Was lest ihr gerade?

  • Mach mal und erzähl dann davon.

    Ich hab mir "Die andere Seite" mal zurecht gelegt und auch schon mal die ersten paar Seiten gelesen. Ich kann zwar noch nichts erzählen ;-), aber bei Youtube gibt es die Verfilmung von Johannes Schaaf (mit engl. Untertiteln). Den dt. Trailer gibt's auch – und der lässt fürchterliches ahnen: den Film werd ich mir wohl nicht ansehen, das wirkt schon alles sehr gewollt und mit großem "ich mach jetzt Kunst"-Gestus gedreht.

  • Ach, das wusste ich gar nicht, dass es den Film in voller Länge dort gibt. Ganz herzlichen Dank für den Link, giesbert . Ich habe den Film nämlich noch nie gesehen, Herr Zefira kennt ihn aus früheren Zeiten und hat mir mal davon erzählt. Den werde ich mir auf jeden Fall ansehen.


    Ich will in den nächsten Tagen eine Miniserie nach dem Roman "Alias Grace" von Margaret Atwood im Stream ansehen und die Gelegenheit nutzen, dem Buch vorher noch eine Zweitlektüre angedeihen zu lassen. Ich habe es vor zig Jahren schon mal gelesen und weiß noch, dass es jedenfalls leicht und fluffig wegzulesen ist.


    Da ich den ersten Teil von Gormenghast heute beendet habe, passt es gut. Ich weiß nicht, ob ich hier schon erzählt habe, dass ich mir ein englischsprachiges Buch mit Werken von Mervyn Peake bestellt habe. Er war ja im Grunde mehr Maler und Illustrator als Schriftsteller und hat viele bekannte Bücher bebildert, u.a. Romane von Stevenson und die beiden Alice-Bände. Ich habe mir im Internet etliche Seiten mit seinen faszinierenden, düsteren Zeichnungen angesehen und habe mir schließlich das Buch gegönnt, das seine Frau nach seinem Tod herausgegeben hat, "Peake's Progress". Es war nicht teuer. Ich bleibe in Gormenghast bis zum bitteren Ende (an den letzten Band habe ich ein paar grimmige Erinnerungen ...).

  • (an den letzten Band habe ich ein paar grimmige Erinnerungen ...).

    Den letzten noch von Peake geschriebenen Band oder den Schluss, den seine Frau an die Reihe angepappt hat? Peake wurde ja von seiner Krankheit (Parkinson) eingeholt und konnte "Gormenghast" nicht beenden.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • sandhofer : Den "angepappten" kenne ich nicht. Meine Ausgabe (Hobbit Presse) besteht aus drei Einzelbänden: "Der junge Titus", "Im Schloss" und "Der letzte Lord Groan", im Original "Titus Alone". Nach meiner Erinnerung spielt dieser letzte Band bereits nicht mehr im Schloss, ist wesentlich kürzer als die anderen beiden und auch stilistisch etwas anders, Im Nachwort heißt es, dass im Grunde auch dieser dritte Band nicht eigentlich "vollendet" ist in dem Sinne, dass Peake ihn als fertig zur Veröffentlichung erklärt hätte.


    "Peake's Progress" enthält, soweit ich es erschließen konnte, einige Erzählungen und Gedichte sowie Zeichnungen - hoffentlich viele, denn das war mein Hauptgrund für den Kauf. Ich habe übrigens in einem "Almanach" der Hobbit Presse noch eine Erzählung von Peake gefunden mit dem Titel "Dieselbe Zeit, derselbe Ort". Es geht darin um einen Mann, der sich immer wieder mit einer bezaubernden Frau trifft, und zwar jedes Mal in einem Restaurant am selben Tisch. Sie sitzt in der Ecke, halb vom Tisch verdeckt, und das ist die einzige Perspektive, aus der er sie zu Gesicht bekommt. Eigentlich ist die Heirat geplant, aber er lässt entsetzt davon ab, als er einmal zufällig durch das Fenster sieht, wie sie Platz nimmt - sie hat überhaupt keinen Unterleib und gehört zu einer Freakshow (ihre Freakkollegen tauchen gegen Ende noch einmal auf). Früher hielt ich diese Geschichte für die Vorlage zu Tod Brownings Film "Freaks", aber das kann schon zeitlich nicht sein. "Freaks" stützt sich auf eine andere Kurzgeschichte von einem Autor namens Clarence Robbins.


