August 2012: Theodor Fontane: „Stine“


  • "Sie wollen sicher zu meiner Schwester" - diesen Ausruf Stines würde ich nicht so interpretieren, als sei Prostitution im Spiel. Waldemar ist ihr ja nicht unbekannt, sein erster Besuch bei Stine ist eine Fortsetzung seiner Teilnahme an dem feuchtfröhlichen Abend bei Pauline.


    Gerade weil Waldemar für Stine kein Unbekannter ist, verwundert es, dass sie nicht in Erwägung zieht, er könne sie besuchen.




    Dass Fontane Probleme mit den Sittenrichtern in der Presse bekam, liegt m. E. eher in der Behandlung gesellschaftlich relevanter Themen. .


    Ist Prostitution kein gesellschaftlich relevantes Thema?




    Wenn es auch entsprechende Indizien geben mag, wäre ich vorsichtiger bei einer Interpretation, die Prostitution bei weiblichen Gestalten des Romans nahelegt, bei Pauline und auch Wanda, die nicht der Vorstellung von einer "gefallenen Frau" entsprechen.


    Ich bin ja nur froh, dass ich nicht der Einzige bin, der zu dieser Interpretation kommt. Auch Prof. Dr. Andreas Degen, der sich möglicherweise mit dem Roman „Stine“ mehr beschäftigt hat, als wir beide zusammen, spricht ja in seinem von mir verlinkten Aufsatz von der „koketten Gelegenheitsprostituierten Wanda“. Und was verstehst du unter einer „gefallenen Frau“, - ich dachte das Mittelalter wäre vorbei?




    Waldemar wirkt wie eine preußische Variante dieses Adelstyps eines "überflüssigen Menschen".


    Ich halte die Bezeichnung „überflüssiger Mensch“ für gefährlich und möchte sie schon überhaupt nicht auf Waldemar anwenden.

  • Ich halte die Bezeichnung „überflüssiger Mensch“ für gefährlich und möchte sie schon überhaupt nicht auf Waldemar anwenden.


    Selbstverständlich ist kein Mensch überflüssig. Diese Bezeichnung für einen literarischen Typ hat sich in bezug auf die russische Literatur eingebürgert. Diese Adligen fühlen sich als nirgendwo so richtig angekommen und finden kein ihren Fähigkeiten angemessenes Betätigungsfeld. Solche literarischen Figuren einzuführen, ist auch Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die nicht nur nicht zulassen, dass die Leibeigenen ihre Köpfe erheben, sondern auch Teile des Adels zur Untätigkeit veranlassen, wenn sie sich nicht auf das Geschäft des Totschießens einlassen oder Unternehmer werden.


    Auch in den Romanen des mit Fontane fast gleichaltrigen Ivan Turgenev (1818-1883) kommen sie vor. Bei den Adelsnestern Turgenevs und den brandenburgischen Adelssitzen Fontanes bin ich immer wieder auf viele Gemeinsamkeiten gestoßen; die beiden Schriftsteller haben einander ja auch wahrgenommen.


    Noch zur "gefallenen Frau": Damit meine ich auch nur eine den damaligen Moralvorstellungen entsprechende Erscheinung, die in die Literatur Eingang gefunden hat; kann sein, dass ich mich mehr in den Zeiten vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herumtreibe, in der solche Bezeichnungen anzutreffen waren.

  • An zwei Stellen in "Stine" berichtet Fontane mit seiner Liebe zum Detail von einem Spiegel.


    Am Fenster der Wohnung Stines war ein "Dreh- und Straßenspiegel" angebracht, der bei einem Besuch Paulines "eine Quelle herzlichen Vergnügens für die hübsche Witwe wurde, nicht aus Eitelkeit (denn sie sah sich gar nicht), sondern aus bloßer Neugier und Spielerei".


    Mit Hilfe des Spiegels konnte man sehen, was auf der Straße geschah und wer dort entlang lief, ohne gesehen zu werden und ohne sich selbst zu betrachten.


    Später sah Waldemar "in dem Fensterspiegel, wie, die ganze Straße hinunter, die Gaslaternen aufflammten".
    Dazu bemerkte die Bewohnerin: "'Ich sehe', sagte Stine, 'der Spiegel tut es Ihnen auch an. Ich weiß das schon; es ist immer dasselbe.' Der junge Graf nickte."


