Juni 2008 - Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste

  • Danke für Dein Feedback!


    Es scheint ein Buch zu sein, bei dem man nur ein "Best of" wirklich genießen kann. Aber ein solches "Best of" würde sich durchaus lohnen.


    Dummerweise allerdings ist die Storyline als solche allerdings so dicht gewebt, dass ein "Best of" wohl so viele Fragen hinterliesse, dass der Leser es auch wieder nicht geniessen könnte ... :sauer:


    Und es scheint ein Buch zu sein, das seitenlang langweilen kann. Langeweile bzw. Spannung ist ja in der Literaturwissenschaft kein Qualitätsmerkmal, daher frage ich noch mal, warum das Buch nicht so recht gelungen ist.


    Wenn Du "Langeweile" bzw. "Spannung" verstehst im Sinne von: "Wer war der Mörder?" / "Was geschieht als nächstes?" / "Kann sich der Held noch retten?" - dann hast Du recht. Es gibt aber auch eine Langeweile, die aufkommt, wenn der Stoff schlecht aufbereitet ist, zuviele gute Intentionen in ein einziges Werk gepackt sind - - - oder schlicht und ergreifend, wenn der Autor eben mehr wollte, als er konnte.


    Wenn man Kafka liest ist man ja auch "froh", dass man nicht "eine runde Geschichte" präsentiert bekommt. Was ist bei Gutzkow schlechter (auch bei anderen großen Werken gibt es viele langweilige Stellen)?


    Kafka versucht nicht, zu belehren.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Danke, jetzt verstehe ich es besser. Dann finde ich es überraschend, dass Vollmann sooo begeistert von ihm ist. Na ja, jeder hat seine Spleens.


    Vollmann hat imho sehr oft das Problem, dass er von etwas begeistert, aber leider völlig außer Stande ist, den Grund für seine Begeisterung anzugeben. Da wird dann sehr emphatisch geschwärmt in der Hoffnung, auf eine sympathetische Saite des Leser zu treffen. Wenn das passiert, ist das großartig. Aber wenn das nicht der Fall ist, fragt man sich ernsthaft, was das eigentlich soll. -- Ich muss gestehen, dass es bei mir je länger je seltener der Fall ist. Inzwischen ist mir eine Empfehlung von Vollmann fast schon suspekt.


  • Vollmann hat imho sehr oft das Problem, dass er von etwas begeistert, aber leider völlig außer Stande ist, den Grund für seine Begeisterung anzugeben.


    Wenn man seine Falschmünzer liest, dann bekommt man schon ein Gefühl dafür, was er für gute Literatur hält (z.B. wahrhaftige Figuren, erzählende Geschichten (nicht zu abstrakt), Sprache, die verzückt). Und vieles davon kann ich gar nachvollziehen. Ich kann auch nachfühlen, warum er Kafka nicht sonderlich mag (auch wenn Kafka bei mir ein positives Leseerlebnis beschert).


  • Man muss ja nicht jedem seiner Urteile folgen, aber einen solchen Vielleser finde ich an sich schon faszinierend.


    Manisches Lesen ist mir wie jedes manische Verhalten áuch suspekt.


    Die "Falschmünzer" kenne ich nicht, aber dass Vollmann seine Kriterien eher aus dem 19. Jahrhundert hat, scheint mir ziemlich eindeutig.


    Btw - "Sprache, die verzückt" ist ja auch keine Aussage, mit der man vorderhand etwas anfangen könnte. Warum ist sagenwirmal Jean Paul verzückend, Kafka aber nicht?

  • Hallo,


    hab mir mal wieder ein Gutzkowpäuschen gegönnt, werde jetzt aber wieder etwas stringenter weiterlesen.


    Zu eurer Vollmann/Gutzkow-Diskussion:


    Ich las mit großem Genuss die "Falschmünzer", auch wenn ich Vollmanns Bewertungen nicht in allen Teilen nachvollziehen kann. Grundsätzlich lässt er sich - so denke ich - in seiner Bewertung davon leiten, wie gut ein Autor einen erzählerischen Kosmos aufbauen kann und wie intensiv ihm die Figurencahrakterisierung gelingt. Und diese beiden Aspekte bestechen durchaus bei Gutzkows "Rittern", wenn Vollmann auch den Nachteil missachtet, dass Gutzkow da auswalzt, wo es anderen mit wenigen Akzenten gelingt das Gleiche zu charakterisieren oder zu schildern.


