Romananfänge

  • »I Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht


    Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Satumringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern, Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«


    Hubert hat mich in einem anderen Thread auf den Gedanken gebracht: Welches sind unserer Meinung nach die besten Romananfänge. Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht entscheiden zwischen obigem und folgendem:


    »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?«
    »Ja,« antwortete ich.
    »Effendi, ich hasse die Ungläubigen und gönne es ihnen, daß sie nach ihrem Tode in die Dschehenna kommen, wo der Teufel wohnt; aber dich möchte ich retten vor dem ewigen Verderben, welches dich ereilen wird, wenn du dich nicht zum Ikrar bil Lisan, zum heiligen Zeugnisse, bekennst. Du bist so gut, so ganz anders als andere Sihdis, denen ich gedient habe, und darum werde ich dich bekehren, du magst wollen oder nicht.«


    Welches sind Eure Lieblinge?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Sandhofer


    das ist eine tolle Frage.


    Ich finde kurze Einleitungen spannend, es müssen jetzt keine besondere Weisheiten gleich zu anfang präsent werden, aber sie müssen bei mir Neugierde zum Weiterlesen wecken. Wie es mir bei Lesskow: die Lady MacBeth von Mzensk passierte.


    Spontan fielen mir folgende Bücher ein, die ich dann auch sofort rausgesucht habe. Auswendig schaff ich das nicht:


    Tolstoi: Anna Karenina:
    Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich


    Heinrich Böll: Irisches Tagebuch:
    Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte; eine von Englands lieblichen Seiten hatte ich gesehen: Kent, fast bukolisch - das topographische Wunder London nur gestreift - dann eine von Englands düsteren Seiten gesehen: Liverpool - aber hier auf dem Dampfer war England zu Ende: hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischendeck und Bar, hier schon nahmen Europas soziale Ordnung andere Formen an: ...


    Elizabeth von Arnim: Verzauberter April
    Es begann in einem Frauenclub in London an einem Februarnachmittag - ungemütlich der Club und trübselig der Nachmittag...


    Daphne DuMaurier: Rebecca
    Gestern nacht träumte mir, ich sei wieder in Manderley. Ich sah mich am eisernen Tor der Einfahrt stehen, und ich konnte zuerst nicht hineingelangen, denn der Weg war mir versperrt....


    Es gibt sicherlich noch mehr, die mich begeistern und es mögen vielleicht nicht die beeindruckendsten sein, aber ich finde es schön, wenn die ersten Sätze einen gleich in die Geschichte katapultieren oder zumindest neugierig machen.


    Verrätst du uns noch die Quelle, deiner Zitate?


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Sandhofer,


    mir gefällt dein erstes Beispiel besser, es hat mehr Witz! - Das zweite Beispiel ist auch nicht schlecht, aber das habe ich als Kind so oft gelesen, dass die Wirkung etwas verpufft ist. Aber schon toll, die Gespräche zwischen HHO BHAA IHDAG und KBN.


    Gruß


    Hubert

  • Hallo,


    wenn ich so diese Briefe lese, kann der Tag nur mit einem Kichern beginnen! Also muss es ein schöner Tag werden.


    Ich krieg den Namen aber leider auch nicht mehr zusammen, aber HHO BHAA IHDAG und KBN sind es auf jeden Fall. Ist aber auch schon ein paar Jährchen her, als ich diese Bücher gelesen habe. Nur von welchem Buch von KM es nun der Anfang war, weiß ich auch nicht.


    Ingrid (der leider auf die schnelle auch kein schöner Buchanfang einfällt, jedenfalls nicht wörtlich.

  • Hallo zusammen!


    Sorry, ich habe vergessen, die Quellen anzugeben...


    Also: das zweite ist zweifelsfrei Karl May (Durch die Wüste). Gerade in puncto Romananfängen hat May ein paar ganz geniale Dinge geliefert. (Wie er überhaupt - imho - als Autor besser ist als sein Ruf.)


    Das erste ist der Anfang vom "Mann ohne Eigenschaften". Vielleicht der einzige Roman, den die deutschsprachige Literatur Joyce' "Ulysses" entgegenzusetzen hat.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Also mich hat in letzter Zeit der Anfang von Kafka´s "Der Prozess" am meisten begeistert- habe das Buch gerade nicht vorliegen, es fängt aber so an ungefähr:


    Eines Morgens wurde Joseph K. verhaftet und wusste nicht, warum.


    Leider ist das einer dieser vielversprechenden Romananfänge, deren Wirkung nach den ersten 50-100 Seiten verpufft und wo erst das Ende wieder einigermassen gut wird.


