August 2012: Theodor Fontane: „Stine“

  • Hallo,


    ich bin jetzt mit den ersten 6 Kapiteln durch.


    Der Begriff "Fontanopolis" stammt von der Herausgeberin meiner Ausgabe, Christine Hehle:
    [kaufen='978-3351031237'][/kaufen]


    und spiegelt wider, wie wichtig der Berliner Hintergrund für diese und andere Fontanesche Romane ist. Es wird ja auch hier im Forum immer wieder betont.


    Mir gefiel das 1. Kapitel auch sehr und wie Vita Activa hatte ich den Eindruck einer filmischen Darstellungsweise. Der Blick aufs Haus, der Blick aus dem Fenster auf die Straße runter und zurück hoch zur Pittelkow, die von der Arbeit läßt, als sie den Briefträger sieht, die lästernde alte Lierschen, Olga und ihr Geschwisterchen (hab ich es überlesen, oder wird gar nicht genannt, ob es Junge oder Mädchen ist?): all dies macht einen sehr lebendigen, plastischen Eindruck auf mich, wie in einem Film.


    Die gesellige Runde der drei Frauen und drei Männer erinnert mich ein wenig an das Sextett, dem Lene und Botho bei Hankels Ablage in "Irrungen, Wirrungen" begegnete. Hier wie dort die Damen von kleinbürgerlicher, die Herren von adeliger Herkunft, hier wie dort mit Pseudonymen versehen (dort aus Schillers Jungfrau, hier aus Mozarts Zauberflöte). Dennoch sind Unterschiede vorhanden. Dort waren es Prostituierte (wie man zumindest mit Hilfe der Anmerkungen vermuten konnte), hier sind es Damen aus dem Kleinbürgertum, die sich von dem Verhältnis mit solchen Herren materielle Vorteile versprechen, aber nicht mit dem Herzen dabei sind. Das gilt zumindest für Pauline: sie reagiert widerwillig auf den Brief des "Ollen", ist immer verstimmt wenn von seiner Seite Witzeleien kommen, die sie nicht versteht. Andererseits ist wohl ein großer Teil der Wohnungseinrichtung von ihm. Dass es sich bei den beiden um ein intimes Verhältnis handeln muß (Fontane ist hier ja immer sehr zurückhaltend), geht für mich aus der Szene hervor, wie sie ihm auf seiner Halbglatze den Takt schlägt (Ende 5. Kapitel).


    Stine und der junge Graf sind wie Lene und Botho und gehören irgendwie nicht mit dazu: es gibt ja wieder ein sehr schönes Kapitelende (5. Kapitel):


    Nur der junge Graf und Stine schwiegen und wechselten Blicke.


    Wie Katrin war mir auch die kleine Olga aufgefallen. Sie erinnert mich etwas an die Tochter Melanie Van Straatens. So wie diese schon die Zukunft vorausahnte, bündelt Fontane auch hier den Unmut gegen die Verhältnisse der Erwachsenen in einem Kind. Es wird ihr viel an Arbeit aufgetragen, damit das gesellige Beisammensein der Erwachsenen gelingt und warum soll man dann nicht mal über die fehlenden Rosinen in einem Kuchen mäkeln dürfen?


    Gruß
    Klaus

  • Hallo Eni,
    hallo zusammen,



    Fontane platziert seine Figuren nicht vage in irgendeiner Stadt und auch nicht irgendwo in Berlin. Es ist eben genau die Invalidenstraße, genau die Nr. 98e, genau die erste Etage. Es erwartet den Leser also eine Geschichte, die sich ganz in seiner Nähe zugetragen haben könnte.


    Ja, Fontane ist ja ein Meister des Realismus und seine Romane spielen in einer realen Zeit an einem realen Ort. Mir gefällt das auch immer, dass uns Fontane nicht lange auf die Folter spannt, sondern gleich zur Sache kommt und uns sagt wo genau wir uns befinden und schon sind wir auch mitten drin in der Geschichte. Übrigens gab es damals in der Invalidenstraße die Hausnummern 98 bis 98d, Fontane hat die Nr. 98e dazu erfunden.