    Aber auch wenn ich mich ein wenig durch den Gutzkow quäle, erachte ich diese Mammutlektüre dennoch aus aaO. Gründen nicht als Zeitverschwendung.


    Bin immer noch auf dem Fortunaball und amüsiere mich über die beiden Polizeispitzel, wieder Personal, das G. sehr schön schildert.


    Schönes Wochenende


    HG


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Bin immer noch auf dem Fortunaball und amüsiere mich über die beiden Polizeispitzel, wieder Personal, das G. sehr schön schildert.


    Ich finde ganz allgemein, dass Gutzkow die Schilderung des "einfachen" Volks um vieles besser gelingt als der Rest - die Pauline von Harder vielleicht ausgenommen ...

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  • Btw - "Sprache, die verzückt" ist ja auch keine Aussage, mit der man vorderhand etwas anfangen könnte. Warum ist sagenwirmal Jean Paul verzückend, Kafka aber nicht?


    Vollmann kann das natürlich präziser begründen als ich es hier zusammengefasst habe. Das sollte man nicht Vollmann, sondern meinem mangelnden Ausdrucksvermögen anlasten.


    Gruß, Thomas

  • So, ich bin jetzt bei IV.2 angelangt. Am Ende hat das dritte Buch ja nochmal richtig Schwung bekommen. Das Auftauchen von Rudhard gibt neue Rätsel auf. Und die Familie Wäsämskoi schein auch interessant zu werden. Wobei ich den Namen Wäsämskoi nun überhaupt nicht für russisch halte. Mit den beiden Umlauten sieht das eher finnisch für mich aus.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Wobei ich den Namen Wäsämskoi nun überhaupt nicht für russisch halte. Mit den beiden Umlauten sieht das eher finnisch für mich aus.


    Ich habe auch lange an diesem Namen herumgenagt. (Abgesehen davon, dass sich mein Gedächtnis standhaft geweigert hat, ihn zu behalten.) Allerdings war zu Gutzkows Zeit, meine ich, Finnland ein Bestandteil des Russischen Reichs, oder?

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  • Hallo,


    nun habe ich das vierte Buch abgeschlossen und bin in V, 1. Endlich geht es ein bisschen voran: Dankmar W. und Schlurck treffen aufeinander, und der Prinz greift wieder ins Geschehen ein, zumindest ist er so weit, sich zu einer Gartenbank zu schleppen.
    Der Fortunaball und die Brandgasse waren für mich die Höhepunkte des 4. Buchs, wobei ich sandhofer nur Recht geben kann: Die "einfachen" Leute gelingen Gutzkow am besten, da kommt auch sein satirisches Talent zur Entfaltung, ohne dass er die Charakterisierung bis zum Gehtnichtmehr auswalzt.


    So, nun werde ich andernwärts benötigt.


    Schönen Restsonntag!


    HG
    finsbury


    HG
    finsbury

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  • Hallo,


    Nachtrag zum Beginn des 5. Buchs:


    Zeitdehnung:


    Gutzkows "Ritter" mit dem "Ulysses" zu vergleichen ist vermessen. Nur der oben angesprochene Aspekt verbindet ein wenig: Ich habe nicht genau mitgezählt, aber vom Beginn der Handlung bis zum Ende des vierten Buches ist meiner Ansicht nach weniger als eine Woche vergangen, und das auf 1482 Seiten.
    Im Gegensatz zum "Ulysses" sieht man aber hieran recht drastisch, dass hier die Zeitdehnung kein gekonnt eingesetztes literarischens Mittel wie im "Ulysses" ist, sondern dass Gutzkow seinen Roman wegen der von uns beschriebenen erzählerischen Schwächen unnötig aufbläht.