    Aber Kafka fängt ja seine Romane häufig mit solch imposanten Phrasen an (wie auch: Eines Morgens erwachte Gregor Samsa und hatte sich in einen Käfer verwandelt - aus "Die Verwandlung").


    Bitte verzeiht mir, dass ich die Sätze nur ungefähr wiedergeben kann, habe die Bücher gerade, wie gesagt, nicht hier... :rollen:


    Viele Grüsse,
    Nele

  • Hier ist einer meiner liebsten Romananfänge:


    Als es dunkel wurde, stach Gustave in See. Er zog es vor, während der Nacht zu reisen - da er sowieso nicht wußte wohin die Fahrt gehen sollte, schienen die Sichtverhältnisse nebensächlich zu sein. Der Himmel war von tintigen Wolken überzogen, nur ab und zu lugte ein Stern oder das kraternarbige Gesicht des Mondes dazwischen hervor und spendete gerade genug Licht, um das Steuerrad in seinen Händen erkennen zu können.


    (Wilde Reise durch die Nacht, Walter Moers)


    An diesem Anfang liebe ich, dass er den Leser sofort in die Situation "entführt" und man mitgenommen wird auf eine faszinierende Reise - ohne das Ziel zu kennen.


    Klar ist dieses Buch noch kein Klassiker, aber es hat das Zeug dazu :zwinker: .


    Gruß
    SchoFlo

    Ich will es endlich mit den Klassikern aufnehmen!

  • Hallo zusammen


    ich muß gestehen:


    ich habe noch keinen einzigen Roman von Karl May gelesen :redface:


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!


    Gerade habe ich gesehen, dass ich den Autor vom "Mann ohne Eigenschaften" unterschlagen habe, aber es war wohl eh allen klar, dass der Musil heisst.


    Nele, Deine Romananfänge heissen genau:


    »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.« (Die Verwandlung)


    »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« (Der Prozeß)


    Quelle der Zitate: http://www.gutenberg2000.de (Wo nach wie vor sehr viele copyright-freie Texte zu finden sind)


    Ach ja, macht doch mal den Test und fragt Eure FreundInnen und Bekannten, in was denn nun Samsa verwandelt würde! Praktisch jeder antwortet mit "Käfer". Die Beschreibung, die Kafka gibt, klingt auch sehr danach. Aber er verwendet das Wort "Käfer" nie... Interessant, wie sich das menschliche Gedächtnis täuschen lässt...


    Karl May zu lesen, lohnt sich auf jeden Fall. Aber nur in offizinellen Dosen...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Meine Lieblings-Romananfänge z.Zt (da das Leseerlebnis noch frisch ist):


    „Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. .... Öl aus den Adern der Erde, Steinöl, Quallenblut, .... Krieg um Öl, Verschärfung im Konflikt ... Flugzeugträger im Persischen Golf. Das Öl hielt die Flieger am Himmel“


    aus dem Prolog zu „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen (toll wie Koeppen die Gegenwart mit alten Mythen – Odysee - verbindet - - und sehr modern, wenn man bedenkt das es in den 50er Jahren geschrieben wurde)


    „Er reiste im Schutz der Immunität, denn er war nicht auf frischer Tat ertappt worden.“


    Ein Satz (der erste) aus „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen und schon ist man mitten im Geschehen.


    Es war einmal eine Zeit, da hatten Götter in der Stadt gewohnt. Jetzt liegt Raffael im Pantheon begraben, ein Halbgott noch, ein Glückskind Apolls, doch wie traurig, was später sich ihm an Leichnamen gesellte ...


    Der Anfang von „Der Tod in Rom“ von Wolfgang Koeppen


    ikarus: Vielen Dank für den tollen Link


    Viele Grüße


    Hubert

  • Hallo zusammen,


    gerade wurde mir ein Link zum Thema „Romananfänge“ gepostet, der mir viel Freude macht, so dass ich ihn Euch nicht vorenthalten will. M. Kammerer hat hier Romananfänge gesammelt, die man erraten kann: die Lösung wird mit Autor und Titel angezeigt, wenn ihr mit dem Mauszeiger über den Text geht. Der Spaß nimmt natürlich mit der Anzahl der selbst erratenen Titel zu und ich wünsche Euch einen ähnlich großen, wie ich ihn hatte.


    http://www.matthias-kammerer.de/SonsQuiz.htm


    Gruß


    Hubert

  • Hallo Hubert
    Hallo zusammen


    der Link hat mir auch viel Spaß gemacht, vielen Dank.


    Moby-Dick ist auch darunter:

    Nennt mich Ismael.