    Die ersten Seiten widmen sich der Beschreibung der Pittelkow und ihrer häuslichen Umgebung. Ich sehe Pauline förmlich mit ihren gerafften Röcken am Fenster stehen


    Auch das ein Merkmal des Realismus. Reale Personen werden geschildert die man sich direkt vorstellen kann. Allerdings kann das nicht jeder so gut wie Fontane. Übrigens war ihm die Pittelkow besonders ans Herz gewachsen, aber das ist ein weites Feld.


    Gruß
    montaigne


  • in meiner Ausgabe (dtv) fehlt das t schon im Romantext. Dann hätte Fontane selbst schlecht recherchiert. (?)


    Hallo Erika,


    im Romantext wäre es ja nur falsch, wenn Fontane tatsächlich die Maschinenbaufabrik Schwartzkopff gemeint hätte, aber genau das habe ich ja in Frage gestellt.



    Die "alte Lierschen" spricht "Schwarzkoppen": Das ist Berliner Dialekt.


    Heute sagt man auch in Berlin: "Mach dir keen Kopp". :zwinker:


    Hallo Karamzin,


    Kopp als Dialektwort für Kopf kennt man nicht nur in Berlin, sondern u.a. auch im Südwesten Deutschlands. Wenn die „alte Lierschen“ Schwarzkopp gesagt hätte, hätte ich keinen Zweifel, dass sie Schwarzkopf meint, aber sie sagt „-koppen“ und koppen für Kopf kenne ich nicht und deshalb habe ich in Erwägung gezogen, dass sie mit koppen ev. nicht Kopf sondern koppen meint.


    Hallo zusammen,


    ich denke wir sollten diese Diskussion dabei bewenden lassen, solange wir keinen Brief von Fontane finden wo er erklärt was er gemeint hat, können wir nichts beweisen und selbst dann würde uns das bei der Beurteilung des Romans wahrscheinlich nicht viel weiter bringen. Eins sollte aber klar sein, nur weil etwas in einer Anmerkung, einer Erläuterung oder einer Interpretation steht, muss es noch lange nicht stimmen.


    Gruß
    Montaigne


  • Die Wechselwirkung von Lärm und Stille lässt sich als erzähltechnischer Eingriff auffassen. Was man als rein auditiven Effekt wahrnehmen kann, lässt sich auch synästhetisch visuell begreifen.


    Hallo Vita activa,


    Karamzin hatte ich so verstanden, dass es in „Stine“ keine Wechselwirkung von Lärm und Stille gibt, da Fontane den Berliner Lärm ausblendet. Kannst du mal eine Stelle in „Stine“ angeben, wo Fontane zwischen Lärm und Stille wechselt um erzähltechnisch einzugreifen.


    Gruß
    Montaigne


  • Die gesellige Runde der drei Frauen und drei Männer erinnert mich ein wenig an das Sextett, dem Lene und Botho bei Hankels Ablage in "Irrungen, Wirrungen" begegnete. Hier wie dort die Damen von kleinbürgerlicher, die Herren von adeliger Herkunft, hier wie dort mit Pseudonymen versehen (dort aus Schillers Jungfrau, hier aus Mozarts Zauberflöte). Dennoch sind Unterschiede vorhanden. Dort waren es Prostituierte (wie man zumindest mit Hilfe der Anmerkungen vermuten konnte), hier sind es Damen aus dem Kleinbürgertum, die sich von dem Verhältnis mit solchen Herren materielle Vorteile versprechen, aber nicht mit dem Herzen dabei sind. Das gilt zumindest für Pauline:


    Hallo Klaus,


    zumindest mit Blick auf Pauline, müsste man den Begriff Prostituierte mal definieren.


    Gruß
    montaigne

  • Hallo Klaus,


    zumindest mit Blick auf Pauline, müsste man den Begriff Prostituierte mal definieren.


    Gruß
    montaigne


    Hallo Montaigne,


    ich nehme an, dass es hier über den Begriff der Prostituierten wenig Dissens gibt. In Bezug auf Pauline habe ich ihn auch nicht gebraucht, würdest Du es tun?


