August 2012: Theodor Fontane: „Stine“


  • Diese Passage, die ich zum Zeitpunkt meines kleinen Ausfluges in den Bereich der Polen-Motive noch nicht kannte, überzeugt mich jedoch nicht so recht.
    Zum einen ist der Hinweis auf die sächsisch-polnische Personalunion 1697-1763 unter den beiden August aus dem Hause Wettin (und der Regentschaft König Friedrich Augusts I. von 1807 bis 1812 im Großherzogtum Warschau, könnte man hinzufügen) im Zusammenhang mit dem Dresdener Wohnort der möglichen Kindesmutter zu weit hergeholt.


    Ich teile deine Bedenken. Überhaupt finde ich die Polenfrage sehr interessant und wir sollten die noch nicht aus den Augen verlieren.

  • Hallo liebe Mitleser,


    ich bin in den letzten Tagen nicht zum Lesen gekommen und das wird sich leider in den nächsten beiden Wochen nicht wirklich ändern.


    Ich wünsche euch daher noch sehr viel Spaß mit dem Buch, aber ich klinke mich an dieser Stelle aus. Zudem komme ich, wie ich schon erwähnt habe, mit diesem Fontane-Buch nicht so wirklich zurecht. Hoffentlich ändert sich das beim nächsten Buch von ihm.


    Katrin


  • Hallo Katrin,


    ich kann das verstehen. Es würde mir bei anderen Büchern, zu denen hier Leserunden durchgeführt werden, wahrscheinlich ebenso gehen.


    Vielleicht liest Du weiter mit und wir treffen uns bei der Lektüre eines anderen Buches wieder.


    Grüße von


    Karamzin

  • Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 20:40 »

    Vielleicht kannst du mir auch noch erklären warum es dann nicht „Borsigen seine“ heißt, also warum Schwarzkoppen seine, aber Borsig seine?


    Ich wusste, dass du das fragen würdest. :breitgrins:


    Zitat von Zitat von: Gontscharow am 13. August 2012

    Im Berliner Dialekt wird den Familiennamen gerne ein -en angehängt.


    Eben: Gerne , muss aber nicht! Die Doppelung wäre unschön und würde den Sprachfluss hemmen.
    Sehr informativ zu diesem Thema: [url=http://www.xlibris.de/Aufsatz/Autor/Fontane/Berolinismen%20in%20Fontanes%20Roman%20Irrungen,%20Wirrungen]Berolinismen in Fontanes Roman Irrungen und Wirrungen[/url] . Da steht auch etwas über Namen wie Lenen und Leneken statt Lene.
    Aber wenn selbst Holofernesssen dich nicht überzeugen konnte….

  • Nachdem schon gleich zu Beginn drei Leichenzüge Düsteres ankündigten, folgt eine weitere "Leidensankündigung". Waldemar schaut auf den ganz in der Nähe von Stines Wohnung zur Erinnerung an den Untergang der Segelkorvette "Amazon" errichteten Obelisken. Mehr als einhundert junge Matrosen fanden dabei im Jahr 1861 den Tod.


    Der junge Graf läßt sich von Stine die Bedeutung des Denkmals erklären.


    "'Ja', sagte der junge Graf, 'ich entsinne mich, lauter junge Leute.' Dann schwieg er wieder, und der Ton, in dem er gesprochen hatte, klang fast, wie wenn er sie mehr beneide als beklage."


    Waldemar war im Krieg gegen die Franzosen 1870 schwer verwundet worden. Fünf Jahre, heißt es an einer anderen Stelle, habe er in Italien gelebt und sich dort mit der Kunst vertraut gemacht.
    Unter den Kunstwerken, die er betrachtete, wird es zahlreiche gegeben haben, die an den Tod gemahnten.
    Aus der schwermütigen Rede des jungen Grafen könnte man so etwas wie Todessehnsucht heraushören. Dabei steht neben ihm eine Verkörperung des Lebens. Stine könnte wieder neues Leben hervorbringen.



    Das "Amazonendenkmal" wurde 1951 auf Geheiß der Berliner SED-Organisation abgerissen, also schon zehn Jahre vor dem Mauerbau.
    Es ist zu vermuten, dass es den Genossen als Symbol des "preußischen Militarismus" galt, das man beseitigen wollte, um den alten "Ungeist" auszutreiben. Dieser Absicht fiel auch das Berliner Stadtschloß zum Opfer.