    ps. Von "grimmigen Erinnerungen" sprach ich oben übrigens deshalb, weil es im Nachwort zu diesem letzten Band heißt, dass Peake darin seine traumatisierende Erfahrung verarbeitet hätte, nämlich dass er als Berichterstatter bei der Befreiung des KZ Bergen-Belsen dabei war. Ich kann mich dumpf an mindestens eine Szene im dritten Band erinnern, die darauf anspielt - aber nur sehr dumpf, es ist mehr ein Gefühl als eine richtige Erinnerung. Die zweite Lektüre macht mir viel Freude, vor allem, weil ich deutlich merke, dass ich heute ganz anders lese als damals; einfach weil ich mehr Zeit habe.

  • Erzählungen von Joseph Roth, in der kleinen Auswahl bei dtv. Was Roth angeht, bin ich ein Spätberufener, aber eigentlich ist das ganz gut so, denn für die feine Firne der Rothschen Texte wäre ich früher vermutlich selbst nicht reif genug gewesen. Kurzum: ich bin einmal mehr schwer beeindruckt.


    MRR lobte ja einmal Roths Anteilnahme an seinen Personen, aber interessant ist auch das Maß der Distanz, das dabei er zu ihnen hält, daraus entsteht zugleich eine sachte Ironie. Sie ist ähnlich subtil, aber im Kern doch anders konnotiert als bei dem anderen großen Niedergangserzähler seiner Zeit, Eduard von Keyserling - weniger kühl, dafür zugeneigter.

  • es ist sehr originell, bildhaft geschrieben und hin und wieder scheint ein grimmiger Humor durch.
    Ich kann mich an vieles erinnern, aber im Moment nicht an das Ende.

    Inzwischen hab ich Kubins "Die andere Seite" wiedergelesen und kann da nur zustimmen ;-).


    Worum geht's? Darum:


    Der namenlose Ich-Erzähler, ein "Zeichner und Illustrator" Mitte 30, verheiratet, der sich "schlecht und recht durchs Leben" schlägt – Ähnlichkeiten mit Kubin dürften beabsichtigt sein ;-) –, erhält Besuch von einem Franz Gautsch. Gautsch stellt sich als Abgesandter von Claus Patera vor, der ein Schulfreund des Ich-Erzählers war.


    Patera ist zu – wortwörtlich – unermesslichem Reichtum gekommen und hat sein eigenes, von der Außenwelt komplett abgeschottetes Reich gegründet, das er "Traumreich" nennt und in das er ausgewählte Personen einlädt, die dort, so klingt es zumindest, von materiellen oder körperlichen Sorgen unbeschwert leben können.


    Alle Gegenstände und Gebäude in diesem Traumreich werden von Leuten wie Gautsch in aller Welt zusammengekauft und im Traumland wieder aufgebaut, wobei ausschließlich Altes gekauft wird, denn "alles Fortschrittliche" ist aus dem Traumreich verbannt. Das Traumreich soll eine "Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen" sein, auf keinen Fall "eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat".


    Der Ich-Erzähler gehört zu den Auserwählten und soll ins Traumreich kommen. Anfangs hält er Gautsch für einen Irrsinnigen, lässt sich aber überzeugen, als der ihm ein Porträt Pateras als Legitimation übergibt, ein Scheck über 100.000 Mark (eine ungeheure Summe!) tut ein übriges. Also machen sich der Erzähler und seine Frau auf die lange, beschwerliche Reise ins Traumreich, das irgendwo im asiatischen Raum angesiedelt und der Außenwelt praktisch unbekannt ist.