    Natürlich kann man Begriffe immer sehr weit fassen und dann auch Frauen, die Beziehungen hauptsächlich wegen materieller Vorteile eingehen, als Prostituierte bezeichnen. Aber dies würde ich nie tun. Könnte man dann nicht auch eine Melanie Van der Straaten zu dieser Kategorie zählen?


    Gruß
    Klaus


  • Kopp als Dialektwort für Kopf kennt man nicht nur in Berlin, sondern u.a. auch im Südwesten Deutschlands. Wenn die „alte Lierschen“ Schwarzkopp gesagt hätte, hätte ich keinen Zweifel, dass sie Schwarzkopf meint, aber sie sagt „-koppen“ und koppen für Kopf kenne ich nicht und deshalb habe ich in Erwägung gezogen, dass sie mit koppen ev. nicht Kopf sondern koppen meint...


    Das hält man ja im Kopp nicht aus! :breitgrins: Bitte verzeiht, wenn ich mich einmische. Im Berliner Dialekt wird den Familiennamen gerne ein -en angehängt, besonders wenn sie im Dativ oder Akkusativ stehen. Also Schwarzkoppen seine statt die Arbeiter von Schwar(t)zkopff. So spricht die alte Lierschen schon in ihrer ersten Tirade von der Witwe Pittelkow als von der Pittelkow’n: Was der Pittelkow’n wieder einfällt… Selbst Holofernes (der von Judith und Holfernes) ist davor nicht sicher. Im zehnten Kapitel sagt die Pittelkow:…..als… Wanda Holofernessen köppte(köpfte)…. Das ist für mich bester Fontane -Sound…

  • Schon in Fontanes frühem Roman "Vor dem Sturm" spielt das Polen-Motiv eine große Rolle.
    Zum preußischen Adel, dem Fontanes besonderes Interesse galt, gehörten zahlreiche Geschlechter polnischer Herkunft, wie unschwer an den Familiennamen zu erkennen ist. Einige Vertreter dieser Geschlechter brachten den Gedanken der Freiheit und des Konstitutionalismus nach Preußen, während alteingesessene preußische Adelsherren eher auf die Freundschaft mit dem autokratisch regierten Russland setzten, wo es nach "Juchtenleder" roch ("Schach von Wuthenow").


    Sympathien für die Polen, die nach dem gescheiterten Kosciuszko-Aufstand von 1794 und der Dritten Teilung Polens 1795 keinen eigenen Staat mehr hatten, waren in Berlin wie in anderen deutschen Territorien sehr stark ausgeprägt. Die Sehnsucht nach einem einheitlichen Nationalstaat einte. 1830/31 brach wieder ein Aufstand in Polen aus, der von den Zarentruppen unter Duldung durch das preußische Königtum niedergeschlagen wurden. Tausende Polen zogen ins Exil und wurden zum Teil begeistert empfangen. Denken wir an Gottfried Kellers "Leute von Seldwyla". Beim Hambacher Fest 1832 wurde nicht nur ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen gezeigt, sondern auch die Fahne Polens und die Trikolore des republikanischen Frankreich.

    Der Aufstandsführer Tadeusz Kosciuszko war ein gefeierter Feldherr.
    Vgl. Robert F. Arnold: Tadeusz Kosciuszko in der deutschen Literatur. Berlin 1898.


    Das Singspiel "Der alte Feldherr", der bei der Feier im Haus Pauline begeistert gesungen wurde, stammte von Karl von Holtei (1798-1880), dessen Schaffen man eher mit "Biedermeier" in Verbindung bringt. Es wurde 1825, schon vor dem Aufstand von 1830, erstmals aufgeführt. Das Stück "Denkst du daran, mein tapferer Lagienka" erfreute sich wie das hier gesungene "Fordre niemand, mein Schicksal zu hören" überaus großer Popularität in der Revolutionszeit 1848, die Fontane hautnah in Berlin erlebt hatte, und in der es in Polen abermals unruhig wurde..