    Auf einem gegenwärtigen Luftbild, das in Seilers Buch über Fontanes Berlin auf S. 81 abgebildet ist, sieht man an der Stelle, an der das Denkmal stand, einen freien Platz, dahinter die Bundesministerien für Wirtschaft und Verkehr. Das war bis 1989 alles unmittelbares Grenzgebiet. Von Stines Haus aus konnte man noch vielleicht etwa hundert Meter in Richtung Westen gehen, dann kamen Mauer und Grenzübergang. Es war ratsam, sich schon eine handfeste Begründung zurechtzulegen, wenn man sich scheinbar ziellos in dieser Gegend aufhielt. Allein das "Amazonendenkmal" suchen zu wollen, galt nicht als Begründung und machte den Spaziergänger nur verdächtig.


    http://www.hdg.de/lemo/objekte…nvalidenstrasse/index.jpg


  • Ich wusste, dass du das fragen würdest. :breitgrins:



    Sehr informativ zu diesem Thema: [url=http://www.xlibris.de/Aufsatz/Autor/Fontane/Berolinismen%20in%20Fontanes%20Roman%20Irrungen,%20Wirrungen]Berolinismen in Fontanes Roman Irrungen und Wirrungen[/url]


    Hallo Gontscharow,


    vielen Dank für den Link, zugegeben du hattest mich auch vorher schon überzeugt, aber da ich mir gedacht habe, dass du auf die eine Frage noch wartest, wollte ich dich nicht enttäuschen. :breitgrins:


    Grüße
    montaigne

  • Im 9. Kapitel erzählt Stine dem jungen Grafen von den Landpartien die ihr Arbeitgeber im Sommer zum Vergnügen der Belegschaft organisierte. Und einmal


    [i]Da wär' ein Dampfschiff gemietet worden, und die ganze Spree hinauf, an Treptow und Stralow und dann an Schloß Köpenick und Grünau vorüber, wären sie bis in die Einsamkeit gefahren, bis an eine Stelle, wo nur ein einziges Haus mit einem hohen Schilfdach dicht am Ufer gestanden habe. Da wären sie gelandet und hätten Reifen gespielt. Ihr aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen, daß sie nicht habe mitspielen können, wenigstens nicht gleich, weshalb sie sich unter eine neben dem Hause stehende Buche gesetzt und durch die herabhängenden Zweige wohl eine Stunde lang auf den Fluß und eine drüben ganz in Ampfer und Ranunkeln stehende Wiese geblickt habe, mit einem schwarzen Waldstreifen dahinter. Und es sei so still und einsam gewesen, wie sie gar nicht gedacht, daß Gottes Erde sein könne. Nur ein Fisch sei mitunter aufgesprungen und ein Reiher über die Wasserfläche hingeflogen. Und als sie sich satt gesehen an der Einsamkeit, habe sie die andern wieder aufgesucht und mit ihnen gespielt; und sie höre noch das Lachen und sähe noch, wie die Reifen in der Sonne geblitzt hätten.


    Der Ort wird hier zwar nur beschrieben und nicht benannt aber ich denke doch, dass die Teilnehmer der Leserunde „Irrungen, Wirrungen“ hier sofort Henkels Ablage erkannt haben. Fontane geht also anscheinend davon aus, dass wer „Stine“ liest, auch seine „Irrungen, Wirrungen“ gelesen hat.


  • Im 9. Kapitel erzählt Stine dem jungen Grafen von den Landpartien die ihr Arbeitgeber im Sommer zum Vergnügen der Belegschaft organisierte. Und einmal


    [i]Da wär' ein Dampfschiff gemietet worden, und die ganze Spree hinauf, an Treptow und Stralow und dann an Schloß Köpenick und Grünau vorüber, wären sie bis in die Einsamkeit gefahren, bis an eine Stelle, wo nur ein einziges Haus mit einem hohen Schilfdach dicht am Ufer gestanden habe. Da wären sie gelandet und hätten Reifen gespielt. Ihr aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen, daß sie nicht habe mitspielen können, wenigstens nicht gleich, weshalb sie sich unter eine neben dem Hause stehende Buche gesetzt und durch die herabhängenden Zweige wohl eine Stunde lang auf den Fluß und eine drüben ganz in Ampfer und Ranunkeln stehende Wiese geblickt habe, mit einem schwarzen Waldstreifen dahinter. Und es sei so still und einsam gewesen, wie sie gar nicht gedacht, daß Gottes Erde sein könne. Nur ein Fisch sei mitunter aufgesprungen und ein Reiher über die Wasserfläche hingeflogen. Und als sie sich satt gesehen an der Einsamkeit, habe sie die andern wieder aufgesucht und mit ihnen gespielt; und sie höre noch das Lachen und sähe noch, wie die Reifen in der Sonne geblitzt hätten.