    Kurz und einprägsam. Der 2. Satz ist etwas länger, aber animierend weiter zulesen:


    Ein paar Jahre ist's her - unwichtig, wie lang genau - , da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dacht ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen.


    der "wässerige Teil der Welt" - finde ich toll ausgedrückt.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • als max frisch - verfechter möchte auch ich einen romananfang beitragen


    und ich muss dabei zugeben ich war höchst erstaunt über diesen ersten satz aus dem roman "stiller"


    "ich bin nicht stiller"


    enderlin :smile:


    PS:kafkas anfänge sind in der tat sehr spannungs aufbauend

    mein lieblingsbuch deutscher sprache: mein name sei gantenbein
    <br />mein nicht deutsches lieblingsbuch: der englische patient

  • Hallo zusammen,


    ähnlich kurze, aber erstaunliche Romananfänge wie Max Frisch im Stiller, bringt auch der Schweizer Urs Widmer (Germanist und Romanist, Verlagslektor beim Suhrkamp Verlag, heute freier Schriftsteller)


    Sein Roman „Der Geliebte der Mutter“ beginnt mit dem Satz:
    „Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben“


    und sein Roman „Das Buch des Vaters“ noch kürzer mit:
    „Mein Vater war ein Kommunist“.


    Gruß von Hubert


  • Sehr interessant finde ich Goethes Anfang der Wahlverwandtschaften:


    "Eduard - so nennen wir einen reichen baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilsnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen."


    Wer sind wir? Wieso nennen wir ihn Eduard? Heisst er nicht so? Wer ist eduard? Er wird hier eingeführt.


    Sehr interessant finde ich den Anfang, wenn man den (beinahe) Schluss betrachtet:


    "Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen, freundschaftlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten? Endlich fand man ihn tot...."


    Am Anfang wurde er eingeführt und am Schluss kann man kaum seinen Tod erwarten...ENDLICH war er tot...

  • Kafkas Anfang beim Schloss finde ich auch sehr vielsagend:


    "Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das grosse schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstrasse zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor."


    K. wollte also an den Ort, an den er kam: Er kam an. Er wusste, wie es da aussah, sonst hätte er nciht empor geschaut, wo er eine 'scheinbare' Leere sieht. Alles wirkt so fremd und trotzdem häufen sich die Anzeichen, dass alles sehr bekannt ist.

  • Hallo allerseits


    1. Wir haben hier zwei Threads "Romananfänge" - ich nehme an, Jana hat versehentlich einen neuen gebaut. Kann sie mal jemand hier rüberbeamen?


    2. Ein anderer Thread hat mich darauf gebracht, doch mal den Romananfang meines aktuellen Buchs hier zu posten:


    Ihr Gynäkologe hat ihn mir empfohlen. Wie könnte es anders sein: Der beste Urologe in New York ist ein Franzose. Dr. Jean-Claude Vigneron: NUR NACH VEREINBARUNG. Also vereinbarte ich einen Termin.


    Wie hätte ich jemals wieder das Buch zur Seite legen können? :zwinker:


    :winken:


    Daniela

    &quot;Kunst und Unterhaltung sind verschwistert und keine Feinde.&quot; - John Irving

  • Max Frischs Romananfänge sind super. Ich habe den Homo Faber jetzt nicht vorliegen, aber da weißt der erste Satz schon auf die ständige Verspätung hin, mit der die Hauptfigur Walter Faber (der biologische Vater der Sabeth Piper/Faber??) ständig zu kämpfen hat. Den Sazt kann ich später noch mal nachliefern.


    Dann habe ich jetzt den "Großen Gatsby" vor mir liegen (aus der Reihe der Süddeutschen Zeitung). "In meinen jüngeren Jahren, als ich noch zarter besaitet war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir seitdem wieder und wieder durch den Kopf gegangen ist. >Bedenke<, sagte er, >wenn du an jemand etwas auszusetzen hast, dass die meisten Menschen es im Leben nicht so leicht gehabt haben wie du.<"
    Das ist ein schöner Satz. Da lernt jemand (und nimmt das auch an), dass er sich in die Situation anderer Menschen hineinversetzen sollte, bevor er irgendein Urteil über diese Person abgibt. Dieser Satz birgt zwar die Gefahr, dass sich die Figur selbst herabsetzen könnte, weil sein Leben angeblich leichter verlaufen sei, als das jedes anderen Menschen.


    Für mich ist der erste Satz in einem Roman sehr wichtig, denn er entscheidet darüber, ob ich weiterlesen möchte oder nicht.


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo zusammen,


    ganz frisch, da ich heute mit dem Buch begonnen habe:


    Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an...


    aus "Das Treffen in Telgte" von Günter Grass


    Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)