    In Paulines Wohnung hing ein riesiges Ölgemälde, das "wenigstens hundert Jahre alt war und einen polnischen oder litauischen Bischof verewigte, hinsichtlich dessen Sarastro schwor, daß die schwarze Pittelkow in direkter Linie von ihm abstamme."


    (Einen solchen Bischof hat es gegeben: Ignacy Krasicki, 1734-1801, Bischof von Ermland, der die besondere Gunst Friedrichs II. genoß, weil er geistreich plaudern und französische Gedichte verfassen konnte. Fontane mag dabei an diesen gedacht haben; mit den "hundert Jahren" kommt es hin.)


    Wer zuvor gelesen hatte: "Die brünette Witwe war das Bild einer südlichen Schönheit, während die jüngere Schwester als Typus einer germanischen, wenn auch freilich etwas angekränkelten Blondine gelten konnte", wird zum einen darüber belehrt, dass Paulines Vorfahren eher nicht aus Italien stammten. Allein die slavische Endung "-ow" in ihrem Namen gilt nicht, denn der Name war angeheiratet.
    Zum anderen sollte man bei Fontanes Worten von der Hauptfigur als einer "germanischen Blondine" kurz innehalten und sich fragen, inwieweit man bei der Betrachtung dieser Wortwahl schon von unheilvollen späteren Äußerungen eines Rassendünkels, vom Germanenkult nach 1933, auf frühere Äußerungen Fontanes zurückschaut, der allerdings von solchen späteren Auswüchsen noch nichts wissen konnte. Der damalige Leser verband mit der "Blondine" eher den Ausdruck der "Unschuld", während eine schwarze Schönheit eher Unruhe in norddeutsche Gefilde hineinzubringen schien.


    Ferner standen in Paulines Zimmer zwei "jämmerliche Gipsfiguren, eine Polin und ein Pole, beide kokett und in Nationaltracht zum Tanze ansetzend", billige Massenware, die sicher von der Polenliebe der Witwe Pittelkow zeugen mochte.

  • Hallo Montaigne,

    Karamzin hatte ich so verstanden, dass es in „Stine“ keine Wechselwirkung von Lärm und Stille gibt, da Fontane den Berliner Lärm ausblendet. Kannst du mal eine Stelle in „Stine“ angeben, wo Fontane zwischen Lärm und Stille wechselt um erzähltechnisch einzugreifen.


    Der "Lärm", der in dem Erzählwerk Stine erzeugt wird, zeigt sich bereits am ersten Satz, indem von "klingelnden Pferdebahnwagen" und dem mittäglichen Gang der "Maschinenarbeitern" gesprochen wird. Interessant ist, dass diese Kulisse "gewöhnlich" charakterisiert wird. Wenngleich die Erzählinstanz in dem Roman nicht auf den Fabrikenlärm direkt eingeht, so deutlich sie den Berliner Lärm durch solche Details an. (Und von diesen Anspielungen lebt ja das Oeuvre Fontanes). - Und schon in der nächsten Passage haben wir das Ungewöhnliche, den Fensterputz, der von dem "alten Lieschen" angesprochen wird.


    Vita activa

  • Sowohl Pauline als auch Wanda wehren sich gegen das Spiel des alten Grafen und des Barons mit den Gestalten aus Mozarts "Zauberflöte". Die Witwe Pittelkow mißdeutet die Bezeichnung als "Königin der Nacht", weil sie die Oper offensichtlich nicht kennt. Sie erblickt darin eher eine Herabsetzung, eine Anspielung auf etwas Gemein-Unsauberes in ihrem Abhängigkeitsverhältnis vom Grafen.
    In Mozarts Oper ist die "Königin der Nacht" eine freimaurerisch inspirierte hoheitsvolle Verkörperung eines mystisch aufgeladenen Dunkels, das dem Licht der Aufklärung weichen muß. Das Humanitätsideal Mozarts in der "Zauberflöte" ist ihm (kurz vor seinem Tode)ein ernstes Anliegen, der Klamauk mit dem Pärchen Papagena/Papageno erfreute das Herz des Wiener Bühnenpublikums, das an solche Späße gewohnt war.