    Es ist immer dasselbe, in diesen Spiegel zu schauen, ist schon eine Gewohnheit Paulines gewesen und jetzt auch die des jungen Grafen.
    In den Worten Stines kommt Fatalismus zum Vorschein.


    Als Waldemar im Anschluß Stine fragt, ob er wiederkommen dürfe, meinte sie, dass es besser wäre, er komme nicht. Hindern könne sie ihn freilich nicht. Sie müsse gegenüber ihrer Schwester Rücksichten nehmen.
    Das Verhängnis, in das sich Waldemar und Stine treiben lassen, nimmt seinen Lauf.

  • Für mich ist das die erste Leserunde. Im Moment scheint es nicht viel zu sagen zu geben.



    Liegt es allgemein an der Sommer-Wetter-Hitze- und Urlaubszeit?



    Liegt es daran, dass dieses kleine Kunstwerk schon recht bald, im Verlauf weniger Stunden gelesen ist?


    Findet man es ein wenig mühsam und in Folge nur wenig ergiebig, all den Anspielungen und Details bei Fontane nachzugehen?


    Fühlt sich der eine mit Andreas Degen in seiner These bestätigt, wonach sich bei einigen weiblichen Gestalten Prostitution nachweisen lässt, während der andere dem nicht weiter nachgehen will? :zwinker:


    (das ist der, der sich sowieso eher ungern auf kontroverse Diskussionen einlässt und lieber die Dinge auf sich beruhen lässt, wenn er nichts weiter beisteuern kann, was natürlich nicht gerade zu einer prickelnden Diskussion führt :breitgrins:)


  • Fühlt sich der eine mit Andreas Degen in seiner These bestätigt, wonach sich bei einigen weiblichen Gestalten Prostitution nachweisen lässt, während der andere dem nicht weiter nachgehen will? :zwinker:
    (das ist der, der sich sowieso eher ungern auf kontroverse Diskussionen einlässt und lieber die Dinge auf sich beruhen lässt, wenn er nichts weiter beisteuern kann, was natürlich nicht gerade zu einer prickelnden Diskussion führt :breitgrins:)


    Das könnte schon sein, dass der eine die Lust an einer Diskussion verliert, wenn der andere sich auf keine Diskussion einlässt, sobald nicht alle seiner vorgeprägten Meinung sind.
    :breitgrins:

  • Hallo zusammen,


    ich halte inne und habe das Buch zur Seite gelegt, weil ich einfach fertig bin.


    Die Handlung wurde von Anfang bis Ende besprochen (vielleicht kommt von euch noch etwas zum Ende?) und auch zwischen den Zeilen wurde viel entdeckt. Natürlich kann man sich noch jeden Satz vornehmen, aber dann wird es schwierig die Spannung für alle aufrecht zu erhalten.


    Ich wünsche euch noch viel Spaß, freue mich auf die nächste Runde und bin dann mal auf Reisen...


    Danke und Gruß
    Eni


  • Die Handlung wurde von Anfang bis Ende besprochen (vielleicht kommt von euch noch etwas zum Ende?) und auch zwischen den Zeilen wurde viel entdeckt. Natürlich kann man sich noch jeden Satz vornehmen, aber dann wird es schwierig die Spannung für alle aufrecht zu erhalten.


    Hallo Eni,


    vielen Dank für dein schönes Schlusswort. Ich sehe das genau so. Das Klassikerforum ist kein literaturwissenschaftliches Forum, sondern will interessierten Lesern, die nicht nur die Bestsellerlisten abarbeiten wollen, eine Plattform bieten sich über Literatur, Musik und Kunst zu unterhalten und insbesondere weil es einfach mehr Spaß macht, gute Bücher gemeinsam zu lesen. Dabei kann man Sachen die man selbst oder in Sekundärliteratur entdeckt hat erwähnen um diese den Mitlesern bekannt zu machen, ausdiskutiert müssen solche Entdeckungen aber nicht werden.



    Ich wünsche euch noch viel Spaß, freue mich auf die nächste Runde und bin dann mal auf Reisen...


    Du hattest ja an anderer Stelle schon erwähnt, dass du ab Ende August in Urlaub bist, ich wünsche dir also eine schöne, vielleicht sogar klassische Reise.


