August 2012: Theodor Fontane: „Stine“

  • Morgen am Freitag, dem 10. August 2012 beginnt unsere gemeinsame Leserunde zu Theodor Fontanes Roman „Stine“



    Bisher haben ihre Teilnahme zugesagt:


    Erika
    Katrin
    Karamzin
    Klaus
    montaigne


    Weitere Mitleser und/oder Mitdiskutierer dürfen sich uns gerne anschließen.


    - und hier geht’s zum Materialien-Thread:
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4643.0.html


    Ich werde diesmal das dtv-Taschenbuch lesen.


    [kaufen='3423133740'][/kaufen]


    Es enthält neben dem Text einen ausführlichen Anhang mit Briefzeugnissen, Anmerkungen, Zeittafel, Nachwort u.a.


    Das Umschlagbild stammt von dem Impressionisten Max Liebermann: „Im Tiergarten Berlin“.

  • Hallo, guten Morgen!


    ich bin da, habe die Ausgabe in der Nähe liegen:


    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4601.0.html


    Ich hatte schon mehrere Mal "Stine" gelesen und bin gern bereit, es wieder zu tun.


    Als Vorbemerkung: man kann sich heute vielleicht kaum noch vorstellen, dass Fontane mit "L'Adultera" und dann auch mit "Stine" eine herbe Kritik in der Presse zu erwarten hatte. Etliche zeitgenössische Kritiker fanden, dass die darin geschilderten Verhältnisse skandalös, gegen alle Tradition und sittenwidrig seien. In bestimmten gehobenen Gesellschaftskreisen war der Hofprediger Stoecker tonangebend, der am Schluss in Fontanes "Cecile" als Romanfigur erscheint.


    Heute erscheint Berlin hingegen als Symbol für Offenheit und Toleranz, wird jedenfalls so hingestellt und in der Gestalt des jetzigen Regierenden Bürgermeisters so recht demonstriert, man ahnt, dass es Schattenseiten geben muß und auch früher gab.


    Wir sind durch unsere Lektüre über das Berlin der 1920/30er Jahre vielleicht gewohnt, eine quirlige, laute Stadt vor Augen zu haben, mit Kabaretts, Nachtbars, Tingeltangel, Akrobatik - dann kamen Inflation, Nazizeit und Zerstörung über die Menschen dieser Stadt, deren Grautöne auch nach dem Krieg nicht zu übersehen waren.
    Heute repräsentiert sich Berlin als weltoffene Stadt, mit einer bunten, gemischten Bevölkerung aus vielen Ländern, mit Parties und Christopher-Street-Day, mit Straßen, Kiezen, in denen ein bestimmter Bevölkerungstyp vorherrscht, und verträumten Randsiedlungen, über die immer mehr Flugzeuge brausen.


    Es heißt jetzt, mehr als ein Jahrhundert zurückzugehen und das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Augen Fontanes zu betrachten.


    Umgang mit Lärm und Stille
    In "Stine" besuchen wir das Berlin der Gründerzeit, nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71, der einen der Haupthelden seine Gesundheit kostete. In dieser Gegend um Invalidenstraße und Chausseestraße in Berlin-Mitte wohnen die Heldinnen des Romans oder der Erzählung. Da fahren klingelnde Pferdebahnen, aber es wird insgesamt immer leiser und stiller, eine Eigenart des alternden Fontane, auf die ich durch Seilers Buch aufmerksam gemacht wurde. Aber richtig, es sollen hier keine Deutungen vorweggenommen werden.
    Der Lärm, das Rauschen der Großstadt verschwinden immer mehr, und wir können den Gesprächen der handelnden Personen, ungestört durch Hintergrundgeräusche, zuhören.


    Die Gegend ist von der Industrialisierung geprägt, die Betriebe, die sich in der Nähe befinden und deren Arbeiter vorbeihasten, werden namentlich genannt, Borsig und Schwarzkopf. Die Proletarisierung hat sich verstärkt. Die neue Zeit ist angebrochen. Wenn man heute auf der Terrasse des Hauptbahnhofes sitzt, kann man den Straßenzug erkennen, die "Scharnhorststraßen-Ecke", wo die alte Lierschen wohnt, die "Pittelkown", wie wir später erfahren, Stine selbst, und wo ein zehnjähriges Mädchen einen Kinderwagen bewacht.


    Und dann kommen Leichenzüge. Gleich mehrere, in dieser ansonsten sehr belebten Gegend. Solche düsteren Vorahnungen kennt man aus anderen Romanen Fontanes.