    Jaqui - das müsste Dir doch aus Wien so bekannt sein? :smile:


    Auch Wanda findet in Mozarts und Schikaneders Text "Die süßen Triebe mitzufühlen, ist dann des Weibes ernste Pflicht" nur eine Anspielung, der sie sich als Bühnenkünstlerin nicht aussetzen mag.
    Ein bißchen mag man sich an das Frauenbild in Schillers "Lied von der Glocke" und "Ode an die Freude", an Goethes "Hermann und Dorothea" erinnert fühlen, das "Weib" schmiegt sich an. Wanda ist zwar von der Theaterdirektion abhängig, in der Gestaltung ihrer Rolle aber durchaus selbständig.


    Das Spiel mit der "Zauberflöte" birgt sicher noch viele andere Aspekte, die Ihr sicher auch entdecken werdet.


    Es gibt eine Einführung: G. H. Hertling: Theodor Fontanes Stine. Eine entzauberte Zauberflöte? Zum Humanitätsgedanken zweier Jahrhunderte. Bern/Frankfurt/Main 1982.

  • Hallo Karamzin,


    ergänzenswert finde ich noch den zweiten Akt der Zauberflöte, in der Sarastro Papageno in die Welt der vermeintlichen Dunkelheit einweiht. Und hier finden sich ja auch die "revolutionäre" Wertung: "Er ist mehr als Prinz! Er ist Mensch." Möglicherweise wird damit auf die ständische Kluft zwischen den Vertretern des adeligen Hauses Haldern und den kleinbürgerlichen Geschwistern Pittelkow angespielt?


  • Jaqui - das müsste Dir doch aus Wien so bekannt sein? :smile:


    Diese ganzen Anspielungen auf die Musik bleiben mir in diesem Ausmaß gänzlich verborgen, da ich kein Fan von klassischer Musik bin und daher diese ganzen Stücke nur dem Namen nach kenne.


    Leider liebt es Fontane viele Anspielungen durch Musik und Malerei dem Leser näher zu bringen. Vielleicht ist das der Grund warum ich in das Buch einfach nicht reinkomme. In den anderen, die ich bisher gelesen habe, fand ich das Thema nicht ganz so ausgeprägt.


    Katrin

  • Diese ganzen Anspielungen auf die Musik bleiben mir in diesem Ausmaß gänzlich verborgen, da ich kein Fan von klassischer Musik bin und daher diese ganzen Stücke nur dem Namen nach kenne.


    Leider liebt es Fontane viele Anspielungen durch Musik und Malerei dem Leser näher zu bringen. Vielleicht ist das der Grund warum ich in das Buch einfach nicht reinkomme. In den anderen, die ich bisher gelesen habe, fand ich das Thema nicht ganz so ausgeprägt.


    Katrin


    Hallo Katrin,


    mir erschließt sich auch längst nicht jede Anspielung Fontanes, die die Zeitgenossen noch verstanden hatten.


    Könnte es sein, dass Dich der Kontrast dieser beiden sehr unterschiedlichen Frauen, Paulines und Stines, als zentrales Thema der ersten Kapitel doch anzuziehen beginnt?


    Hier oben war schon die Rede von "Prostitution". Das liest sich sehr ernüchternd. Alle werden hier sicher übereinstimmen, dass Pauline keine Prostituierte ist, obwohl sie genötigt ist, von dem alten Zausel Unterstützung zu bekommen. Der überschüttet sie mit frivolen Anzüglichkeiten, inszeniert ein Spiel mit den Figuren aus der "Zauberflöte", das sie nicht versteht und nur verstört. Pauline ist keine "Salondame", die in diesem Spiel mitspielen würde.


    Für mich ist Pauline eine der interessantesten Frauencharaktere des späten Fontane.