    Ich verweile in V, 4: Der opportunistische Pfarrer Guido Stromer versucht gerade, seinen Wechsel ins weltliche Fach und das Verlassen seiner Familie beim Prinzen durch einen doppelten Boden abzusichern: Da mir aus der Sekundärliteratur bekannt ist, dass auch der Prinz irgendwann umfallen wird und seine früheren Ideale abstreift, um in der Gesellschaft zu reüssieren, passt das Aufeinandertreffen dieser beiden hier kompositionstechnisch recht gut, besonders da vorher der aufrechte Gutmensch Heunisch zu Gast war.
    Bei anspruchsvollerer Lektüre finde ich es sinnvoll, den "plot" in Umrissen vorher zu kennen, damit man den Ablauf der Szenen, die Personenkonstellation und dergleichen auf diesem Hintergrund besser würdigen kann.
    Viele Bücher lese ich deshalb auch mehrmals, aber ich glaube kaum, dass ich diesen Roman noch einmal lesen werde, um all dies richtig anerkennen zu können :breitgrins:.


    HG
    finsbury

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  • Da mir aus der Sekundärliteratur bekannt ist, dass auch der Prinz irgendwann umfallen wird und seine früheren Ideale abstreift, um in der Gesellschaft zu reüssieren, [...]


    Es ist, das sei Gutzkow zu Gute gehalten, tatsächlich ein bisschen komplizierter mit dem Prinzen. Allerdings kommt das erst so richtig im letzten Buch heraus; was wiederum schlecht ist - für den Autor ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Die ersten Kapitel vom 4. Buch lieferten mir eine positive Überraschung. Gutzkow behandelt auf sehr moderne Weise die Homöopathie. Homöopathika gibt es für die eingebildeten Kranken, und die Allopathie ist den richtigen Krankheiten vorbehalten. Das läßt mein Skeptiker-Herz höher hüpfen. :klatschen:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Zum Thema Zeitdehnung:


    Ich bin zwar schon etwas weiter, aber am Ende des ersten Buches sind noch keine 2 Tage erzählte Zeit vergangen: Siegbert begegnet am Nachmittag des ersten Tages Hackert und abends im Pelikan seinem Bruder Dankmar; dieser fährt nachts los in Richtung Schloss Hohenberg und kommt dort am Nachmittag oder Abend des zweiten Tages an; am frühen Morgen des dritten Tages lässt sich von Harder zu Hardenstein von Bartusch über die neusten Vorkommnisse unten im Dorfe briefen. Das sind keine 40 Stunden auf 360 Seiten. Viel schneller lese ich übrigens auch nicht :-)


    Bemerkenswert fand ich, dass Bartusch, der abends noch oben auf dem Schloss weilte, früh morgens gegen halb neun schon bestens über alles Wesentliche aus dem Dorf Bescheid wusste, ihm zugetragen vom Wirt des einzigen Gasthofes am Platz und anderen Informanten. Auch Dankmar wusste, kaum war er im Dorfe Plessen angekommen, dass gerade ein Amerikaner mit Sohn angekommen sei. Irgendwie hingen die Leute in solchen Käffern so eng aufeinander, dass selbst Wildfremde in kürzester Zeit in den Dorfklatsch eingeweiht waren. Eine beengende Vorstellung für einen heutigen Großstadtmenschen. Vielleicht liegts aber auch nur daran, dass der allwissende Erzähler Gutzkow den Leser nicht durch umständliche Schilderungen sondern durch Wiedergabe angeblicher Dialoge an seinem Wissen hat teilhaben lassen wollen, auch wenn diese Dialoge (z.B. Dankmars mit dem Gastwirt über die Familienverhältnisse der übrigen neuen Gäste, oder Bartuschs mit seinen Informanten) gar nicht stattgefunden haben.


    Heutzugtage würde man einen jungen Menschen wie Selmar Ackermann, der durchaus gut durchdachte politische Vorstellungen zu äußern sich nicht geniert, kaum einen "holden Knaben" nennen, selbst wenn er aus anderen Gründen noch gerne kindlich errötet. Und dass Dankmar davon ausgeht, dass die buntgeschmückten Krieger in funkelnden Waffen bei kriegersichen Klängen unserer Heerschauen den jungen Amerikaner Selmar so begeisterten, dass dieser Amerikas ganze Freiheit dafür hingeben würde, ist fürchterlich genug: diese Verrlichung kriegerischen Gehabes sollte Deutschland 100 Jahre später teuer bezahlt haben ...