    Unüberhörbar der Berliner Dialekt, der mehrere der handelnden Personen charakterisiert. Auch Stine selbst wird berlinern.

  • Danke Karamzin für diesen Einstieg. Ich war noch nie in meinem Leben in Berlin, kenne es nur aus Dokus und die sind wahrscheinlich heillos überzogen. Ich muss immer lachen wenn ich Dokus über Wien sehe. Das hat nichts mit dem wahren Leben zu tun.


    Aber seit ich die Berlinromane von Fontane lese, kann ich mir vorstellen, wie schwer sich andere zum Beispiel mit Doderer tun, die Wien nicht kennen.


    Aber zurück zum Thema: ich fange heute an und bin über solche Beschreibungen des damaligen Lebens sehr dankbar.


    Katrin


  • Es heißt jetzt, mehr als ein Jahrhundert zurückzugehen und das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Augen Fontanes zu betrachten.
    In "Stine" besuchen wir das Berlin der Gründerzeit, nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71, der einen der Haupthelden seine Gesundheit kostete……………..
    Die Gegend ist von der Industrialisierung geprägt, die Betriebe, die sich in der Nähe befinden und deren Arbeiter vorbeihasten, werden namentlich genannt, Borsig und Schwarzkopf. Die Proletarisierung hat sich verstärkt. Die neue Zeit ist angebrochen.


    Hallo Karamzin,


    auch von mir ein herzliches Danke schön für deine gute Einführung in Zeit und Ort des Geschehens. Interessant finde ich vor allem Fontanes Auseinandersetzung mit der Geräuschkulisse Berlins, auf die du hingewiesen hast.


    Um mich auf den Roman einzustimmen habe ich mich jetzt auch noch kurz mit der „Gründerzeit“, also der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befasst, eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der u.a. dem Eisenbahnbau zu verdanken war. Viele Unternehmen wurden gegründet, die auch heute noch Bedeutung haben. Für Berlin seien vor allem das 1837 gegründete Maschinenbauunternehmen Borsig und der 1847 als Siemens & Halske gegründete Elektrokonzern Siemens genannt. Das auf der ersten Seite des Romans erwähnte Unternehmen Borsig war während der Zeit der Dampflokomotiven der größte Lokomotivenlieferant in Europa. Dass mit der im gleichen Satz verwendeten Bezeichnung Schwarzkoppen das Unternehmen Schwarzkopf gemeint ist, kann ich mir allerdings nur schwer vorstellen. Zwar wurde das Unternehmen Schwarzkopf auch in Berlin gegründet, aber der Chemiker und Apotheker Hans Schwarzkopf brachte sein in mehrjähriger Arbeit entwickeltes Shampoo erst 1904 auf den Markt und da war Fontanes Roman „Stine“ längst geschrieben und veröffentlicht.


    Meiner Meinung nach sind mit „Schwarzkoppen seine“ die Soldaten des preußischen Offiziers Emil von Schwartzkoppen gemeint, der nach dem Deutsch-Französischen Krieg zunächst Militärgouverneur von Berlin und ab 1873 General der Infanterie war.
    „wo Borsig und Schwarzkoppen seine grade die Straße runterkommen“ wäre dann als „wo Arbeiter und Soldaten die Straße runterkommen“ zu lesen.


    Falls du aber für deine Lesart gesicherte Quellen hast, lasse ich mich da gerne belehren.


    [i]die schräg gegenüber an der Scharnhorststraßen-Ecke wohnende alte Lierschen brummte vor sich hin: »Ich weiß nicht, was der Pittelkow'n wieder einfällt. Aber sie kehrt sich an nichts. Un was ihre Schwester is, die Stine, mit ihrem Stübeken oben bei Polzins un ihren Sep'ratschlüssel, daß keiner was merkt, na, die wird grad ebenso. Schlimm genug. Aber die Pittelkow'n is schuld dran. Wie sie man bloß wieder dasteht und rackscht und rabatscht! Und wenn es noch Abend wär', aber am hellen, lichten Mittag, wo Borsig und Schwarzkoppen seine grade die Straße runterkommen. Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll; 'ne Sünd' und 'ne Schand.«


    Viele Grüße
    montaigne

  • Hallo alle zusammen,


    ich habe nun die ersten drei Kapitel gelesen und bin schon so richtig auf den Roman eingestimmt. Was ich aber von den Personen genau halten soll, weiß ich noch nicht so genau. Mir ist nur wieder aufgefallen, dass Fontane die Menschen über die Haarfarben beschreibt. Die eine ist blond und die andere, wenn ich mich jetzt recht erinnere, braunhaarig oder brünette.