    Der Ort wird hier zwar nur beschrieben und nicht benannt aber ich denke doch, dass die Teilnehmer der Leserunde „Irrungen, Wirrungen“ hier sofort Henkels Ablage erkannt haben. Fontane geht also anscheinend davon aus, dass wer „Stine“ liest, auch seine „Irrungen, Wirrungen“ gelesen hat.


    In dieser Schilderung ist nun über Stine zu lesen:


    "Ihr aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen ..."


    Wovon? Ist es der Eindruck von noch relativ unberührter Natur?


    Wieder war es um sie herum "still und einsam". Fontane erzeugt eine Atmosphäre der "Stille". Die Hauptheldin Stine und Waldemar mögen die Stille, die sie innerlich bereichert, im Kontrast zur Hektik der sie umgebenden Großstadt.


    (Mit meiner von einigen hier geteilten Leidenschaft für Adalbert Stifters "Nachsommer" muss ich an Natalies einsame Ausflüge denken, die ihr außerordentlich wichtig sind.)

  • Hallo,
    ich bin mittlerweile bei Kapitel 10 angelangt. Das Gespräch zwischen den beiden Schwestern zeigt ihre unterschiedlichen Lebenseinstellungen. Während Stine schwärmerisch und empfindsam ist, tritt Pauline eher als nüchtern und realistisch.


    Stine:
    Wenn er mir so gegenübersitzt, ist es mir oft, als ob wir die Rollen vertauscht hätten, und als ob ich eine Prinzessin wär´
    und könnt íhn glüclich machen.


    Pauline:
    Sieh, Kind [!], es sind mir so viele Mannsleute zu Gesichte gekommen, und wenn ich welche sehe, na, so kenn´
    ich sie gleich durch un durch un kann sie aussuchen wie Handschuh nach ihrer Nummer, un weiß gleich, was los is. Un mit dem jungen Grafen is nich viel los. Er is man schwächlich, un die Schwächlichen sind immer so un richten mehr Schaden an als die Dollen.


    Mir fällt auf, dass die realistische Einstellung von Pauline durch ihren berliner Dialekt unterstrichen wird.


    Erika


    :blume:

    Wer Klugheit erwirbt, liebt das Leben und der Verständige findet Gutes.
    <br />Sprüche Salomo 19,8


  • Hallo, Erika,


    in dem von Dir zitierten Ausspruch Paulines zeigt sich abermals, dass Fontane Paradoxien mag.


    Oben hieß es schon:


    Stine:


    "... ich will mich lieber mein Leben lang quälen und im Spital sterben als jeden Tag alte Herren um sich haben, bloß um Unanständigkeiten mit anhören zu müssen oder Anzüglichkeiten und Scherze, die vielleicht noch schlimmer sind."


    Jetzt Pauline:


    " .. un die Schwächlichen sind immer so un richten mehr Schaden an als die Dollen."



    Man fragt sich: Stimmt denn das, dass die kleinen Anzüglichkeiten und Scherze schlimmer sind als die Unanständigkeiten?


    Und dass die Schwächlichen mehr Schaden anrichten, als die Dollen?


    Der Leser hat jedenfalls erst einmal Stoff zum Nachdenken.


    Diese Sprüche charakterisieren, glaube ich, auch einen Zug der eingeborenen Berliner: die Vorliebe für flotte paradoxe Bemerkungen, die nicht einmal stimmen müssen, aber jedenfalls wie aus der Pistole geschossen daherkommen.


    Grüße


    Karamzin

  • Hallo,


    ich bin auch durch mit dem Roman (?), der Novelle (?), oder was immer es auch ist. Ich will hier nicht wieder eine "Schubladen"-Diskussion entfachen, stelle aber fest, dass Fontane in der Erstausgabe keine Bezeichnung wählte.