    Sie setzt den vielfach so genannten "gesunden Menschenverstand" ein, wirkt nicht romantisch-verträumt, sie ist desillusioniert nach ihrer Jugend, die vom Tod ihres Mannes überschattet wurde, aus der sie ein Kind behalten hat, nur manchmal können ihr Nahestehende, wie Wanda, etwas aus ihrem Innern mitbekommen. Der alte Graf interessiert sich dafür überhaupt nicht, er will sich nur mit seinen Standesgenossen amüsieren und zeigen, wie gebildet er ist. Der Neffe als wahrer Kunstkenner quittiert dieses gockelhafte Gebaren nur mit einem müden Abwinken. Er beginnt sich für die zu interessieren, die still geblieben ist und keinesfalls im Vordergrund stehen will.


    Die Moralapostel, die sich sowohl unter den ehrgeizigen Kleinunternehmern (Polzin) als auch den von Fontane gern mit ihrem Dialekt eingeführten sogenannten "kleinen Leuten" (der "alten Lierschen") finden, sind neugierig, zerreißen sich die Münder und tratschen herum, weil sie die Moralvorstellungen ihrer Zeit verinnerlicht haben, wonach sich eine Frau "züchtig" zu verhalten habe. Wer aus ihrer kleinen Welt ausbricht, wird neugierig beäugt und am Ende mitleidslos in seinem als selbstverschuldet erscheinenden Unglück abgeurteilt.


    Bei Stine scheint alles klar zu sein. Sie meint im traditionellen, durch den Katechismus abgesicherten Sinne, dass der Mensch von Arbeit zu leben hat.
    Bei ihr musste ich immer an die "Stickerin" des russischen Malers Tropinin denken. Aber das ist jetzt auch wieder etwas aus der Bildenden Kunst und würde wegführen vom Thema.


    Viele Grüße


    Karamzin

  • Hallo Jaqui,


    die Werke Fontanes sind trotz aller Anspielungen auf historische Sachverhalte, moralische Wertungen so konzipiert, dass man sie ohne das nähere Hintergrundwissen verstehen kann. Allerdings gehören die 'sprechenden Namen' zu dem Lesevergnügen. Die Namen sind so gewählt, das man sich eine nähere Bedeutung darunter vorstellen kann. Lediglich sollte man einige Fluchtpunkte Berlins vor Augen haben, so dass man sich das Ambiente vorstellen kann.


    Hallo Karamzin,


    bei Fontane wiederholen sich die Entwürfe der Figuren so, dass sie teilweise auch austauschbar wirken. Die Protagonistin Stine erinnert doch stark an die Romanfigur Lene aus Irrungen, Wirrungen, während sich der Graf Haldern als alter ego von Botho deuten lässt. Somit erscheinen diese Figuren eher als Träger bestimmter Ideen, auch als Entwurf eines Berliner Lokalkolorits. Doch gleichzeitig werde ich das Gefühl nicht los, als ob diese Gestalten vornehmlich aus der Vorstellungswelt Fontanes entspringen. Stine ist demnach so konzipiert, wie sich Fontane eine entsprechende Figur vorstellt. Für meinen Geschmack fehlt die Distanz zu den handelnden Gestalten, wie man sie z.B. bei Thomas Mann (mit Ausnahme seiner Goethe-Selbstinszenierung in Lotte in Weimar) nachempfinden kann.


    LG: Va

  • ... Doch gleichzeitig werde ich das Gefühl nicht los, als ob diese Gestalten vornehmlich aus der Vorstellungswelt Fontanes entspringen. Stine ist demnach so konzipiert, wie sich Fontane eine entsprechende Figur vorstellt. Für meinen Geschmack fehlt die Distanz zu den handelnden Gestalten, wie man sie z.B. bei Thomas Mann (mit Ausnahme seiner Goethe-Selbstinszenierung in Lotte in Weimar) nachempfinden kann.


    LG: Va


    Dass die handelnden Gestalten vorwiegend der Phantasie des Autors entspringen, dürfte für die Werke vieler Autoren, wenn nicht die der meisten, zutreffen. In einem anderen Thread hier ging es um Stifters "Nachsommer", in dem der Autor eine Vorgebirgslandschaft, das Hochgebirge und die Stadt Wien mit Gestalten seiner Phantasie bevölkerte. Nur in der Erzählung einer älteren Hofdame kommt Kaiser Franz vor.
    Rousseau hat in seinen "Bekenntnissen" direkt geschildert, wie er sich auf einsamen Spaziergängen seine Helden, ein Liebespaar, erträumte, herbeiphantasierte (während in seiner bescheidenen Behausung die - nun etwas herbe - Therese Levasseur mit dem Essen auf ihn wartete). Daraus wurde die "Neue Heloise", die ganz Europa zu Tränen rührte und sogar Immanuel Kant von seinem gewohnten Spaziergang ausnahmsweise abhielt.


