Was lest ihr gerade?

  • Ich kenne O.Henry hauptsächlich von der berühmten Weihnachtserzählung her; ich glaube sogar, sie tauchte in meiner Schullektüre im Englischunterricht auf: Mary verkauft ihr prachtvolles Haar einem Perückenmacher, um ihrem Mann eine Uhrkette kaufen zu können; zeitgleich versetzt der Gatte die Uhr, um seiner Frau Schmuckkämme für ihr langes Haar zu kaufen. Am Ende kann weder der Mann noch die Frau mit dem Geschenk etwas anfangen, aber die tiefe Liebe ist bewiesen. :saint:


    Die Geschichte ist unsterblich - vor kurzem fand ich sie wieder bei Facebook, ohne Nennung des Autors. Es gibt auch etliche Variationen davon.

  • Ja, mit der Geschichte beginnt die Sammlung ;-).


    O'Henrys Einfluss ist da wohl kaum zu überschätzen, seine zahlreichen Plot-Ideen mit mehr oder weniger überraschenden Pointen sind praktisch Blaupausen, die von vielen anderen Autoren dankbar übernommen wurden. Und mehr als der Plot bleibt da auch nicht übrig, den zieht er einfach auf maximal 10 Seiten mit meist sanft ironischem Tonfall durch und fertig. Erinnert mich ein wenig an Philip K. Dick, dessen zahlreichen Kurzgeschichten ähnlich funktionieren. Dick ist zwar pessimistischer, aber im Grunde arbeitet er genau so und spielt praktisch alles Plots durch, die die gängige SciFi ausmachen. Und für beide Autoren gilt: Man sollte davon nicht zu viel am Stück lesen, man wird ihrer sehr schnell überdrüssig.

  • Ich kenne O.Henry hauptsächlich von der berühmten Weihnachtserzählung her; ich glaube sogar, sie tauchte in meiner Schullektüre im Englischunterricht auf: Mary verkauft ihr prachtvolles Haar einem Perückenmacher, um ihrem Mann eine Uhrkette kaufen zu können; zeitgleich versetzt der Gatte die Uhr, um seiner Frau Schmuckkämme für ihr langes Haar zu kaufen. Am Ende kann weder der Mann noch die Frau mit dem Geschenk etwas anfangen, aber die tiefe Liebe ist bewiesen. :saint:


    Die Geschichte ist unsterblich - vor kurzem fand ich sie wieder bei Facebook, ohne Nennung des Autors. Es gibt auch etliche Variationen davon.

    Das ist witzig. Meine Eltern hatten mal eine Sammlung von Weihnachtsgeschichten als Broschüren in so einem schwarzen Schuber, und da war die auch dabei. Dass sie von O.Henry ist, wusste ich gar nicht. Ich habe diese Broschüren mit zehn oder elf gelesen, aber an den Inhalt habe ich mich sofort erinnert, als ich deine Beschreibung las, Zefira. Danke, dass du eine schon lange vergessene Schublade in meinem Gehirn aufgezogen hast.

  • Ich habe in solchen Dingen ein elefantöses Gedächtnis. Ich erinnere mich sogar an eine Kindergeschichte in einem Weihnachtsbuch, das ich als Grundschülerin hatte. Darin kamen zwei Schwestern vor; die eine gab ihre Puppe in Zahlung, um ihrer Schwester eine Dackeline passend zu deren Holzdackel zu kaufen, und die andere gab den Dackel in Zahlung, um ein Puppenkleid für die Schwester zu kaufen - ich weiß nicht, ob das jetzt verständlich ist, aber es war im Prinzip die gleiche Geschichte. Es gibt mit Sicherheit noch etliche andere Beispiele.

  • Das hat auch was mit dem noch frischen Speicher zu tun. An meine ersten hundert Bücher erinnere ich mich viel besser als an fast alle anderen danach, weil sie frische Eindrücke in die kaum berührte Leseseele gruben. Später überlagern sich die Eindrücke und werden schnell beliebig. Dann muss ein Buch schon sehr aufs Eis hauen, wie in dem von mir gewählten Motto, um noch wirklich starke Spuren zu hinterlassen.

  • Ich lese gerade "Andersen" von Charles Lewinsky.