    Man sollte nach dem letzten Satz zum ersten Satz zurückkehren ("In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich"), dann wird einem das Entlarvende dieses Werkes erst richtig bewußt. Die gesellschaftlichen Mißstände und Widersprüche, die wir erfahren haben, sind ganz "gewöhnlich" und normal für die Zeit. Im Gegensatz zu "Irrungen, Wirrungen" fand ich das Ende nicht versöhnlich. Ähnliches ist ja auch in den beiden Ehebruch-Romanen festzustellen, L'Adultera und Effi Briest. Der spätere Roman endet auch hier härter und unversöhnlicher.


    Fontane ist für mich einer der großen Realisten und ich bedaure nicht, dass er Arno Schmidt nicht kannte. :breitgrins:


    Gruß
    Klaus


  • Und noch:


    Stine als "schwärmerisch und empfindsam" zu charakterisieren - ich weiß nicht so recht, wenngleich ich ja auch selbst auf eine Stelle hingewiesen habe, aus der Stines Empfindungsfähigkeit angesichts freier Natur hervorgeht.


    Ihr Alltag in einer Stube, in der sie vorwiegend mit Textilarbeiten beschäftigt ist, bedeutet schon ein beschränktes und durch die Umstände abgeschlossenes Dasein mit seltenen Gelegenheiten, das Milieu zu verlassen. Diese Umgebung wirkt ernüchternd.


    Was auf jeden Fall auffällig ist, dass sie abwartet, was wohl als nächstes von Waldemar kommen mag. Das entsprach so ziemlich der Rollenverteilung jener Zeit bei der Anbahnung eines Verhältnisses. Von ihr kommen keine Vorschläge. Wenngleich sie sichtlich die Idylle genießt, ahnt sie jedoch, dass dieses stille und bescheidene Glück nicht von langer Dauer sein würde.
    Ganz anders etwa die aktive Melanie aus "L'Adultera", die nicht in solchen bedrückten Verhältnissen aufgewachsen ist und großes Selbstbewußtsein entwickeln konnte.

  • Hallo zusammen,


    inzwischen habe ich meine Stine-Lektüre auch beendet. Es ist ja schon vieles geschrieben worden, vielleicht noch ein paar Worte zum jungen Grafen Waldemar. Er steckt schon seit Jahren in einer tiefen Einsamkeit. In seiner Familie ein Fremder, lernt er Herz und Liebe nicht kennen. Der Vater könnte sich für ihn einsetzen, doch der eheliche Frieden ist diesem wichtiger. Waldemars Zustand verschlechtert sich, als auch noch die physischen Leiden nach seiner Verletzung hinzukommen und er lange zwischen Leben und Tod schwebt. Unglücklich ist er auch während seines langen Italienaufenthaltes. Man erfährt nichts darüber, ob er außerhalb der Familie Anschluss hat. Regelmäßig besucht er ein Sommerlokal, spaziert an den Spreeufern und besucht Stine. Es scheint untypisch, dass er seinen Onkel überhaupt zu einem lustigen Abend begleitet.
    Mit Stine hat er dann endlich einen „Freund“ an seiner Seite, mit dem er reden kann. Ein Hoffnungsschimmer. Endlich hat er ein Ziel vor Augen, ein einfaches Leben mit Stine wäre sein Glück.
    Als daraus nichts wird, bricht die Welt des jungen Grafen gänzlich zusammen. Das schon lange parate Schlafpulver lässt tief in seine Seele blicken. Es ist ihm sicher nicht bewusst, aber er reißt Stine mit. Wie soll sie das denn machen, sich nicht anklagen?


    Gruß
    Eni


  • ... Interessant fand ich, dass einer der Exerzierplätze Grützmacher hieß. Die Schauspielerin nach einem Truppenübungsplatz zu benennen finde ich von Fontane nicht sehr charmant, aber wahrscheinlich der Wahrheit entsprechend und deutet möglicherweise darauf hin, dass Wanda und ev. auch ihre Freundin Pauline sich doch nicht nur mit einem Freier begnügten?


    Ich fand dann noch den Hinweis, dass Wanda ja literaturhistorisch auch nicht unbelastet sei – kann mir da jemand auf die Sprünge helfen? Mir fällt da spontan nur die Witwe Wanda von Dunajew aus „Venus im Pelz“ ein.