    Die nächste Fontane-Leserunde „Frau Jenny Treibel“ findet ja erst im Oktober/November 2012 statt. Ich denke dann ist dein Urlaub auch vorbei und würde mich freuen dich wieder in unseren Reihen zu wissen. Falls du Lust hast, kannst du dich beim Lesevorschlag zu „Frau Jenny Treibel“ eintragen und auch deine zeitlichen Prämissen äußern.


    LG


    montaigne.

  • Hallo Eni,


    vielen Dank für dein schönes Schlusswort.




    Nach dem Schlusswort will ich aber nicht unbedingt das letzte Wort haben wollen ... :zwinker:


    Nur damit keine Missverständnisse aufkommen, mit dem schönen Schlusswort war Enis persönliches Schlusswort zu dieser Leserunde gemeint, da sie jetzt in Urlaub fährt und nicht das allgemeine Schlusswort zu diesem Thread. Erika ist ja z.B. noch nicht fertig mit dem Roman und wird sicherlich noch ein abschließendes Fazit geben. Also es darf weiter diskutiert werden auch wenn Eni jetzt in Urlaub fährt.

  • Da sich bei der Stine-Leserunde anscheinend doch niemand mehr meldet, bleibt mir nur noch mich bei allen Teilnehmern zu bedanken, insbesondere natürlich bei Karamzin und bei Vita activa, für die es ja jeweils die erste Leserunde hier im Forum war und die beide mit ihren Beiträgen zur Belebung der Leserunde beigetragen haben.


    Nachdem die nächste Fontane-Leserunde noch einige Zeit auf sich warten lässt, habe ich mir überlegt einen anderen Autor zu lesen, der zur gleichen Zeit wie Fontane geschrieben und veröffentlicht hat, um mal einen Vergleich zwischen Fontane und seinen Zeitgenossen zu bekommen. Die erste Buchausgabe von „Stine“ erschien ja im April 1890 und einen Monat später, im Mai 1890, hat ein anderer deutscher Realist, Wilhelm Raabe, einen seiner bekanntesten Romane, „Stopfkuchen“ abgeschlossen. Hat jemand Lust bei diesem Roman mitzulesen. Im Klassikerforum wird Raabes Roman jedenfalls positiv beurteilt:



    Stopfkuchen ist für mich eines der grossen Leseerlebnisse überhaupt. Vielleicht sogar der beste deutschsprachige Roman. :zwinker: Jedenfalls habe ich selten einen Roman gelesen, der so präzise und ins Detail konstruiert worden ist, ohne dass man ihm diese Mühe anmerkt.


  • Da sich bei der Stine-Leserunde anscheinend doch niemand mehr meldet, bleibt mir nur noch mich bei allen Teilnehmern zu bedanken, insbesondere natürlich bei Karamzin und bei Vita activa, für die es ja jeweils die erste Leserunde hier im Forum war und die beide mit ihren Beiträgen zur Belebung der Leserunde beigetragen haben.


    Nachdem die nächste Fontane-Leserunde noch einige Zeit auf sich warten lässt, habe ich mir überlegt einen anderen Autor zu lesen, der zur gleichen Zeit wie Fontane geschrieben und veröffentlicht hat, um mal einen Vergleich zwischen Fontane und seinen Zeitgenossen zu bekommen. Die erste Buchausgabe von „Stine“ erschien ja im April 1890 und einen Monat später, im Mai 1890, hat ein anderer deutscher Realist, Wilhelm Raabe, einen seiner bekanntesten Romane, „Stopfkuchen“ abgeschlossen. Hat jemand Lust bei diesem Roman mitzulesen. Im Klassikerforum wird Raabes Roman jedenfalls positiv beurteilt:


    Hallo montaigne und die anderen,


    ich fand diese für mich erste Runde recht informativ, sie hat mir geholfen, so manches in Fontanes kleinem Werk besser zu verstehen.


    In dieser Woche reise ich ebenfalls ab, werde nur sporadisch im Internet sein und bin Anfang Oktober wieder im Lande.


    Den Vorschlag mit Wilhelm Raabe will ich mir noch überlegen. Obwohl er auch in dem Ort, wo ich mich in der Woche aufhalte, ganz in der Nähe wohnte, habe ich ihn für mich noch nicht näher erschlossen.


    Viele Grüße


    Karamzin