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    Ich weiß nicht mehr, wer mir dieses Buch empfohlen hat; es lag auf meinem Merkzettel bei der Onleihe. Manchmal schaue ich da drauf, was ich als nächstes lesen könnte. Der erste Teil präsentiert die Erinnerungen eines noch ungeborenen Fötus an seine frühere Existenz - um es mit der "Maus" zu sagen: klingt komisch, ist aber so. Diese frühere Existenz begann 1898. Dieser Teil des Buches endet mit der "Geburt" in 2003. Dann folgt ein Kapitel aus der Sicht des Vaters, der sich über das teilweise merkwürdige Verhalten seines erst wenige Monate alten Sohnes wundert. Dieser Teil ist - finde ich - eher langweilig und von einem recht angestrengten Humor geprägt. Ich habe etwas über die Hälfte des Buches gelesen und mittlerweile ist der Fokus wieder zu dem Sohn Jonas, jetzt etwas über ein Jahr alt, zurückgekehrt.

    In seinem früheren Leben war Jonas ein Verhörspezialist und Folterer namens Andersen; daran erinnert er sich recht genau (daher der Titel). Sein Denken ist völlig skrupellos. Angeblich sollen noch einige krasse Szenen und überraschende Wendungen folgen. Die zum Teil überschwenglich lobenden Kritiken, die bei Perlentaucher zu lesen sind, werden aber bisher für mich nicht eingelöst.

  • Ich habe das Buch heute morgen ausgelesen und bin unterm Strich eher enttäuscht ...

    Dass die Erinnerungsfetzen an sein früheres Leben als Verhörspezialist, die Andersen in die Erzählung einstreut, dem Leser "das Blut in den Adern gefrieren lassen", kann ich erstmal nicht bestätigen. Dafür sind sie zu verkürzt und diffus. Man kann sich mit einiger Phantasie natürlich vieles ausmalen, aber ich fand zum Beispiel "Das Mädchen" von Edna O'Brien wesentlich bedrückender. Von George Orwell gar nicht zu reden.


    Ja, und das Ende ...

    Das ist meiner Meinung nach sehr konventionell und passt nicht wirklich zum Rest.

    Ich will das Buch keineswegs verreißen, aber nach den z.T. überschwänglichen Kritiken habe ich ganz klar mehr erwartet.

  • Ich habe vor Jahren von Lewinski "Melnitz" gelesen, ein Roman über ein jüdische Familie in der Schweiz. Von dem Roman war ich sehr angetan. Vor ein paar Monaten habe ich mir noch "Der Wille des Volkes", einen dystopischen Kriminalroman gekauft. Der Plot klingt sehr interessant, aber er steht im Moment nicht auf der nächsten Präferenzliste.

  • Ich habe vor Jahren von Lewinski "Melnitz" gelesen, ein Roman über ein jüdische Familie in der Schweiz. Von dem Roman war ich sehr angetan.

    Hm ... ich war ziemlich enttäuscht. Zum Glück hatte ich das Buch nur geliehen erhalten. Aber seitdem gehört Lewinski für mich nicht zu den Gegenwartsautoren, von denen ich vielleicht noch einmal etwas lesen werden.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hm ... ich war ziemlich enttäuscht. Zum Glück hatte ich das Buch nur geliehen erhalten. Aber seitdem gehört Lewinski für mich nicht zu den Gegenwartsautoren, von denen ich vielleicht noch einmal etwas lesen werden.

    Na ja, wir haben ja schon häufiger nicht in unserem literarischen Geschmack übereingestimmt. Jedem Tierchen sein Pläsierchen!

  • Ah, dann möchte ich noch mal auf die böse Satire "Schuster!" hinweisen. Das ist ein relativ früher Band (1997) und er spielt in einem Milieu, in dem sich Lewinsky als TV-Autor bestens auskennt. "Mattscheibe" hab ich noch mal durchgeblättert, den hab ich wohl doch schon mal gelesen, aber daran hab ich keine konkreten Erinnerungen mehr.

  • John le Carré gehört ja jetzt zu den Klassikern, ich möchte aber einen seiner Epigonen empfehlen: Mick Herron, Slow Horses. In einer Besprechung in Deutschlandradio Kultur wurden seine Romane dadurch charakterisiert, dass Herrons sich zu le Carrés Romanen verhält, wie Monty Pythons "Das Leben des Brian" zum Neuen Testament.