    Hallo Montaigne,
    in der dtv-Ausgabe (liest du diese nicht auch?) des Romans findet man im Anhang ebenfalls den Verweis auf den Exerzierplatz. Erst dachte ich du würdest mit deiner Vermutung zu den Freiern vielleicht etwas weit gehen, es heißt aber weiter in den Anmerkungen Wanda sei dem Berliner Witz „Ist denn kein Mann da/ Für meine Wanda?“ entlehnt. Deine Vermutung mag also gar nicht so falsch sein. Wanda ist schließlich auch der Liebling des Direktors und spielt alles was vorkommt…


    Zu Wanda heißt es weiter, dass der Name theatralisch vorbelastet sei durch die Sarmatenkönigin aus der Sage. Der Dramatiker Zacharias Werner hat ihr eine Tragödie gewidmet („Wanda. Königin der Sarmaten“). Darin hat sich Wanda verpflichtet nur ihrem Volk zu gehören und versagt sich ihrem Geliebten, tötet ihn auf Verlangen und wählt selbst den Tod in der Weichsel. In frühen Gedichten Fontanes spielt eine nicht weiter bekannte Vanda ebenfalls eine Rolle. Sie erscheint als verlorene Geliebte und spiegelt eventuell Fontanes Jugendliebe Minna Kraus wider.


    Gruß
    Eni


  • ich bin mittlerweile bei Kapitel 10 angelangt. Das Gespräch zwischen den beiden Schwestern zeigt ihre unterschiedlichen Lebenseinstellungen. Während Stine schwärmerisch und empfindsam ist, tritt Pauline eher als nüchtern und realistisch.


    Ob Stine schwärmerisch ist, weiß ich nicht, empfindsamer als Pauline ist sie ganz sicher.



    Leider habe ich es nicht selbst entdeckt, aber die dramatische Entwicklung von Fontanes Roman „Stine“ zwischen dem 10. und 14. Kapitel entspricht genau dem Aufbau eines klassischen Dramas in 5 Akten:


    Kapitel 10: Exposition
    Im Gespräch zwischen den Schwestern Pauline Pittelkow und Ernestine (Stine) Rehbein kündigt sich der dramatische Konflikt an.


    Kapitel 11: Komplikation
    Im Gespräch zwischen dem jungen Grafen und dem Baron steigert sich die Handlung


    Kapitel 12: Peripetie
    Im Gespräch zwischen dem jungen und dem alten Grafen kehren sich die Glücksumstände des jungen Grafen um. Die Handlung erreicht ihren Höhepunkt


    Kapitel 13: Retardation
    Im Gespräch zwischen dem alten Grafen und Pauline verlangsamt sich die Handlung. Ist die Katastrophe noch abzuwenden?


    Kapitel 14: Katastrophe
    Im Gespräch zwischen dem jungen Grafen und Stine wird der Konflikt nicht gelöst, alles läuft auf die Katastrophe zu..


  • ich bin auch durch mit dem Roman (?), der Novelle (?), oder was immer es auch ist. Ich will hier nicht wieder eine "Schubladen"-Diskussion entfachen, stelle aber fest, dass Fontane in der Erstausgabe keine Bezeichnung wählte.


    Wenn Fontane bei der Erstausgabe keine Bezeichnung wählte, bei der zweiten sich aber für Roman entschied, dann müssen wir bei „Stine“ von einem Roman und nicht von einer Novelle sprechen.



    Man sollte nach dem letzten Satz zum ersten Satz zurückkehren ("In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich"), dann wird einem das Entlarvende dieses Werkes erst richtig bewußt. Die gesellschaftlichen Mißstände und Widersprüche, die wir erfahren haben, sind ganz "gewöhnlich" und normal für die Zeit. Im Gegensatz zu "Irrungen, Wirrungen" fand ich das Ende nicht versöhnlich. Ähnliches ist ja auch in den beiden Ehebruch-Romanen festzustellen, L'Adultera und Effi Briest. Der spätere Roman endet auch hier härter und unversöhnlicher.


