Romananfänge

  • All true histories contain instruction; though, in some, the treasure may be hard to find, and when found, so trivial in quantity, that the dry, shrivelled kernel scarcely compensates for the trouble of cracking the nut. …..


    So beginnt der erste Roman von Anne Brontë. Das hat meiner Meinung nach schon fast Tolstoi’sche Dimensionen. Aber mit dem ersten Satz des zweiten Absatzes, und hier beginnt ja eigentlich erst der Roman, kehrt Anne wieder in gewohnte Gefielde zurück:


    My father was a clergyman of the north of England, …


    Wer wissen will wie’s weitergeht: am Mittwoch beginnt hier im Klassikerforum eine Leserunde zu „Agnes Grey“ von Anne Brontë und Eni und ich würden uns über weitere Mitleser freuen. :winken:

  • Die heldenhafte Stadt hielt Mittagsruhe. Der warme, träge Südwind blies die weißlichen Wolken vor sich her, die auf ihrer Fahrt nach Norden zerflatterten. In den Straßen war es totenstill, bis auf das Rascheln der Wirbel aus Staub, Lumpen, Strohhalmen und Papierfetzen, die von Rinnstein zu Rinnstein, von Gehsteig zu Gehsteig, von Ecke zu Ecke tanzten, kreisten und hintereinander hertaumelten wie Schmetterlinge, die sich suchen, voreinander fliehen und die die Luft auf unsichtbaren Schwingen trägt. Gleich Rudeln kleiner Gassenjungen sammelten sich diese Abfälle von allen möglichen Kehrichthaufen, verhielten einen Augenblick wie vom Schlaf übermannt, fuhren aufgeschreckt wieder hoch, stoben auseinander, wobei manche an den Mauern bis zu den schwankenden Glaszylindern der Straßenlaternen, andere zu den liederlich an die Ecken geklebten Plakaten emporkletterten. Eine Feder gelangte bis hinauf zum dritten Stock, und ein Sandkorn setzte sich, an die Blaifassung geklammert, für Tage oder Jahre an der Scheibe eines Schaufensters fest.
    Vetusta, die altehrwürtdige königstreue Stadt, in fernen Jahrhunderten Sitz des Hofes, verdaute ihren Cocido, ihre Olla podrida, ruhte und vernahm dabei im Halbschaf das eintönige, vetraute Schlagen der Chorglocke, die hoch oben auf dem schlanken Turm der heiligen Basilika dröhnte.


    Ich fand es heute beim Regale entstauben wieder.
    Clarín (Leopoldo Alas), Die Präsidentin.
    Im Original hier, das liest sich doch auch ohne Spanischkenntnisse wunderbar.
    Eine der zig Romane, die ich wiederlesen möchte (liegt ca. 20 Jahre zurück), einer der besten, die ich aus dem 19. Jahrhundert kenne.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Martin Walser: Ehen in Philippsburg


    In einem überfüllten Aufzug schauen alle Leute aneinander vorbei.

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Zitat

    Zunächst möchte ich feststellen, daß ich in keiner Weise die starke Einbildungskraft und Ausdrucksfähigkeit besitze, die es mir ermöglicht hätte, dem Leser die Gestalt des Mannes anschaulich zu machen, der sich, der russischen Sitte gemäß, Kyrill Sohn des Isidor - Kyrill Sidorowitsch - Rasumoff nannte.


    Nun, das ist reines Understatement, denn Joseph Conrad schafft es durchaus und sehr eindringlich, uns in >Mit den Augen des Westens< den Herrn Rasumoff in seiner ganzen Wesenheit zu verdeutlichen! :smile: Ein Buch, das ich sicher noch zwei oder drei mal lesen werde!

  • „Ich bin mit drei toten Sprachen aufgewachsen- Hebräisch, Aramäisch und Jiddisch (manche halten letzteres nicht einmal für eine Sprache)- und in einer Kultur des Talmud. Der Cheder, die jüdische Grundschule, in der ich zu lernen anfing, befand sich in einem Raum, in dem der Lehrer aß und schlief und seine Frau kochte. Dort lernte ich nicht etwas Rechnen, Geographie, Physik, Chemie oder Geschichte, sondern die Gesetzte, die zum Beispiel auf ein am Feiertag gelegtes Ei anzuwenden sind….“


    So beginnt I.B. Singers Roman „Schoscha“. Nachdem ich in diesem Jahr bereits drei Bücher von I. B. Singer gelesen hatte, haben mich die ersten Zeilen seines Romans „Schoscha“ gleich wieder in ihren Bann gezogen. Es ist das jüdische Leben im Allgemeinen und die Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihren traditionellen Werten in einer immer moderneren Welt, die mich immer wieder neugierig machen. Singers Geschichten sind natürlich auch ein Stück Zeitgeschichte, in dem sie die Situation der Juden um die Weltkriege in Warschau schildern.

  • „An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem »Zoologischen«, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte.“


    Dies ist der erste Satz in Theodor Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ zu dem gerade eine Leserunde begonnen hat und es ist typisch für Fontane einen Roman mit einer genauen Schilderung des Schauplatzes zu beginnen.


    Auch der Roman „Unwiederbringlich“:


    „Eine Meile südlich von Glücksburg, auf einer dicht an die See herantretenden Düne, lag das von der gräflich Holkschen Familie bewohnte Schloß Holkenäs, ...“


    und „Effi Briest“ beginnen so:


    „In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf.“

  • Ich hab's anderswo schon mal mitgeteilt: Melville's "Mardi" fängt wirklich mitreißend an.


    "We are off!" - Wir sind los!

  • Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, daß er entlassen sei. Jedenfalls legte Bloch die Tatsache, daß bei seinem Erscheinen in der Tür der Bauhütte, wo sich die Arbeiter gerade aufhielten, nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände.


    Peter Handke: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“

  • Ein schönes Thema :) Es ist hoffentlich in Ordnung, dass ich das Thema aufleben lasse ...


    Mir hat der Anfang von Truman Capotes "Frühstück bei Tiffany" wunderbar gefallen (alles andere war doch sehr enttäuschend):
    "Es zieht mich stets dorthin zurück, wo ich einst einmal gelebt habe, zu den Häusern, der Gegend.Da ist zum Beispiel eines jener handtuchschmalen Backsteinhäuser, ehemals Besitz vornehmer Bürgerfamilien, in den East Seventies, wo ich Anfang des Krieges meine erste New Yorker Wohnung hatte. ..."


    Nicht zu übertreffen ist für mich ganz klar Charlotte Brontes Anfang von "Jane Eyre":
    "There was no possibility of taking a walk that day. We had been
    wandering, indeed, in the leafless shrubbery an hour in the morning;
    but since dinner (Mrs. Reed, when there was no company, dined early)
    the cold winter wind had brought with it clouds so sombre, and a
    rain so penetrating, that further out-door exercise was now out of
    the question."


    Dieser Anfang schafft es jedes Mal aufs Neue mich unverzüglich in seinen Bann zu ziehen :lesen:

  • "Schließlich gab ich mein neues Leben und die Menschen auf, die mir geholfen hatten, es aufzubauen, und kehrte zurück in die Welt der rätselhaften Spiele und geheimen Systeme, aus der sie mich zuvor befreit hatten."


    So beginnt der Prolog von "Poeten der Nacht" von Barry McCrea; einer der bizarrsten Romananfänge, die ich kenne.
    Das erste Kapitel fängt dann mit dem Satz an:
    "Aber am Anfang waren da nur Wörter."