    So wirklich kann ich noch mit keiner Figur was anfangen, aber die kleine Olga ist mir jetzt schon unsympathisch. Da bekommt sie was gratis und dann bemängelt sie, dass keine Rosinen drin sind.


    Leider ist in meinem schönen neuen Reclam-Büchlein "Interpretationen zu einigen Fontane Novellen" gerade dieses nicht drin. Daher bin ich auf eure Interpretationen gespannt.


    Katrin

  • Hallo,
    nachdem sich "die üblichen Verdächtigen" einer Fontane-Leserunde versammelt haben; ;)
    möchte ich mich auch zu Wort melden. Ich habe heute die ersten drei Kapitel gelesen. Es geht ohne lange
    Vorrede gleich ins Geschehen hinein. Man hat gleich das Gefühl, in der Invalidenstraße zu stehen und der
    alten Lierschen über die Schulter zu blicken.


    Ich lese diesmal nach der Ausgabe von dtv, die zum Glück mit Anmerkungen versehen ist.


    Jaqui:
    Ich habe einen Reclamband "Literaturwissen. Theodor Fontane". Leider steht auch hier nichts
    über "Stine" drin.


    Erika


    :blume:

    Wer Klugheit erwirbt, liebt das Leben und der Verständige findet Gutes.
    <br />Sprüche Salomo 19,8

    Einmal editiert, zuletzt von Erika ()

  • Irgendwie komme ich diesmal nicht in die Geschichte rein. Keine der Figuren kommt mir nahe und ich kann auch mit keiner was richtig anfangen. Gut, ich habe erst vier von 15 Kapiteln gelesen, aber dennoch. Bei allen anderen Fontane Romanen, die ich bisher gelesen habe, war ich gleich in der Handlung drin. Keine Ahnung was bei diesem anders ist.


    Dennoch werde ich natürlich weiter lesen, vielleicht kommt mir ja Stine oder so doch noch näher.


    Allerdings finde ich die Aussagen über Wanda nicht sehr nett. Offenbar hat sie keine Modelfigur, aber warum reitet der Graf so lange drauf herum, dass sie nicht zart sein muss um eine bestimmte Theaterrolle spielen zu können?


    Katrin


  • Die Gegend ist von der Industrialisierung geprägt, die Betriebe, die sich in der Nähe befinden und deren Arbeiter vorbeihasten, werden namentlich genannt, Borsig und Schwarzkopf.


    Hallo Karamzin,


    habe jetzt auch in „Fontanes Berlin“ geblättert und da vermutlich die Quelle für deinen o.a. Satz gefunden. Allerdings schreibt Seiler „Borsig und Schwartzkopff“ . Da du Schwarzkopf ohne t und nur mit einem f geschrieben hast, bin ich auf das falsche Unternehmen, das erst später gegründet wurde, gekommen. Die Maschinenbauunternehmung Schwartzkopff, wie Borsig Hersteller von Lokomotiven, wurde dagegen schon 1852 gegründet, das würde also passen. Allerdings gibt Seiler hier auch keine Quelle an und dann bleibt die Frage warum Fontane Schwartzkoppen schreibt wenn er Schwartzkopff meint? Ich hoffe, du bist mir ob meiner geäusserten Bedenken nicht böse.


    Grüße
    montaigne

  • Hallo,
    in meiner Ausgabe steht in den Anmerkungen:


    "Borsig und Schwarzkoppen seine: die bereits erwähnten Arbeiter der Maschinenbaufabriken; seit 1837 produzierte Borsig vor dem Oranienburger Tor (Chausseestraße; L Schwarzkopff Fabrikgelände grenzte an die invalidenstraße." Es fehlt das T, so dass Schwarzkoppen die Dialektvariante von Schwarzkopffen sein könnte.


    Erika
    :blume:

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  • Hallo,
    in meiner Ausgabe steht in den Anmerkungen:


    "Borsig und Schwarzkoppen seine: die bereits erwähnten Arbeiter der Maschinenbaufabriken; seit 1837 produzierte Borsig vor dem Oranienburger Tor (Chausseestraße; L Schwarzkopff Fabrikgelände grenzte an die invalidenstraße." Es fehlt das T,


    Hallo Erika,


    wenn in deinen Anmerkungen das t bei L. Schwarzkopff fehlt, dann ist das meiner Meinung nach ein Druckfehler oder schlecht recherchiert. Die Firma L. Schwartzkopff schrieb sich mit t und ff, wie die folgende Wikipedia-Seite zeigt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Wikipedia auch Fehler macht, aber das abgebildete Firmenschild wird ja wohl den Firmennamen richtig ausweisen.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Maschinenbau


    Schon der Firmengründer schrieb sich mit t und ff:


    http://de.wikipedia.org/wiki/L…ctor_Robert_Schwartzkopff


    Gruß
    montaigne

  • Hallo zusammen,


    der erste Satz in Stine hat mich insofern überrascht, als das auch dieser Roman unseres Fontane-Projektes mit einer genauen Ortsangabe beginnt. Wieder werden Straßennamen genannt:


    Irrungen, Wirrungen:
    „An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem „Zoologischen“,…“


    L‘ Adultera:
    „Der Kommerzienrat van der Straaten, Große Petristraße 4, …“


    Stine
    „In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich: die Pferdebahnwagen klingelten, …“


    Die Große Petristraße 4 hatte ich noch im Kopf, denn den Anfang von L‘ Adultera fand ich wunderbar, bei Irrungen, Wirrungen musste ich schnell nachsehen. Auch hier eine genaue Ortsangabe. Fontane platziert seine Figuren nicht vage in irgendeiner Stadt und auch nicht irgendwo in Berlin. Es ist eben genau die Invalidenstraße, genau die Nr. 98e, genau die erste Etage. Es erwartet den Leser also eine Geschichte, die sich ganz in seiner Nähe zugetragen haben könnte. Und genau dieses Publikum, die Menschen nebenan Straßen Berlins, wollte Fontane wohl erreichen.


    Die ersten Seiten widmen sich der Beschreibung der Pittelkow und ihrer häuslichen Umgebung. Ich sehe Pauline förmlich mit ihren gerafften Röcken am Fenster stehen. Ich bin gespannt worauf die beschriebenen Gegensätze deuten: der wenig zu Haus und Wohnung passende Rokokotisch, das Bücherregel mit Hume’s History of England und dem Berliner Pfennigmagazin.


    Zu Fontane habe ich neulich folgenden Kommentar gelesen:
    „Fontane hatte Selbstzweifel beim Schreiben: „Wie wird das werden? Wie komponierst du dies, wie gruppierst du das? Wird es auch nicht dummes Zeug sein?““ (aus Rainer Schmitz „Was geschah mit Schillers Schädel?“)


    Er schrieb also nicht einfach los, sondern arrangierte wohlbedacht (was man ja all den Kommentaren zu seinen Romanen auch entnehmen kann und ich auch nicht erwartet hatte).


    Musikalisch wird es in Stine auch wieder.


    Bis bald
    Eni

  • Hallo Montaigne,
    in meiner Ausgabe (dtv) fehlt das t schon im Romantext. Dann hätte Fontane selbst schlecht recherchiert. (?)
    Wie steht es denn in den anderen Ausgaben?


    Gruß
    Erika


    :blume:

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  • Wie steht es denn in den anderen Ausgaben?


    In meiner Ausgabe steht: "wo Borsig und Schwarzkoppen". Ich habe das Buch von mobileread runtergeladen und die haben, soweit ich weiß, immer die Gutenberg-Ausgaben. Diese stammt bei diesem Buch vom Verlag Artemis & Winkler (1997).




    der erste Satz in Stine hat mich insofern überrascht, als das auch dieser Roman unseres Fontane-Projektes mit einer genauen Ortsangabe beginnt. Wieder werden Straßennamen genannt.


    Das ist wirklich interessant. Fontane will anscheinend seinen Lesern immer sagen wo sie sich in der Geschichte gerade befinden.




    Musikalisch wird es in Stine auch wieder.


    Ja, das habe ich schon bemerkt. In Kapitel 5 wird wieder lustig gesungen. Und die liebe Wanda kommt dabei voll auf ihre Kosten.
    Aber ich werde mit dem Buch einfach nicht warm, die ganzen Sticheleien gehen mir im Grunde nur auf die Nerven.


    Katrin

  • Liebe Fontane-Freunde,


    Es heißt jetzt, mehr als ein Jahrhundert zurückzugehen und das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Augen Fontanes zu betrachten.