    Dass Fontane immer unversöhnlicher wurde, vor allem dem Adel gegenüber, das entspricht auch meiner Feststellung


  • Es ist ja schon vieles geschrieben worden, vielleicht noch ein paar Worte zum jungen Grafen Waldemar. Er steckt schon seit Jahren in einer tiefen Einsamkeit. In seiner Familie ein Fremder, lernt er Herz und Liebe nicht kennen. Der Vater könnte sich für ihn einsetzen, doch der eheliche Frieden ist diesem wichtiger. Waldemars Zustand verschlechtert sich, als auch noch die physischen Leiden nach seiner Verletzung hinzukommen und er lange zwischen Leben und Tod schwebt. Unglücklich ist er auch während seines langen Italienaufenthaltes. Man erfährt nichts darüber, ob er außerhalb der Familie Anschluss hat. Regelmäßig besucht er ein Sommerlokal, spaziert an den Spreeufern und besucht Stine. Es scheint untypisch, dass er seinen Onkel überhaupt zu einem lustigen Abend begleitet.
    Mit Stine hat er dann endlich einen „Freund“ an seiner Seite, mit dem er reden kann. Ein Hoffnungsschimmer. Endlich hat er ein Ziel vor Augen, ein einfaches Leben mit Stine wäre sein Glück.
    Als daraus nichts wird, bricht die Welt des jungen Grafen gänzlich zusammen. Das schon lange parate Schlafpulver lässt tief in seine Seele blicken. Es ist ihm sicher nicht bewusst, aber er reißt Stine mit. Wie soll sie das denn machen, sich nicht anklagen?


    Ja danke, Eni, du hast das Drama um den jungen Grafen sehr gut zusammen gefasst und du hast Recht, natürlich reißt er Stine mit herunter, wenn auch nicht absichtlich.


  • Hallo Montaigne,
    in der dtv-Ausgabe (liest du diese nicht auch?)


    Das war der Plan, aber noch bevor ich zu lesen begonnen hatte, habe ich das Buch verlegt und bis heute nicht wieder gefunden.



    des Romans findet man im Anhang ebenfalls den Verweis auf den Exerzierplatz. Erst dachte ich du würdest mit deiner Vermutung zu den Freiern vielleicht etwas weit gehen, es heißt aber weiter in den Anmerkungen Wanda sei dem Berliner Witz „Ist denn kein Mann da/ Für meine Wanda?“ entlehnt. Deine Vermutung mag also gar nicht so falsch sein. Wanda ist schließlich auch der Liebling des Direktors und spielt alles was vorkommt


    Unser Neumitglied vita activa hat ja weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass Fontane wegen der Nutten in „Irrungen, Wirrungen“ die Zeitgenossen empörte:



    Wenn es sexuell anstößige Passagen in dem Werk des Berliner Schriftstellers gibt (wie etwa in Irrungen, Wirrungen), dann ist die Empörung bei den Zeitgenossen dementsprechend groß. ;)


    In Stine musste Fontane also entsprechend vorsichtiger sein. Trotzdem gibt es viele Anspielungen, z.B. auch als der junge Graf das erste Mal Stine besucht, meint diese „Sie wollen sicher zu meiner Schwester“, warum frage ich mich, soll er zu Pauline wollen, na ja denke ich mir weil Stine ihn für einen Freier hält. Letztendlich liegt es im Auge des Betrachters welches Bild sich der Leser durch Fontanes Hinweise und Andeutungen von Wanda (für mich eine Sacher-Masoch-Wanda) und Pauline macht. Mein Bild ist folgendes:


    Da gibt es zwei Nutten, keine Edelprostituierten wie ich zuerst gedacht hatte, sondern ganz gewöhnliche Nutten, die sich den Markt aufgeteilt haben, während Wanda, mit Domina-Studio für die härteren Kerle (Soldaten) zuständig ist, versorgt Pauline eher den Adel. Bei größeren Orgien schließt man sich aber auch gerne mal zusammen.




    Zu Wanda heißt es weiter, dass der Name theatralisch vorbelastet sei durch die Sarmatenkönigin aus der Sage. Der Dramatiker Zacharias Werner hat ihr eine Tragödie gewidmet („Wanda. Königin der Sarmaten“). Darin hat sich Wanda verpflichtet nur ihrem Volk zu gehören und versagt sich ihrem Geliebten, tötet ihn auf Verlangen und wählt selbst den Tod in der Weichsel


    Der Germanist Prof. Dr. Andreas Degen von der Uni Potsdam beschäftigt sich in einem Aufsatz mit der Rezeption der Krakauer Fürstin Wanda bei Schiller, Hauff, Sacher-Masoch, Karl May, Fontane u.a.:


    http://www.staff.amu.edu.pl/~m…007_pdf/2007_06_degen.pdf


    Im Gegensatz zu mir, sieht Degen Fontanes Wanda allerdings nur als Gelegenheitsprostituierte.