  • Als das "Nachdenken über Christa T." 1968 erschien, gingen die wenigen Exemplare von Hand zu Hand, wurden ausgeliehen und sogar mit der Schreibmaschine abgeschrieben. Meine Eltern, vom gleichen Geburtsjahrgang wie Christa Wolf und im Volksbildungswesen der DDR tätig, konnten eines erwerben, das heute noch in meiner Bibliothek steht.


    Man kann sich heute die damalige ungeheuere Wirkung nur schwer vorstellen. Ich las das Buch im Alter von 13 Jahren, habe sicher nicht alles verstehen können, war aber aufgewühlt, wie von keinem anderen Buch der Gegenwartsliteratur. Schwere Krankheit und Tod waren Tabuthemen in der DDR, es gab keine Ratgeberliteratur dazu, wie erst nach 1990. Daher ist es verständlich, dass Christa Wolf körbeweise Zuschriften von Lesern, in der Mehrzahl Frauen, erhielt, die sie um ihren Lebensrat baten und ihr aus dem eigenen Leben erzählten.

    Karamzin Ich grabe das hier einmal aus, weil ich auf etwas gestoßen bin: In der neuesten Ausgabe von "Sinn & Form" (6/2020) ist der Briefwechsel Christa Wolfs mit dem Heidelberger Arzt Hans Stoffels dokumentiert. Stoffels hatte sich nach der Lektüre des Romans an Christa Wolf gewandt, denn er las das Buch als 'psychosomatischen Roman' - er hatte sich in der Nachfolge von Weizsäcker und Kütemeyer in Heidelberg mit dieser damals noch neuen und umstrittenen Sicht auf Krankheiten befasst und suchte nun in Christa Wolf eine Gesprächspartnerin. Das nur als Hinweis.


    Viele Grüße

    JHN

  • Ich habe jetzt mit Merciers "Das Gewicht der Worte" angefangen. Bisher finde ich es interessant und gut zu lesen (stehe noch ganz am Anfang), die Konzentration fällt mir allerdings gerade etwas schwer - habe Hausbesuch, meine jüngere Tochter ist seit gestern endgültig aus Riga zurück und, nach einem negativen Schnelltest, noch ein paar Tage bei uns in häuslicher Quarantäne. Wir werden zusammen Weihnachten und Silvester feiern.


    Zuvor habe ich übrigens "1793" gelesen, einen Histo-Krimi aus Schweden. Über dieses Buch gab es einige Totalverrisse in der Krimigruppe bei Facebook, deshalb habe ich etwas gezögert, damit anzufangen (habe es im Offenen Schrank gefunden), aber nun bin ich froh, es doch gelesen zu haben, das Buch ist als Krimi faszinierend. Es hat einen gleichbleibend mysteriösen Unterton, der auf mich sehr inspirierend wirkt und, anders als bei den allermeisten Krimis dieser Art, bis zum Schluss fortdauert. Vieles darin scheint nicht so recht aufzugehen, aber das ist mir bei einem solchen Buch egal.

  • Bei mir hat das Jahr mit einem echten Höhepunkt geendet: Tarjei Vesaas, Die Vögel.


    Ich konnte mich dem Hype um 'Das Eisschloss' ja nicht so ganz hundertprozentig anschließen, obwohl in meinem Lesekreis alle hingerissen waren - trotzdem war es ein gutes Buch, keine Frage. Jetzt hat der Guggolz Verlag mit den Vögeln einen weiteren Roman von Vesaas aufgelegt, den manche als den besten norwegischen Roman bezeichnen (Knausgard etwa...).


    Von diesem Buch war ich wirklich vollkommen hingerissen.

    Es erzählt die Geschichte des geistig zurückgebliebenen Mattis, der als 37-Jähriger mit seiner Schwester Hege in einem Haus am See lebt. Hege arbeitet als Strickerin, um die beiden durchzubringen. Mattis versucht immer mal wieder, Gelegenheitsarbeiten anzunehmen, aber das fällt ihm schwer, denn die Gedanken in seinem Kopf geraten immer wieder auf Abwege und zugleich hat er so viele Fragen, die er klären möchte, etwa die, warum alles so ist, wie es ist.