    Von den Werken Thomas Manns ist nun "Lotte in Weimar" dasjenige, in der die meisten handelnden Figuren historische Gestalten sind, in deren Briefe und Erinnerungen sich der Schriftsteller bei seinen Vorbereitungen für den Roman vertiefen konnte (Goethe und Sohn August, Ottilie, Adele Schopenhauer, Riemer u. v. a.). Der erfundene schlesische Husar, der Kellner Mager, sind liebevoll skizzierte Randfiguren.


    Bei Fontane wiederum gibt es ja auch Werke, in denen die von ihm erfundenen literarischen Figuren mit realen Gestalten der Geschichte ins Gespräch kommen. In "Schach von Wuthenow" sind es neben den erfundenen Figuren Schach, Carayon Mutter und Tochter oder dem englischen Groom und anderen Bedienten gleich eine ganze Anzahl historischer Gestalten: König Friedrich Wilhelm III., Königin Luise, Prinz Louis Ferdinand, General Köckeritz, Bülow, Sander und Alvensleben u.a..
    In der späten "Cecile" wiederum scheut sich Fontane, den als Zeitgenossen lebenden Hofprediger Stoecker mit seinem Namen zu nennen.



    In "Stine" kommen meiner Erinnerung nach keine realen geschichtlichen Gestalten vor. Es fällt übrigens auf, dass der Familienname Haldern im Verlauf der Romanhandlung erst relativ spät eingeführt wird.


    Inwiefern die Geschichte von der unstandesgemäßen Heirat, für die Fontane, wie so oft, ein Vorbild in der Wirklichkeit gefunden hatte, auch von Angehörigen der Adelsgeschlechter aufgenommen wurde, die darin verwickelt waren und sich wiedererkennen konnten, wäre eine weitere, gar nicht so leicht zu beantwortende Frage.
    Die haben vielleicht Fontane auf ihren Adelssitzen gar nicht gelesen, und niemand hat ihnen gesagt, dass ihre Familie indirekt in eine Romanhandlung verwickelt ist. :zwinker:


    Viele Grüße


    Karamzin

  • Hallo Karamzin,


    Dass die handelnden Gestalten vorwiegend der Phantasie des Autors entspringen, dürfte für die Werke vieler Autoren, wenn nicht die der meisten, zutreffen.


    In der Tat dürfte niemand bezweifeln, dass die geschaffenen Figuren das Produkt von Gedankengängen ihrer jeweiligen Autoren (bzw. Autorinnen!) darstellen. Die Frage bleibt jedoch, inwieweit sich die Signatur des jeweiligen Verfassers in den handelnden Gestalten abzeichnet. Bei den Gestalten Fontanes ergeben sich viele Gemeinsamkeiten, so dass man auf die Eigentümlichkeit des Verfassers schließen kann.


    LG: Va


  • ich nehme an, dass es hier über den Begriff der Prostituierten wenig Dissens gibt. In Bezug auf Pauline habe ich ihn auch nicht gebraucht, würdest Du es tun?


    Na ja, da müsste man den Begriff wirklich erst einmal definieren. Da dieser Begriff in letzter Zeit mehrere Male einen Bedeutungswandel durchlief, bin ich mir nicht sicher, ob jede(r) darunter dasselbe versteht. Die amtsdeutsche Umschreibung für Prostituierte war früher z.B. „Person mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“, das trifft heute sicher nicht mehr ins Schwarze. Tatsache ist, dass wenn auch nicht ausgesprochen, aber angedeutet, Pauline von dem alten Grafen lebt, sie hat sonst keine Einkünfte, und ihm dafür sexuell zur Verfügung steht. So was nennt man heute „Edelprostituierte mit Stammfreier“.



