution bzw. dem Revolutionsversuch von 1905, die ich im Rahmen der Lektüre hatte, waren spannend und bereichernd.


    Wann auch immer du zum Lesen des Buches kommst, du kannst dich darauf freuen :)

  • Mit viel Vergnügen lese ich nach längerer Zeit mal wieder einen Jules Verne-Roman, diesmal einen von den kleineren und unbekannteren: Die Schule der Robinsons. Schon sehr schön, wie Verne am Anfang während einer Auktion einen ironischen Blick auf die Gesellschaft von San Francisco in der Nach-Goldrauschzeit der 1880er Jahre wirft.

  • Im Rahmen meiner Lesereihe "unbekannte, obskure, seltsame, oder wie-auch-immer-Literatur vorrangig des 19. Jahrhunderts":

    Ludwig Bechstein, Die Geheimnisse eines Wundermannes

    https://www.ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/author/bechstein.htm

    Ohne alle Kenntnisse, außer, dass es sich um den Märchen-Bechstein handelt.


    Bisher eine gar seltsame Botanik-Vorlesung mit einer heftigen Auslassung betreffend den Tod "des Erzketzers, des Abtes Jerusalem in Braunschweig."

    Musste ich nachschauen, klar

    https://de.wikipedia.org/wiki/…iedrich_Wilhelm_Jerusalem

    Es verortet den Roman im Jahre 1790.

    Und wer der seltsame, in Mühlhausen geborene, Botaniker - so es eine Vorlage gibt - ist, das weiß ich nach 10 Seiten noch nicht.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Der Verne-Roman hat sich dann aber im Weiteren als wenig originell herausgestellt. Es handelt sich um eine Intrige, die einem unbedarften reichen jungen Mann, der vor der Eheschließung auf Abenteuer in der großen weiten Welt hofft, ein Robinson-Schicksal vorgaukelt. Das ist aber von Anfang an klar, so dass auch alle weiteren Geschehnisse nur den jungen Mann und seinen Gefährten, aber nicht den Leser überraschen. War wohl ein schnell gestricktes Kassenfüller-Werkchen. Der Anfang war aber gut, da die Welt des Geldadels und der Neureichen in Kalifornien sehr schön anzüglich geschildert wurde.