    Irgendwann taucht dann Jörgen bei den beiden auf, in den Hege sich verliebt. Und damit wird das stille Leben der beiden Geschwister bedroht, denn Hege könnte Mattis verlassen.


    Das alles wird dermaßen schön, stilistisch sicher, poetisch und vollkommen kitschfrei erzählt. Man sieht die Geschichte weitgehend aus der Sicht von Mattis, bleibt zugleich aber distanziert genug, um die Sicht der anderen Figuren im Buch zu verstehen.


    Abgesehen von diesem wunderbaren Inhalt ist das Buch auch wieder wundervoll gestaltet.


    http://www.guggolz-verlag.de/die-voegel

  • Zur Zeit: Jens Malte Fischer: Gustav Mahler. Der fremde Vertraute.

    Irgendwie war das so ein Biographien-Jahr.


    Nach Mahler hatte ich die Tagebuchsuiten von Alma Schindler-Mahler-Gropius-Werfel gelesen. Und dann:

    Antony Beaumont: Alexander Zemlinsky.

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    Rüdiger Safranski: Hölderlin. Fand ich als Einführung in Leben (eher etwas weniger) und Werk (etwas mehr) brauchbar.

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    Pierre Bertaux: Hölderlin. Lag Jahre herum. Meines Wissens ist die These, Hölderlin sei gar nicht wahnsinnig gewesen, eher umstritten. Und ich weiß nicht, inwieweit das in den letzten 40 Jahren weiter verfolgt wurde. Was das Buch für mich so spannend machte, war die Unmenge an abgedruckten Dokumenten/Zitaten.

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    Und jetzt: Werner Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben.

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    Da meine Konzentrationsfähigkeit begrenzt ist, war es an Belletristischem eher etwas weniger. Auf dem Kobo läuft seit einigen Monaten eine Fontane-Gesamtlektüre

    https://www.ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/author/fontane.htm

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    Eventuell geb ich mir demnächst mal dies

    https://www.umblaetterer.de/20…enhauer-meine-grosstante/

    Das ist doch ein Appetizer :-)

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    Für die Dauerlektüre hab ich mir gerade gegönnt:

    Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939-2003. Suhrkamp 2004. Antiquarisch und nicht ganz preiswert, aber es ist für den Rest meines Lebens.

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    Frohe Feiertage!

    Berthold

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Meine Trilogie besteht aus drei in der "Sammlung Dieterich" erschienenen dicken Bänden. "Lourdes" übersetzt von Erich Marx, "Rom" übersetzt von Irmgard Nickel und Erich Marx, "Paris" übersetzt von Irmgard Nickel mit einem Nachwort von Erich Marx.


    Bei Projekt Gutenberg sowie bei Mobile Read Wiki sind "Lourdes" und "Rom" hinterlegt; bei "Lourdes" steht kein Übersetzername, bei "Rom" ist ein "R. Berger" genannt, Erscheinungsjahr 1900. Das Ebook "Lourdes" habe ich mal vor Jahren im Urlaub angefangen, als ich außer dem Reader keinen lohnenden Lesestoff dabei hatte, und dann zu Hause mit dem Printbuch beendet. Ich hatte den Eindruck, dass die neuere Übersetzung ein wenig kraftvoller und unverblümter ist, aber der Unterschied war nicht so groß, dass ich ihn als wesentlich empfunden hätte - ist allerdings schon etliche Jahre her.

    Edit, ich schaue mir gerade die bei Amazon kostenlos erhältliche Kindle-Ausgabe von "Lourdes" an. Da steht als "Beteiligter" ein Robert Hugh Benson, von dem bei Amazon sonst nur englischsprachige Bücher gelistet sind, aber als Sprache ist ausdrücklich Deutsch angegeben.

    Nochmal Edit: Ich würde mich, falls Du am gemeinsamen Lesen Freude hast, mit Lourdes und Paris auf eine Zweitlektüre einlassen (egal wann), mit Rom eher nicht.

    Hi Zefira, das war, wie so vieles, einfach liegengeblieben. Ich werde im neuen Jahr mal eine Investition in Papier erwägen. Neuere/Andere Übersetzungen scheint es wirklich nicht zu geben.

    Ich hatte fast noch nie bei einer Leserunde mitgemacht. Vielleicht mal spannend, eventuell würde es mich zu nicht dauerndem Lektürefremdgehen diszplinieren.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)