    Bei der Lektüre Fontanes ist es m.E. ebenfalls wichtig, dass man ein Gefühl für die Wertvorstellungen dieser Zeit erhält, also sprich ein Gefühl für die "Sittenmoral" und eine dynastische "Familienehre" altgedienter Häuser. Dadurch kann man die Andeutungen und Anstößigkeiten dieses Buchs besser erahnen. Wenn beispielsweise eine junge Witwe namens Pittelkow mit einem 10-jährigen Mädchen vorgeführt wird, dann kann man schon erahnen, dass diese irgendwo im Gespräch ist.


    Umgang mit Lärm und Stille
    In "Stine" besuchen wir das Berlin der Gründerzeit, nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71, der einen der Haupthelden seine Gesundheit kostete. In dieser Gegend um Invalidenstraße und Chausseestraße in Berlin-Mitte wohnen die Heldinnen des Romans oder der Erzählung. Da fahren klingelnde Pferdebahnen, aber es wird insgesamt immer leiser und stiller, eine Eigenart des alternden Fontane, auf die ich durch Seilers Buch aufmerksam gemacht wurde. Aber richtig, es sollen hier keine Deutungen vorweggenommen werden.


    Der Lärm, das Rauschen der Großstadt verschwinden immer mehr, und wir können den Gesprächen der handelnden Personen, ungestört durch Hintergrundgeräusche, zuhören.


    Die Wechselwirkung von Lärm und Stille lässt sich als erzähltechnischer Eingriff auffassen. Was man als rein auditiven Effekt wahrnehmen kann, lässt sich auch synästhetisch visuell begreifen. Die Wirkung von Beschleunigung entsteht dadurch, dass das breite Panorama des Handlungsschauplatzes mit aller Ausführlichkeit dargestellt wird. Zu Beginn der Erzählwerke Fontanas tritt häufig der "zoom-Effekt" ein, der sich schon als Vorwegnahme der filmischen Darstellens deuten lässt. Aus dem Panorama des Berliner Ambientes wird ein Ausschnitt aufgezeigt, in diessem Fall das Haus der Pittelkow. Auch in anderen Romanen Fontanes haben wir diesen erzählerischen Eingriff. Man denke nur an die Vorstellung des Hauses Hohen Kremmen in Effi Friest, für dessen Beschreibung sich die Erzählinstanz viel Zeit nimmt. Die genauen Details dienen dazu, einen Gegensatz zwischen dem Beständigen und dem einmaligen Ereignis aufzustellen.


    Der "unerhörten" Handlung stellt Fontane das Panorama entgegen, was bleibt. In dem Roman, wie auch allen anderen, ist es nicht nur das preußische Lokalkolorit, sondern auch das Gerede. Der erste Redebeitrag stammt von einem "alten Lierschen", die sich über das Fenster-Putzen ihrer Nachbarin mokiert und somit die zentrale Nebenfigur, die Witwe Pittelkow, einführt. Auch am Ende des Romans erscheinen die Sozialgeräusche aus dem Mund der am Türrahmen lauschenden Polzins, die am Ende den hämischen Satz "Das wird nicht wieder" äußert. Denn gerade das "Gerede" ist die zentrale Macht in den Romanen Fontanes, gegen das die Figuren permanent ankämpfen.


    Liebe Grüße


  • Hallo, Vita activa,


    offenbar hast Du den Roman schon gänzlich gelesen. Da aber die anderen in dieser "Leserunde" erst angefangen haben, würde ich vorschlagen, dass wir - Du und ich, der ich den Roman ebenfalls schon kenne - , noch ein bißchen warten und Rücksicht auf all diejenigen nehmen, die noch längst nicht so weit vorgedrungen sind. Ich zumindest werde mich noch ein bißchen zurückhalten und dann in die Diskussion einsteigen, wenn es sich anbietet.


    Übrigens heißt es am Ende: "Die wird nich wieder." :zwinker: Damit hätten wir wieder ein Beispiel für den Einsatz des Berliner Dialekts, wie bei "Schwarzkoppen".

  • Hallo Karamzin,


    allzu viel habe ich noch nicht verraten; lediglich das Inventar und das Panorama vorgestellt. Allerdings kann man anhand gewisser "Vorausdeutungen" die weitere Entwicklungen der Handlung erahnen.

  • Ja, das habe ich schon bemerkt. In Kapitel 5 wird wieder lustig gesungen....


    Katrin


    Hallo Katrin,


    im 5. Kapitel bin ich noch gar nicht angekommen. Im letzten Roman wurde zwar auch gesungen, ich meinte aber hier eher die Anspielung auf Mozarts Zauberflöte.


    Gruß
    Eni