  • Irgendwie hingen die Leute in solchen Käffern so eng aufeinander, dass selbst Wildfremde in kürzester Zeit in den Dorfklatsch eingeweiht waren. Eine beengende Vorstellung für einen heutigen Großstadtmenschen.


    Dem ist ja bis heute so ... ;)


    Heutzugtage würde man einen jungen Menschen wie Selmar Ackermann, der durchaus gut durchdachte politische Vorstellungen zu äußern sich nicht geniert, kaum einen "holden Knaben" nennen, selbst wenn er aus anderen Gründen noch gerne kindlich errötet.


    Gutzkow wird weiter hinten im Roman auch damit aufhören ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    mühsam ernährt sich das Eichhörnchen ... . Nun bin ich bis V, 9 gekommen.


    In V, 7, "Ein Stilleben", erfreut :zwinker: uns Gutzkow mal wieder mit ungebremster Sozialromantik, Fränzchen Heunischs Wohnung und ihr dortiges Leben werden geschildert. Solche Szenen gibt es allerdings auch bei dem frühen Raabe, "Die Chronik der Sperlingsgasse" weist sie zum Beispiel auf. Kompositorisch hat dieses Kapitel auch durchaus seinen Sinn, da der guten, aber eher simplen Franziska (ähnllich wie ihr Onkel, der auch treuherzig, aber nicht sonderlich einsatzbereit ist), im folgenden Kapitel die wesentlich komplexere Louise Eisold kontrastierend gegenübergestellt wird, die das Gären des Volkes in sich fühlt, und obwohl sie sich für ihre Familie aufreibt, mehr von ihrem Leben erwartet als ein genügsames Frauenschicksal an der Seite eines anständigen Mannes wie Danebrand. Obwohl Fränzchen sie auf der einen Seite nicht verstehen kann, fühlt sich sie andererseits ja auch nicht umsonst zu Louis hingezogen und nicht zu dem simplen Heinrich Sandrart. Interessanterweise aber versteht Louise sofort das Gedicht Louis' ( Namensähnlichkeit auffallend!), während sich Fränzchen darüber ängstigt.
    So bin ich immer wider hin und her gerissen zwischen teilweise platten Erzählpassagen mit stark abgenutzter Motivik und dem immer wieder kompositorischen Geschick Gutzkows und seiner komplexen Figurencharakerisierung.


    enigma:
    Mal abgesehen von sandhofers Hinweis auf das auch heute noch engere soziale Leben auf dem Dorf darf man auch nicht vergessen, dass fast die einzige Unterhaltung der unteren sozialen Klassen damals in Klatsch und Tratsch bestand, da sie kaum an Medien partizipierten und auch wenig Anteil am kulturellen Leben hatten. Da war man wohl gerne unterwegs, um dem Nachbarn das Neueste zu erzählen und / oder ebensolches zu erfahren. Wobei es die Bürgerlichen und Adligen, wie auch einschlägige Kapitel dieses Romans beweisen, auch kaum anders hielten. Dafür gibt's ja heute die Chatforen!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich bin im Augenblick am Anfang von IV.8 (Der Fortunaball). Hackerts Auftritt im letzten Kapitel war ja nun ganz daneben. Das hin und her verwirrt (hoffentlich nicht nur) mich. Ich hoffe, es wird im Laufe des Romans noch etwas klarer gemacht, was das Ganze mit Hackert nun soll.
    Die Schilderung der Brandgasse 9 hatte was für sich. Die Mullrichs, die Eisolds, das sind Schilderungen, wie sie auch in Oppermanns "Hundert Jahre" vorkommen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • die wesentlich komplexere Louise Eisold kontrastierend gegenübergestellt wird, die das Gären des Volkes in sich fühlt, und obwohl sie sich für ihre Familie aufreibt, mehr von ihrem Leben erwartet als ein genügsames Frauenschicksal an der Seite eines anständigen Mannes wie Danebrand.


    Nun, Danebrand ist nicht gerade eine Schönheit - selbst für proletarische Verhältnisse nicht. Und in Louise, hatte ich den Eindruck, gärt weniger das Volk und mehr die Hormone ... :breitgrins:


    das sind Schilderungen, wie sie auch in Oppermanns "Hundert Jahre" vorkommen.


    Du meinst jetzt aber nicht: wortwörtlich, oder?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus