Karl Leberecht Immermann: Die Epigonen


  • Kapitel 5 - ein kurzes Zwischenspiel. Immermann macht sich gern über die 'höheren' Ansprüche der Bauern und Handwerker lustig ... Hier ein Schneider.


    Wobei die Bezahlung des Schneiders durch den jetzt geldlich klamm gewordenen Hermann allein mit den "Vorderblättern" in den Anmerkungen zu meiner Ausgabe nicht erläutert wird.
    Der Schneider in seinem Nest war schon an die Bezahlung "in Naturalien, als Butter, Käse, Eiern u. dgl." gewöhnt. Doch: "Die Vorderblätter galten ihm weit mehr, als er fordern durfte, schon sah er sich im Geiste mit der Sonntagsweste aus dem Achttalertuche bekleidet; er schlug freudig ein."
    Aha, so ist das also mit den "Vorderblättern".



    Was gibt es noch so in den ersten Kapiteln.


    Also, BigBen, was die von Dir vermerkte "Langatmigkeit der Dialoge" betrifft, so gibt es in der Literatur jener Zeit Schlimmeres, regelrechte Romane in Dialogen. Nach so einem Gedankenaustausch, der in der Regel nicht zu tiefschürfend ist, steht zumeist bald wieder ein neues Abenteuer auf der Tagesordnung. Nehmen wir das Gespräch im folgenden sechsten Kapitel zwischen Herzog, Herzogin, hypochondrischem Kammerrat Wilhelmi und Hermannen über die "Beobachtung äußerer Sitte" (S. 28 der Ausgabe 1971), die im Gegensatz zur Tugendsamkeit als erstes ins Auge fallen würde. Das ist die populäre Fassung der Goetheschen Gespräche im "Torquato Tasso" über das, was sich in Gesellschaft ziemt. Erlaubt ist, was sich ziemt, und den Ton geben die schönen Frauen an (*schmeichel* an die Adresse Anna Amalia oder Charlotte von Stein).


    Der Herzog fügt an: "Am schlimmsten hat man es mit den Gelehrten" (S.29). Er lade nie zwei von dieser Sorte gleichzeitig ein. Wie die von der Diskussion über Sachfragen, mitunter winzige Kleinigkeiten, auf die persönliche Ebene zu persönlichen Beleidigungen übergehen ...





    BigBen
    Ich habe erst jetzt gelesen, dass Du eventuell einige Seiten eingescannt haben willst; ich gehe zwar selbst nicht mit dieser Technik um, kann das aber gern in meiner Umgebung in Auftrag geben.

  • Was kommen so alles für Autoren vor:


    In einem Forsthaus im Walde liegt der Novalis, das "schöne Märchen von Hyacinth und Rosenblütchen" (S. 53), in dem Hermann blättert, nachdem er auf der Suche nach Flämmchen dortselbst eingetreten war.



    "Nach der tiefsinnigen Bemerkung des seligen Asmus rühren die Mißverständnisse gewöhnlich daher, daß einer den andern nicht versteht." (S. 57) :belehr:
    Asmus war der 1815 verstorbene biedere "Der Mond ist aufgegangen"-Matthias Claudius, der in seinem Hamburg-Harburger Häuschen mit literarischen Erzeugnissen auftrat, die durch ihre tiefe pietistisch-fromme Unschuld, um nicht zu sagen Einfalt, die Zeitgenossen immer noch beeindruckten.
    Dieser Witz Immermanns erinnerte mich an die Darbietung der beiden Chinesen, die mit einem Gongschlag einen besonders "tiefen" Spruch ihres überaus geschätzten Philosophen ankündigten, worauf man wegen dessen ungewöhnlicher Banalität eine gewisse Zeit den Mund aufriß und überlegte: "Das muss jetzt also besonders tiefsinnig gewesen sein". Nicht jedem liegt diese Art von Humor Immermanns.



    Mit der "Schuld" des Adolph Müllner (1813), deren Handlung in der Komödiantenszene wiedergegeben wird, dürfte heutzutage wohl niemand mehr etwas anfangen können, ebensowenig mit dem "Lustigen Schuster", aber dem zeitgenössischen Zuschauer burlesker Komödien dürften diese Stücke wohl noch vertraut gewesen sein.


    Dass Hermann bei den Schauspielern auf ein verballhorntes "King-Lear"-Spiel stieß, mag wieder den Goethe-Konsumenten an die ernste Behandlung des "Hamlet" in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" erinnern, Flämmchen ist die besonders wilde Variante der wechselnd in sich eingekehrten und gefühlvollen, dann wieder ausgelassenen Mignon. "Mord, Mord und Mortimer!" - wieder ein Schenkelklopfer Immermanns!



    "Die Liebe ist für Stunden, die Ruhe für das Leben" (S. 80), lehrt Immermann, der gerade mal über die Dreißig war.


    So, und im Gartenkabinett der Herzogin finden sich denn "Hermann und Dorothea", die Hymne des ruhebedürftigen, tugendsamen und im Hafen der Ehe gelandeten Kleinstädters, der oben erwähnte "Tasso", "Iphigenia", Homer und "die Gesänge unsres Schillers" (S. 97).
    Den Schillerspruch von 1786 aber sollte man sich merken:


    "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!"


    Später dann von Napoleon in der apokryphen Unterhaltung mit Goethe ausgebaut und variiert: "Die Politik ist das Schicksal"

  • "Die Weltgeschichte", die Säkularisierung, die Umwandlungen im Königreich Westfalen 1807-1813 unter König Jerome "Lustick" Bonaparte machten sich auch auf den Gütern des Herzogs bemerkbar, wobei ich gestehen muss, ebenfalls nicht in die juristischen Feinheiten der Güterübertragung eingedrungen zu sein, mit denen sich Immermann auskannte.



    Was mich bei der Gestalt des "Oheim" besonders anregte, ist der Vergleich mit den etwa zur gleichen Zeit geschilderten Figuren des H. de Balzac. Dort finden sich grauenhafte und gruselige Unternehmergestalten und Geldverleiher, die die unschuldigen und unbedarften Menschen zugrunde richten, sich deren Erfindungen skrupellos aneigneten - die Brüder Cointet in den "Verlorenen Illusionen", die Kaufleute in "Cesar Birotteau". Die Ehrlichen gehen unter, die Skrupellosen triumphieren.


    Der Oheim alias Nathusius, der reichste Mann der Vaterstadt Immermanns Magdeburg, fiel den Zeitgenossen als geschäftstüchtig und unternehmend auf, nicht besonders fromm.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Gottlob_Nathusius
    hier wird auch auf die Vorbildwirkung für Goethe und Immermanns "Epigonen" sowie C. v. Brentano aufmerksam gemacht.


    Aber derartige Brutalität wie in Paris oder in Balzacs Provinzstädten hatte in der mitteldeutschen Börde nicht Einzug gehalten. Feudale und Bürgerliche schlossen in Deutschland friedliche Kompromisse.

  • Oh, viel Spaß und vor allem interessante Entdeckungen!!


    (Nach 18 Jahren Buchmesse war ich "satt". :breitgrins:)


    Oh, das geht mir ähnlich. Ich habe mindestens 20 Buchmessen in FFM mitgemacht, teilweise heftigst dort gearbeitet. Und meine Freudigkeit, mich auf den Weg dorthin zu machen, wenn ich nicht wirkliche Verpflichtungen habe, ist mittlerweile extrem gering. In diesem Jahr passt es terminlich ohnehin nicht. Leipzig: gerne jederzeit. Frankfurt: muss nicht sein.

  • Ich habe übrigens die ersten fünf Kapitel gelesen und finde den Roman bisher sehr unterhaltsam. Wenn ich mir die anderen Beiträge allerdings ansehe muss ich feststellen dass ich leider nicht viel zur Leserunde beitragen kann.


    Ich hatte irgendwie den Eindruck dass es auch hier zu einer Wanderung kommen wird wie in Wilhelm Meister, aber bislang ist davon noch nichts zu sehen.


    Mir gefällt dieser lustige Ton aber, es muss ja nicht immer alles so ernst sein.

  • Die letzten Tage hatte ich kein Internet zur Verfügung und auch kaum Zeit zum Lesen. Habe jetzt das zweite Buch abgeschlossen.


    So lustig wie die ersten Kapitel ist es bisher nicht geworden, wenn man mal von dem Zechgelage Wilhelmis und Hermanns absieht, bei dem Flämmchen noch eins draufsetzt (II,11). Es erscheint mir auch kaum glaubhaft, dass Wilhelmi immer noch nicht das Geschlecht Flämmchens erkennt, obwohl sie sich im Nachklapp des trunkenen Abends so an ihn hängt.


    Einiges wirkt sehr gewollt und hat wohl auch seinen Ursprung in der Autobiografie des Autors: so die Erzählung zur Konversion des jungen Hauspriesters der Herzogsfamilie. Was das jetzt für die Fortsetzung der Geschichte bringt, erschließt sich mir nicht, soll aber auf der Beziehung Immermanns zu einem seiner Freunde beruhen, der ihn auch bekehren wollte. Eine leicht homoerotische Note hat diese Szene im Buch auch (II, 20).


    Es wirkt alles recht episodenhaft: Die Begegnungen Hermanns mit den verschiedenen Personen seiner Umgebung und deren Problemen, Einstellungen und Vorgeschichten bestimmen die Handlung. Hermann wirkt auf mich immer noch nicht eigenständig, sondern eigentlich nur durch Reaktion, nicht durch Aktion.
    Viele Handlungs- bzw. Motivketten werden angelegt, bleiben dann aber (zunächst) offen, weil sich der Schauplatz verlagert wie die Probleme mit der (illegitimen) Schwester des Herzogs und der Liebe der Herzogin zu Hermann. Im dritten Buch begibt sich Hermann auf die Suche nach einer dauerhaften Unterbringung für Flämmchen.


    Interessant ist, dass sich Hermann an den schwerblütigen Misanthrophen Wilhelmi hängt, aber um den zynischen und materialistischen Arzt einen großen Bogen macht und nur widerwillig dessen Hilfe wegen Flämmchen in Anspruch nimmt.
    Übrigens ein ganz moderner Arzt, der damals schon der Homöopathie gegenüber der überkommenen Medizin eine Chance gibt.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Also, BigBen, was die von Dir vermerkte "Langatmigkeit der Dialoge" betrifft, so gibt es in der Literatur jener Zeit Schlimmeres, regelrechte Romane in Dialogen. [...] Nehmen wir das Gespräch im folgenden sechsten Kapitel zwischen Herzog, Herzogin, hypochondrischem Kammerrat Wilhelmi und Hermannen über die "Beobachtung äußerer Sitte" (S. 28 der Ausgabe 1971), die im Gegensatz zur Tugendsamkeit als erstes ins Auge fallen würde. Das ist die populäre Fassung der Goetheschen Gespräche im "Torquato Tasso" über das, was sich in Gesellschaft ziemt. [...]


    Bzw. ähnlich erbaulicher Gespräche in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Ich tendiere aber dazu, Immermanns Dialoge als Persiflage, als Parodie zu betrachten - mitsamt ihrer Langatmigkeit. So wird im oben erwähnten Gespräch einmal das Wort "Behagen" benutzt - eine Lieblingsfloskel des alternden und alten Goethe.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Sehr hübsch und humoristisch sind im dritten Buch die verschiedenen pädagogischen Systeme und ihre allzumenschliche übertriebene Auslegung durch ihre Vertreter, den humanistischen Rektor und den pragmatischen Realschullehrer. Nett, wie Immermann die Theorien in den Söhnen beider persifliert und wie es dann doch beiden Familien gelingt, miteinander befreundet zu bleiben. Natürlich legt er auch hier wieder einen neuen Handlungsstrang mit dem verlorenen Sohn der Rektorenfamilie an. Im vierten Buch werden wir höchst vergnüglich zurückgeführt an den Herzogshof, wo mit viel Getöse ein originales Ritterturnier vorbereitet wird.
    Ich lege nun erstmal eine Lesepause ein, da ich anscheinend etwas zu weit vorausgaloppiert bin.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Ich lege nun erstmal eine Lesepause ein, da ich anscheinend etwas zu weit vorausgaloppiert bin.


    Ich bin schon seit Anfang der Woche am Anfang des vierten Buches. Laß uns zusammen pausieren. :urlaub:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Kapitel 7: Wieder ein burleskes Zwischenspiel. Bin mal gespannt, ob Immermann diese Disparatheit durchhält...


    Tut er, allerdings nicht in der Dichte wie im ersten Buch. Aber das Aufeinandertreffen der beiden Pädagogen und ihrer Familien (herrlich auch die beiden Gattinnen) gehört in die Abteilung Burleske und hat dennoch einen kulturgeschichtlichen Hintergrund, der ja in gewisser Weise auch heute noch aktuell ist.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Tut er, allerdings nicht in der Dichte wie im ersten Buch.


    Dann hoffen wir mal das Beste.


    In Kapitel 8 finden wir Andeutungen auf eine entführte junge Frau. Jeder Leser denkt natürlich sofort an Flämmchen. Aber ich habe in Münchhausen feststellen dürfen, dass Immermann auch gerne mal solche offensichtliche Spuren legt, um den Leser ins Leere laufen zu lassen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ganz im Ernst: Mir will scheinen, dass sich Immermann schon in den ersten 9 oder 10 Kapiteln durchaus als Epigone erweist. Weniger Goethes als vielmehr - Ludwig Tiecks ...

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  • Mittlerweile ist die die Ausgabe des Winkler-Verlags bei mir angekommen und ich habe das 3. Buch beendet. Interessant, wie Immermann darin modellhaft und ziemlich satirisch das behandelt, was sich später in den unterschiedlichen Konzepten von Realgymnasien und klassischen Gymnasien wiederfindet. Im Roman geht die moderne Bildung in Rauch und Feuer auf, glücklicherweise tat sie das in der Realität jedoch nicht.
    Nächste Woche bin ich unterwegs, ohne Buch, mit "Die Wand" auf dem Kindle. Danach geht es weiter mit den Epigonen.

  • 10. Kapitel: Die beiden Kinder im Wald. Immermann türmt Episode auf Episode. Jede bedeutungsschwangerer als die andere. Ich weiss nicht - die ersten 10 Kapitel seines Münchhausen haben mir bedeutendt besser gefallen: Mehr literarischer Witz, weniger Disparatheit. Ich hoffe, Immermann fängt sich wieder ...

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  • Eilftes Kapitel: Hermann rennt vom Schauplatz weg, ohne sich darum zu bekümmern, was seine Wort eigentlich für eine Wirkung im Gegenüber hinterlassen haben. Nach der Wartburg-Geschichte der zweite Punkt, wo sich Immermann von seinem Helden distanziert, ganz leise distanziert.

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  • Ich bitte um Entschuldigung, bin seit Wochen dermaßen mit Problemen belastet, dass ich keine Ruhe zum Weiterlesen und zur Teilnahme an der Leserunde finde. Hoffentlich bessert sich das wieder, ich wünsche allen viel Freude und manche Einsicht beim Lesen.