    Natürlich kann man Begriffe immer sehr weit fassen und dann auch Frauen, die Beziehungen hauptsächlich wegen materieller Vorteile eingehen, als Prostituierte bezeichnen. Aber dies würde ich nie tun. Könnte man dann nicht auch eine Melanie Van der Straaten zu dieser Kategorie zählen?


    Melanie lebt in einer Ehe und ist ihrem Ehemann zehn Jahre lang treu und auch von ihrem späteren Geliebten wird sie nicht bezahlt. Da käme mir der Begriff Prostituierte niemals in den Sinn.


  • Vielen Dank, Karamzin, für deine Ausführungen zum Polen-Motiv in Fontanes „Stine“ Es ist schon erstaunlich wie viel Anspielungen Fontane in einem kleinen Werk unterbringt und man darf wirklich keinen Satz überlesen, wenn man nichts verpassen will.



    Sowohl Pauline als auch Wanda wehren sich gegen das Spiel des alten Grafen und des Barons mit den Gestalten aus Mozarts "Zauberflöte". Die Witwe Pittelkow mißdeutet die Bezeichnung als "Königin der Nacht", weil sie die Oper offensichtlich nicht kennt. Sie erblickt darin eher eine Herabsetzung, eine Anspielung auf etwas Gemein-Unsauberes in ihrem Abhängigkeitsverhältnis vom Grafen.
    In Mozarts Oper ist die "Königin der Nacht" eine freimaurerisch inspirierte hoheitsvolle Verkörperung eines mystisch aufgeladenen Dunkels, das dem Licht der Aufklärung weichen muß. Das Humanitätsideal Mozarts in der "Zauberflöte" ist ihm (kurz vor seinem Tode)ein ernstes Anliegen, der Klamauk mit dem Pärchen Papagena/Papageno erfreute das Herz des Wiener Bühnenpublikums, das an solche Späße gewohnt war.


    Es gibt eine Einführung: G. H. Hertling: Theodor Fontanes Stine. Eine entzauberte Zauberflöte? Zum Humanitätsgedanken zweier Jahrhunderte. Bern/Frankfurt/Main 1982.


    Auch für deine Anmerkungen zur Zauberflöte und den Hinweis auf Hertlings „Eine entzauberte Zauberflöte“ vielen Dank


  • Der "Lärm", der in dem Erzählwerk Stine erzeugt wird, zeigt sich bereits am ersten Satz, indem von "klingelnden Pferdebahnwagen" und dem mittäglichen Gang der "Maschinenarbeitern" gesprochen wird. Interessant ist, dass diese Kulisse "gewöhnlich" charakterisiert wird. Wenngleich die Erzählinstanz in dem Roman nicht auf den Fabrikenlärm direkt eingeht, so deutlich sie den Berliner Lärm durch solche Details an.


    Ja, danke, Vita activa, du hast ja so Recht, bei Fontane kommt es vor allem auf die Anspielungen an, nichts wird direkt ausgesprochen, aber deshalb liebe ich ja Fontane, weil er immer das Mitdenken fordert


  • Leider liebt es Fontane viele Anspielungen durch Musik und Malerei dem Leser näher zu bringen. Vielleicht ist das der Grund warum ich in das Buch einfach nicht reinkomme. In den anderen, die ich bisher gelesen habe, fand ich das Thema nicht ganz so ausgeprägt.


    Hallo Katrin,


    aber im 4. Kapitel muss es doch auch bei dir geklingelt haben:


    [i]»Meine Gnädigste«, begann Papageno, »was dürfen wir demnächst an Neuigkeiten auf Ihrem Kunstinstitut erwarten?«
    »Unser Alter«, erwiderte Wanda, »will es mit einem Ausstattungsstück versuchen. Er meint, es sei noch das einzige...«
    »Da hat er recht. Ist es eine Reise nach dem Mond oder in den Mittelpunkt der Erde?«
    »Hoffentlich das letztere«, warf der alte Graf ein. »Ich bin für Mittelpunkte.«