    Das Traumreich lässt sich nur durch ein Tor, "ein gewaltiges, schwarzes Loch" betreten. Beim Passieren überkommt den Ich-Erzähler "wie auf einen Schlag ein ganz unbekanntes, gräßliches Gefühl" und seine Frau flüstert: "Nie mehr komme ich da heraus".


    Mit einer Droschke (deren Kutscher aufgeweckt werden muss) kommt man in Perle, der Hauptstadt des Traumreichs an. Dort ist der Erzähler zuerst enttäuscht:

    Zitat

    Neugierig schaute ich auf die Straßen, durch die das schlechte Gefährt klappert. "Das soll Perle, die Hauptstadt des Traumreichs, sein?" – Meine Entrüstung war nur schlecht zu verhehlen. "So sieht es ja bei uns in jedem Drecksnest aus!" sagte ich voll Unlust und Enttäuschung und deutete auf die langweiligen Gebäude.

    Die Enttäuschung legt sich bald. Man mietet eine passende Wohnung und lebt sich allmählich ein. Der Erzähler bekommt bald ein äußerst lukratives Angebot, als Illustrator für eine Zeitung zu arbeiten, Geld hat er im Überfluss, alles scheint etwas seltsam, aber gut und angenehm.


    Auffallend ist, dass das Traumreich zwar ein mildes Klima bietet, aber über dem Land – von dem wir übrigens im Roman lediglich dessen Hauptstadt Perle kennenlernen, der Rest des Landes oder andere Städte und Dörfer werden gelegentlich erwähnt, spielen aber keine Rolle – hängt eine beständige Wolkendecke, die weder die Sonne noch den Mond oder den Sternenhimmel freigibt, es fehlen alle kräftigen Farben oder (auch meteorologische) Kontraste:

    Zitat

    Was in der Heimat in reichen Farben prangte, hier war es gedämpft, matt. Während bei den meisten Landschaften das Blau der Luft, mit dem Gelb des Bodens die Stimmung beherrschen und dazwischen die anderen tönen nur eingesprengt erscheinen, waren hier Grau und Braun vorherrschen. Das Beste, die Buntheit, fehlte. Harmonisch war das Traumland anzusehen, das mußte man zugeben.


    Der Wetteranzeiger stand immer auf "anhaltend trüb und schlecht", doch war eine warme, weiche Luft wie bei unserer Ankunft die Regel. Ähnlich gegensatzlos verhielten sich die Jahreszeiten. Ein fünf Monate langes Frühjahr – fünf Monate Herbst; dauerndes Zwielicht in der Nacht kennzeichneten den kurzen, heißen Sommer, endlose Dämmerungen und ein paar Schneeflocken den Winter.

    Es gibt bald Anzeichen dafür, dass in dem Traumland nicht alles zum Besten steht. Die Bewohner bewegen sich mitunter wie in Trance, sind "im Bann", in dem sie Albträume real durchleben, es gibt seltsame Rituale, bei denen Patera als "der Meister" angebetet wird, die Nachbarn des Erzählers sind eher eigenartig, die Versuche des Erzählers, seinen alten Schulfreund zu besuchen, scheitern in kafkaesken Szenen, der scheinbar lukrative Kontrakt des Erzählers erweist sich als wertlos, denn Geld kommt & geht: Wer auf der einen Seite durch einen Schnäppchenkauf oder eine riskante Spekulation zu Geld gekommen ist, verliert es dann auf seltsame Weise. Die Frau des Erzählers kauft etwa für einen Spottpreis von ein paar Kreuzern auf dem Markt umfangreich ein, gleichzeitig aber hat der Erzähler mehrere Gulden für einen Salzstreuer ausgegeben. Und irgendwann sind auch die 100.000 Mark des Erzählers einfach verschwunden. Ob gestohlen oder sonstwie abhanden gekommen, lässt sich nicht klären.


    Die angstvolle Ahnung seiner Frau erfüllt sich: sie erkrankt, es geht ihr immer schlechter, ein Versuch, zur Kur in die Berge zu fahren – und also Perle zu verlassen – scheitert, die Frau stirbt.


    Das ist ziemlich genau die Hälfte des Romans, die aus den beiden Teile "Der Ruf" und "Perle" besteht. Der letzte, dritte Teil füllt den Rest des Romans und beschreibt den "Untergang des Traumreichs". Der beginnt damit, dass mit Herkules Bell ein mächtiger, massiger Amerikaner mit unerschöpflichen Geldreserven das Traumreich betritt. Bell tritt von Anfang an als Gegenspieler Pateras auf und will ihn stürzen, es kommt zu Tumulten, Straßenschlachten usw.: "Es waren böse Zeiten", resümiert der Erzähler. (Wie Bell überhaupt zu den Auserwählten gehören konnte, die das Traumreich betreten dürfen, bleibt etwas unklar.)


    Das mit rund 80 Seiten bei weitem umfangereichste Kapitel im Teil 3 ist passend "Die Hölle" überschrieben. Hier wird in vielen visionären Bildern der unaufhaltsame Zerfall des Traumreichs beschrieben, der damit beginnt, dass alle Bewohner – bis auf Bell – in einen tagelangen Schlaf fallen. Aufgewacht stellen sie fest, dass die Stadt von den Tieren übernommen wurde, überall lauern wilde Bestien und Gefahren, es gibt Unmassen an Ratten, Schlangen, Würmern, Ameisen, Wanzen etc., alle Gebäude und Gegenstände zerfallen, zerbröseln und lösen sich auf, es gibt origiastische Szene, Totentänze etc. etc. Kubin lässt hier nichts aus.


    Hier gibt es auch den von Zefira erwähnten "grimmigen Humor". Zwei Beispiele.

    Zitat

    Zur Strafe wurde sie [= eine junge Nonne] auf eine eiserne Bettstellte gebunden. Kreaturen, strotzend vor Ungeziefer, mit abgefressenen Nasen, eiterigen Augen, faustgroßen Geschwüren, Kräzeschorf, beugten sich über die Gefesselte, die während dieser Schändung erst wahnsinnig wurde und dann starb. Die übrigen Nonnen unterwarfen sich gehorsam dem unerforschlichen Schicksal; nur der achtzigjährigen Oberin blieb diese Prüfung erspart, wohl infolge ihrer heißen Gebete.

    Oder:

    Zitat

    Lampenbogen wurde mit Hilfe eines Gasrohrs gepfählt. […] Der Wärter legte Feuer an, um die Spuren der Untat zu verwischen. So endete Lampenbogens Existenz als Spießbraten, und zwar als ein schlechter; der obere Teil war größtenteils roh, kaum gebräunt, die Bauchteile dagegen gänzlich verkohlt. Nur an den Seiten war er richtig knusprig.

    Das Traumreich versinkt endgültig im Dreck, es gibt keine Gebäude mehr, es bleibt nur eine Kloake aus Trümmern und Exkrementen.


    Der Ich-Erzähler konnte dem Untergang entkommen, weil er einer Gruppe rätselhafter, mönchsähnlicher Personen in die Berge gefolgt ist (hier kommt es noch zu einem visionären Showdown zwischen Patera und Bell und dem Tod Pateras). Diese Mönche werden als die "Blauäugigen" bezeichnet und sind die Ureinwohner des Landes, das Patera ihnen abgekauft hat. Das Verhältnis der Blauäugegen und Patera ist nicht ganz klar, sie scheinen ihn als Gottheit verehrt zu haben, aber das bleibt etwas offen. Diese Blauäugigen sind die Bewohner der Vorstadt, die von den Übrigen gemieden wird. Der Erzähler macht einmal einen Abstecher dorthin und beschreibt die Vorstadt als einen Ort, dessen Bewohner völlig regungs- und emotionslos Dinge betrachten (Assoziationen à la Meditation, Buddhismus, Trance, Nirvana etc. stellen sich das zwangslos ein).


    Am Schluss stellt sich der Ich-Erzähler noch die Frage, wessen Traum man da geträumt habe – war man in Pateras Traum gefangen, oder war Patera nur die Marionette der Blauäugigen? Die Frage bleibt offen.


    Der kurze, eineinhalbseitiger Epilog, in dem der Ich-Erzähler kurz seinen Taumel zwischen Todessehnsucht und Lebenslust beschreibt, endet mit diesem Absatz:

    Zitat

    Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt. Die Liebe selbst hat einen Schwerpunkt "zwischen Kloaken und Latrinen". Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen


    Der Demiurg ist ein Zwitter.

    Tja.


    Was macht man damit? Keine Ahnung ;-). Sollte man das lesen? Unbedingt! Es ist wirklich schade, dass Kubin nur diesen einen Roman geschrieben hat.

  • Zitat

    Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen

    Keine neue Erkenntnis, aber jedenfalls eine wichtige.
    Danke für die treffende Zusammenfassung. Ich habe auf dem Höhepunkt meiner Phantastik-Phase dieses Buch sehr gemocht, ebenso wie Poe, Strobl, Ewers, Perutz, Jean Ray, Blackwood und viele andere.
    Im Moment macht mir Mervyn Peake solche Freude, dass ich mich vielleicht nochmal diesem Genre zuwende. Ein paar Bücher in meiner Sammlung sind noch ungelesen. (Die neuere Literatur dieser Sparte gefällt mir meist nicht besonders.)

  • Ein paar Bücher in meiner Sammlung sind noch ungelesen.

    Ich hab ja beim ersten Lockdown angefangen, meine Bücher mal zu katalogisieren. Dabei hab ich auch viele Bücher aus dem Genre in die Hand genommen, deren Lektüre mir seinerzeit sehr gut gefallen hat (den genannten Blackwood, z.B.), und ein paar Bände, die ich noch gar nicht gelesen habe (aus DuMonts "Bibliothek des Phantastischen"). Kubin hat mich da jetzt ein wenig auf den Geschmack gebracht - vielleicht lese ich das alles nochmal bzw. erstmals. Und Mervyn Peake kenne ich überhaupt nicht. Das muss geändert werden ;-).

  • Ich habe für ein anderes Forum etwas zu Gormenghast geschrieben, ich werde es gleich mal hier präsentieren.
    Ich hatte ein wenig Angst vor dem Buch, das ich von der Erstlektüre her als eher bräsig in Erinnerung hatte - jetzt lese ich anscheinend ganz anders, einfach weil ich mehr Zeit dafür habe, es ist wirklich ein Genuss.


    PS. Aus "DuMonts Bibliothek des Phantastischen" habe ich übrigens zwei Bände von Robert Aickman. Das ist ein Autor, von dem ich begeistert war - seine Geschichten sind vielfältig deutbar, ich empfand sie als sehr inspirierend. "Glockengeläut" und "Die Züge" zum Beispiel sind lesenswert. Einen ähnlichen Stil verfolgt der österreichische Autor Wolfkind.

    Auch "Der Täter und der Tote" von Hugh Walpole, das ich 2019 hier vorgestellt habe, ist ein Buch dieser Serie.

  • Und nun ein Klassiker der englischen Literatur: "Die Memoiren des Barry Lyndon, Esquire", eine Art Schelmenroman von WIlliam Makepeace Thackeray. Er ist außerhalb der englischsprachigen Welt besonders durch Stanley Kubricks Verfilmung von 1975 bekannt geworden. In meinem Kindler-Lexikon, das auflagenmäßig aus den Anfang-Siebzigern stammt, steht er noch nicht drin.

  • Und nun ein Klassiker der englischen Literatur: "Die Memoiren des Barry Lyndon, Esquire", eine Art Schelmenroman von WIlliam Makepeace Thackeray. Er ist außerhalb der englischsprachigen Welt besonders durch Stanley Kubricks Verfilmung von 1975 bekannt geworden. In meinem Kindler-Lexikon, das auflagenmäßig aus den Anfang-Siebzigern stammt, steht er noch nicht drin.

    Eine exzellente Wahl. Ich habe Barry Lyndon übrigens immer klar besser eingeschätzt als "Vanity Fair".


    Barry Lyndon ist nur gut halb so lang, aber es geht hier viel konzentrierter vorwärts. Vanity Fair zeichnete ein Sittenbild, in dem Tugend und Verworfenheit auf zwei Antipoden verteilt werden, deren Lebensgeschichten sich umeinander winden. Auf diese Weise entstehen quasi reine Charaktertypen, allerdings geht die dichterische Erzählung dabei manchmal unvermeidlich in die Breite, müssen doch zwei Lebensläufe nebeneinander entwickelt werden. In Barry Lyndon vereinigen sich Tugenden und Untugenden des Helden in einer Person. Natürlich ist der Held ein Schuft, spiel- und trunksüchtig, verschwenderisch bis zum völligen Ruin; unfähig, seinen Beutel beisammen zu halten und kaltblütig im Verschwenden eines riesigen angeheirateten Vermögens; völlig skrupellos, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen geht, oder um das, was er seiner Ehre schuldig zu sein meint. Andererseits kann er großzügig sein, lässt in der Tat keine Spielschuld offen und pflegt genau den Glanz, den der Autor ganz offensichtlich an jenem 18. Jahrhundert so bewunderte. In dem Helden dieses Romans sind, eingefangen in dem Begriff des ländlich geprägten "Gentleman", gesellschaftlicher Anspruch und bäurische Sitten, vereinigt: der Grundtyp des "Snob", den Thackeray in seinem Episodenbuch der "Snobs" entwickelte. Barry Lyndon ist kein reiner Charaktertyp, er ist eine schillernde Figur, er ist ambivalent, und das macht ihn so viel interessanter als jede der beiden Hauptfiguren in Vanity Fair.


    Darin liegt auch der Grund für das konzentrierte Voranschreiten der fiktiven Selbsterlebensbeschreibung des Helden. Von der ersten Zeile an hat das Buch, gemäß dem Temperament seines Titelhelden und Ich-Erzählers, den Vorwärtsgang eingelegt, und bis auf eine Episode an einem deutschen Fürstenhof, die übrigens klar Bezug nimmt auf reale historische Vorgänge im Königreich Württemberg, behält es diese Richtung bei, bis zum bitteren Ende. So ein Roman ist recht nach meinem Geschmack.

  • Vielen Dank, Diaz Grey, für die erhellenden Ausführungen zum "Barry Lyndon". Bisher bin ich auch recht angetan, während ich "Vanity Fair" vor Jahrzehnten mit weniger Freude las. Ich weiß nicht mehr warum, das Geschehen ließ mich recht kalt und ärgerte mich teilweise.

    Die Ambivalenz Barry Lyndons drängte sich mir von Beginn an auch sehr stark auf. Daraus bezieht der Roman auch einen großen Teil seines Witzes, weil Barry in naiv-dreister Weise sich selbst lobt und in den Himmel hebt und direkt danach selbst seine moralische Verworfenheit offenlegt. Deshalb wirkt er auf den Leser auch nicht so abstoßend, sondern reizt eher den Lachsinn.

  • Vielen Dank, Volker, für den Hinweis auf Blackbourn's "Die Eroberung der Natur". Ohne die Empfehlung hier wäre ich nie auf die Idee gekommen, ein Buch zu diesem Thema zu lesen. Die Lektüre ist wirklich ein Vergnügen Mit einer Ausnahme. Obwohl mein Buch neuwertig antiquarisch ist, riecht es sehr unangenehm. Ich wüsste nicht, womit der Geruch vergleichbar wäre.

  • Obwohl mein Buch neuwertig antiquarisch ist, riecht es sehr unangenehm. Ich wüsste nicht, womit der Geruch vergleichbar wäre.

    Rührt der Geruch von der Lagerung her oder von der Herstellung?

    Ich hatte das auch schon gelegentlich, wenn ich Bücher antiquarisch gekauft habe. Es gibt ein paar Mittel, die Bücher zu entstinken:


    Wenn es nicht ganz so schlimm ist, kannst Du das Buch in Zeitungspapier wickeln und einen Tag in eine Packung mit Waschpulver oder Katzenstreu legen.

    Bei hartnäckigeren Fällen empfiehlt sich die Tiefkühlmethode: Buch in Zeitungspapier einschlagen, anschließend eng in einen Plastikbeutel und gut zukleben. Dann für 24 Stunden in die Tiefkühltruhe. Beim Auspacken etwas auffächern, dass evtl. Kondensationsfeuchtigkeit gut abziehen kann. Das wirkt sogar bei Büchern, die stark nach Rauch riechen.

  • Ich neige dazu, dass die Lagerung die Ursache ist, da das Buch überall denselben Geruch hat; auf den gedruckten Seiten, aber auch auf der Innenseite des Schutzumschlags. Jedenfalls ist es nicht so ein typisch muffiger Geruch, den viele alte Bücher haben. Ich werde wohl am besten gleich das Tiefkühlfach wählen. Ich hoffe, dass ein Buch diese Behandlung in einem lesbaren Zustand überlebt (gegen kalten Tabakgeruch soll es ja helfen). Danke für die Tipps!

  • Guter Ratschlag von mir: Nach dem Entnehmen aus dem Tiefkühlschrank erstmal vorsichtig händeln.
    Ich bekam vom Postboten ein Verlagsexemplar eines herrlichen Buches direkt in die Hand gedrückt, es war irgendwann im Januar bei tiefstem Frost, und als ich das Buch auf der Stelle auspackte und aufschlug, gab es einen hörbaren Krach. Das war vermutlich gefrorener Leim.
    Ich habe das Buch ganz vorsichtig bei Zimmertemperatur auftauen lassen, ehe ich es wieder in die Hand nahm; es hat auch keinen richtigen Schaden gelitten, aber jedenfalls bin ich jetzt vorsichtig. Viel Erfolg!

  • Da fällt mir eine Stelle ein, die ich kürzlich in Arno Schmidts "Julia" gelesen habe:

    (also etwas iss dran; denn die Einbände unsres Jahrhunderts sind ja zu kurzlebig: zuviel Chemie & miteinander unverträgliche Stoffe! Von denen wird keines 50–60 Jahre alt): »Das begann so um 1890, als ein Satan die ›Klammernheftung‹ erfand: die sind heut alle längst durchgerostet; die Bogen lose; große braunrote Flecken. ’s giebt ja kaum noch LeinenBände: alles ›Kunst‹=Stoffe! Die Schweinerei in nicht nur unserer Kultur, sondern auch unsrer Technik iss sa=gen=haft!«; (und ›das Volk‹ lebt=lumpt so darüber hinweg, daß es jetzt schon praktisch ›kein Holz!‹ mehr giebt; ›kein Leder‹; in ›echt Baumwolle‹ geht nur noch der HochAdel .....)

  • Da hat Schmidt durchaus Recht, und das ist noch schlimmer mit den Taschebüchern, insbesondere z.B. Fischer Taschenbücher aus den Siebziger Jahren. Die gehen im wahrsten Sinne des Wortes alle aus dem leim, wenn man sie jetzt noch mal anfasst.