Juni 2008 - Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste


  • ie Bastarde sind übrigens m.M.n. schon relativ früh klar - ein Nachteil der sauberen, konsequenten Konstruktion, die Arno Schmidt so lobt.


    Zum Thema Früherkennung: Ich glaube jetzt an der Stelle zu sein, die Du gemeint hast. In Kapitel V.9 "Stilles Leid und stille Schuld" erzählt Förster Heunisch von Ursula Marzahns Erzählungen vom Geld und vom Windelpaket, vom Baron und der Gräfin; und, aha!: vom Waisenhaus in der Nähe des Kaufmann Hackert, nach dem Fritz benannt ist, wie wir bereits seit wenigen hundert Seiten wissen. "Relativ früh" heißt hier als "auf Seite 1.662 von 3.610" ...


    Den Funkessay "Der Ritter vom Geist" von Arno Schmidt habe ich mir gerade eben noch einmal durchgelesen, das dritte Mal in in den letzten 30 Jahren. AS fand an dem Roman lesenswert:


    [li]die Konzeption, dass das 'Heil der Nation' nur von einer 'Organisation der Élite' kommen kann und nicht von oben durch Herrscheradelgeistlichkeit oder von unter durch das Volk[/li]
    [li]die lupenrein fotografierten 'Dias' der Einzelbilder: Fortunaball und Brandgasse ("die Schilderungen der callerersten Mietskaserne der deutschen Literatur"), Weinlesefest und Ratskeller[/li]
    [li]die Schaffung des Begriffs und des Dings=selbst: den 'Roman des Nebeneinander'[/li]


    Ich kenne zwar noch nicht alle der genannten 'Dias', aber in den beiden letzten Punkten muss ich AS bisher recht geben.

  • Ein paar Einzelbilder sind Gutzkow nicht unschön geraten, ja das stimmt.


    "Nebeneinander"? Wenn ich mich recht erinnere, erzählt Gutzkow bis ca. in die Mitte des Romans schön zeitlich hintereinander ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich werde ja immer skeptisch, wenn Autoren mir lang und breit erklären wollen, nach welcher Theorie sie arbeiten. Im besten Falle ist das einfach Quatsch und das Werk hat mit der Theorie nicht sonderlich viel zu tun (wie bei Arno Schmidt zB, dessen "Berechnungen" zwar interassant sind, die aber allenfalls Äußerlichkeiten seiner Prosa erklären), im schlimmsten Fall ist das Werk nur eine Illustration der Theorie und als solche überflüssig, weil nur eine Verdopplung dessen, was als Theorie ja schon da ist.

  • damit ist wohl nicht die zeitliche Dimension, sondern sind die gesellschaftlichen Schichten gemeint.


    Int'ressante Beobachtung. Ich hatte das auch zeitlich verstanden. Und in der mir bekannten, ersten Hälfte spielt sich in der Tat nur sehr wenig nebeneinander = gleichzeitig ab bzw. wird auch, zwar hintereinander, aber doch als gleichzeitg erzählt: die Szenen oben auf Schloss Hohenberg und Dankmars Aufstieg zum Schloß durch Thurm und Wald mit Ackermann, also die Kapitel ab I.11 "Melanie Schlurck", bis die Erzählstränge in II.11 "Melanie-Späße" sich vereinen. Oder Guido Stromers Audienz bei Prinz Egon neben Louis Armands Rückkehr in seine Werkstatt im V. Buch ... Alles andere ereignet sich nacheinander in der Reihenfolge wie es erzählt wird (von Rückblicken abgesehen). Passiert denn in der zweiten Hälfte des Werkes mehr zeitlich nebeneinander? Ich lass mich überraschen.


    Im Vorwort (S. 8f.) spricht Gutzkow erst vom Roman alten Stils des Nacheinanders. Das verstehe ich, auch wenn Gutzkow sich nicht besonders klar ausdrückt, doch im Wesentlichen als zeitliches Nacheinander. Aber dann (S. 9f.): "Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinanders", in dem die ganze Welt da liege, Könige und Bettler sich dort begegneten, "Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt." Das ist in der Tat gesellschaftlich gemeint, und zeitliche Aspekte lässt er ganz unerwähnt. Insgesamt eine recht konfuse Art der Argumantation.


    Und dann noch: "Der Stumme redet nun auch, der Abwesende spielt nun auch mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft nur Das, was zwischen zweien seiner Schilderungen als ein Drittes, dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhendes, in der Mitte liegt." Die Theorie ist also, eine Unmenge Personal auftreten zu lassen und in deren Kakophonie des Gesagten (und Ungesagten?) das Zwischen-den-Zeilen-Liegende, vom-Dichter-Gemeinte im Leser erstehen zu lassen.


    Und irgendwie gelingt dies Gutzkow. Ich begebe mich jedes Wochenende immer wieder gern in dieses mikrokosmische Panaroma, in dem die Zeit still zu stehen scheint - wenn sie nicht gerade einen 6-Wochen-Sprung macht ...


    Egal, ob zeitliches oder gesellschaftliches Nebeneinander: waren die Romane vor 1850 wirklich alle solche des Nacheinander? Die Insel Felsenburg könnte ein Gegenbeispiel zu Gutzkows Behauptung sein, zumindest geographisch ist das Spektrum der Lebensläufe der dortigen Personen recht breit.

  • Die Theorie ist also, eine Unmenge Personal auftreten zu lassen und in deren Kakophonie des Gesagten (und Ungesagten?) das Zwischen-den-Zeilen-Liegende, vom-Dichter-Gemeinte im Leser erstehen zu lassen.


    Hm ... klingt für mich nach Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit ... :breitgrins:


    Und irgendwie gelingt dies Gutzkow. Ich begebe mich jedes Wochenende immer wieder gern in dieses mikrokosmische Panaroma, [...]


    Ja? Nun gut, das freut mich für Dich. Und ist wohl bei so einem Riesenschinken irgendwie unabdingbar, wenn man bis zum Schluss kommen will ...


    Egal, ob zeitliches oder gesellschaftliches Nebeneinander: waren die Romane vor 1850 wirklich alle solche des Nacheinander?


    Nein. Gerade die Romantik kannte und benutzte abenteuerliche Verschachtelungen. Aber das war zur Zeit Gutzkows natürlich bereits überwundene Vergangenheit. Gutzkow hat, wie mir scheinen will, eh in vielem auf die Romantik zurückgegriffen. Und das Uralte als Nigelnagelneu verkauft ... :winken:


    Ich werde ja immer skeptisch, wenn Autoren mir lang und breit erklären wollen, nach welcher Theorie sie arbeiten. Im besten Falle ist das einfach Quatsch [...]


    Ach ja ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich habe in den letzten Wochen eine interessante Erfahrung gemacht. Die Ritter haben mich ja über drei Monate begleitet. Das hat offenbar einen nicht unerheblichen Einfluß auf meine Psyche gehabt. Ab und zu habe ich Flashbacks von Teilen der Handlung, und manchmal habe ich unwillkürlich das Gefühl, das ich noch mitten in der Lektüre wäre und endlich weiterlesen sollte. Faszinierend!

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Es gibt doch da noch was von Gutzkow ... wenn ich mich nicht irre ... :breitgrins: :breitgrins: :breitgrins:


    Och, ich habe da noch Einiges von ihm hier rumliegen (Wally, Zauberer, Briefe eines Narren, Serapionsbrüder), aber darauf habe ich gerade keine Lust.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)