    In frühen Gedichten Fontanes spielt eine nicht weiter bekannte Vanda ebenfalls eine Rolle. Sie erscheint als verlorene Geliebte und spiegelt eventuell Fontanes Jugendliebe Minna Kraus wider.


    Mir ist leider nur ein Fontane-Gedicht bekannt, bei der eine Vanda erwähnt wird, ich habe es im Gedicht-Thread hinterlegt:


    http://www.klassikerforum.de/i…22.msg51367.html#msg51367

  • Hallo,


    "Sie wollen sicher zu meiner Schwester" - diesen Ausruf Stines würde ich nicht so interpretieren, als sei Prostitution im Spiel. Waldemar ist ihr ja nicht unbekannt, sein erster Besuch bei Stine ist eine Fortsetzung seiner Teilnahme an dem feuchtfröhlichen Abend bei Pauline.


    Stine möchte bloß keine Fortsetzung des Spieles mit heiklen Andeutungen und losen Scherzen, wie es der alte Graf betrieben hatte. Während der Feier bei Pauline haben die beiden jungen Leute sicher schon voneinander mitbekommen, dass sie im Vergleich zu den anderen eher zurückhaltend sind. Im weiteren Verlauf des ersten Gesprächs unter vier Augen fasst Stine denn auch zunehmend Vertrauen zu dem jungen Grafen und teilt ihm mit, wie kritisch sie das von dem alten Grafen und dem Baron betriebene Gehabe beurteilt, ohne ihre Schwester zu belasten.


    Dass Fontane Probleme mit den Sittenrichtern in der Presse bekam, liegt m. E. eher in der Behandlung gesellschaftlich relevanter Themen. In "Stine" ist es die Kritik am Standesdünkel des Adels, der immer noch als eine staatstragende Schicht in Preußen galt, in anderen Romanen die Versorgungsinstitution Ehe, gegen deren Regeln zu verstoßen, gesellschaftliche Ächtung und unmenschlichen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehungen nach sich zog.


    Wenn es auch entsprechende Indizien geben mag, wäre ich vorsichtiger bei einer Interpretation, die Prostitution bei weiblichen Gestalten des Romans nahelegt, bei Pauline und auch Wanda, die nicht der Vorstellung von einer "gefallenen Frau" entsprechen. Es sind nach meinem Verständnis auf verschiedene Weise emanzipierte Frauen, die sich moralinsaurer Vorhaltungen adliger Lebemänner erwehren, die ihre angesichts des Fehlens von Ehemännern ungesicherte soziale Lage ausnutzen.

  • Durch die Begegnung mit Stine wird sich Waldemar bewusst, dass ihm in seinem bisherigen Leben Wesentliches fehlte. Ein Predigtamtskandidat traktierte ihn mit Gesangbuchliedern und Bibelsprüchen. Im Regiment habe er sich erst wohlgefühlt, wo nach einem langweiligen Garnisons-Alltag auf einmal Fertigkeiten im Töten gefragt waren.


    Stine hingegen habe ihn gelehrt, dass die Großstadt nicht nur ein Sünden-Babel sei, wie man auf den Gutshöfen der adligen Familien annahm, sondern die sogenannten "einfachen" Menschen unter den Städtern, die sich in ihre bescheidenen Verhältnisse gefunden haben, harmlosen Vergnügungen in naturnaher Umgebung nachgehen.


    In der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts gab es den Typ des "überflüssigen Menschen", eines Adligen mit guten Anlagen, aber ohne eine angemessene Betätigung, in verschiedenen Varianten: bei Puschkin und Herzen halten sie große Reden, bei Lermontow sind sie gleich bereit, sich zu duellieren oder sich im Kaukasus in Kriegsabenteuer zu stürzen, um eine feurige Tscherkessin zu erobern, der gutmütige Oblomow dämmert auf seinem Diwan dahin, während sein tüchtiger, als Romangestalt blaß bleibender Freund Stolz kapitalbringende Geschäftigkeit entfaltet ...


    Waldemar wirkt wie eine preußische Variante dieses Adelstyps eines "überflüssigen Menschen".