• Ich habe die Deutschstunde damals abgebrochen. ich konnte mit der ruhigen Erzählweise nichts anfangen. Vielleicht geb ich ihm noch mal ne Chande wenn ich älter bin.


    Das kann durchaus nutzen. Seinerzeit im Sturm und Drang hatte Fontane bei mir keine Chance. Hat sich inzwischen geändert. Vielleicht sollte ich jetzt mal Lenz eine Chance geben. Wenn es dann nicht klappt, warte ich bis in meine 80er. :zwinker:

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)


  • Wenn du genau liest, wirst du sehen, dass in diesem Thread sehr viel Positives zu Lenz steht. Man kann ja nicht von jedem verlangen, dass er Lenz schätzt und auch nicht, dass jemand allen seinen Werken die gleiche Neigung entgegenbringt. Ich war nicht zu Hause und hatte keinen Zugang zu Nachrichten, als die Information zu Lenz' Tod kam und mich überlief ein kalter Schauer, als ich am nächsten Tag in einer Buchhandlung im Vorbeigehen die Schlagzeile las. Für mich und viele aus meiner /unserer Generation bedeutet Lenz viel, weil er die Erlebnisse und die Welt unserer Eltern literarisch fasste und unnachahmlich darstellte, aber das heißt nicht, dass ich mit seinen späten Werken das Meiste anfangen konnte, eben wegen des Anachronistischen. Aber das gilt für viele Schriftsteller in ihren Alterswerken, wie z.B. Walser und Grass.


  • Kann es evtl. sein, daß Euch momentan etwas der "Kritikgaul" durchgeht, so nach dem Motto, " wenn Lenz schon gelobt und sein Verlust betrauert wird", so muß das mal gerade gerückt werden?" :zwinker:


    Ich sehe hier eigentlich keine echte Kritik an Lenz, sondern einfach subjektive Erfahrungen und Einschätzungen von Leserinnen und Lesern.


    Wenn ein Autor wie Lenz es geschafft hat, Themen eine Generation so zu verarbeiten, dass er wirklich einen Nerv der Zeit getroffen hat, ist das ist ja schon eine große Leistung. Dass das nicht unbedingt auf die nachfolgende Generation passt, ist gar nicht verwunderlich und keine Kritik an seinem Werk.

  • Noch ein Einwurf:


    Wenn ein von Zeitgenossen geschätzter und bekannter Autor nach seinem Tod vergessen wird, spricht das nicht unbedingt gegen den Autor, es kann auch gegen die sprechen, die ihn vergessen haben.

  • Lenz ist m.M.n. ein typisch bundesrepublikanischer Autor. Und ich meine damit die BRD vor der sog. Wende. Das macht ihn sehr, sehr zeitbedingt. So, wie Böll. Nach der Wende waren seine Themen zum Teil obsolet geworden, weil nun eine neue, gesamtdeutsche Verarbeitung der Kriegs- und Nachkriegszeit gefragt war. In der Schweiz wurde er immer wenig gelesen. Die Probleme und Fakten der Kriegs- und Nachkriegszeit waren ganz andere.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Lenz ist m.M.n. ein typisch bundesrepublikanischer Autor. Und ich meine damit die BRD vor der sog. Wende. Das macht ihn sehr, sehr zeitbedingt. So, wie Böll. Nach der Wende waren seine Themen zum Teil obsolet geworden, weil nun eine neue, gesamtdeutsche Verarbeitung der Kriegs- und Nachkriegszeit gefragt war. In der Schweiz wurde er immer wenig gelesen. Die Probleme und Fakten der Kriegs- und Nachkriegszeit waren ganz andere.


    Hm - das kann ich so gar nicht nachvollziehen, es sei denn du reduzierst Lenz auf ein paar wenige Bücher. Ich verbinde Lenz damit, dass er sich für Grenzsituationen interessierte, den Mensch zwischen zwei (fast aussichtslosen) Entscheidungen drängt und dann ausmalt, was wäre ... und es letztendlich auf eine Entscheidung hinausläuft. Nein, ich empfinde ihn nicht als "zeitbedingt", oder gar als einen Autor, der nur vor der Wende zu lesen war. Und als Empfehlung kann ich dann "Die Auflehnung" weiter geben, aber natürlich könnte man selbst diese dann nur als Auflehnung gegen das DDR-Regime lesen - ich lese darüber hinaus die Auflehnung gegen die Trasse von Nord nach Süd, oder das Atomendlager von Gorleben - meine Phantasie ist da sehr groß ... :zwinker:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • Lenz ist m.M.n. ein typisch bundesrepublikanischer Autor. Und ich meine damit die BRD vor der sog. Wende. Das macht ihn sehr, sehr zeitbedingt. So, wie Böll. Nach der Wende waren seine Themen zum Teil obsolet geworden, weil nun eine neue, gesamtdeutsche Verarbeitung der Kriegs- und Nachkriegszeit gefragt war. In der Schweiz wurde er immer wenig gelesen. Die Probleme und Fakten der Kriegs- und Nachkriegszeit waren ganz andere.


    Ich würde ihn nicht als typisch bundesrepublikanisch, sondern als Vertreter einer untergegangenen Welt, der Welt der ehemaligen deutschen Gebiete im Osten, bezeichnen. Das wird ihn dir als Schweizer wohl auch fremd machen, aber ich hatte, wie viele aus dem Großen Kanton, einen ostpreußischen Vater, so dass mir vieles bei Lenz, wie übrigens auch bei Grass, aus den Erzählungen meines Vaters bekannt ist. Lenz schrieb Erinnerungsliteratur, ob diese überlebt, wird sich daran zeigen, inwiefern seine Leser diese als exemplarisch ansehen.


  • Ich würde ihn nicht als typisch bundesrepublikanische, sondern als Vertreter einer untergegangenen Welt, der Welt der ehemaligen deutschen Gebiete im Osten, bezeichnen. Das, wird ihn dir als Schweizer wohl auch fremd machen, aber ich hatte, wie viele aus dem Großen Kanton, einen ostpreußischen Vater, so dass mir vieles bei Lenz, wie übrigens auch bei Grass, aus den Erzählungen meines Vaters bekannt ist. Lenz schrieb Erinnerungsliteratur, ob diese überlebt, wird sich daran zeigen, inwiefern seine Leser diese als exemplarisch ansehen.


    Guter Punkt, finsbury! :winken: Ich sehe Lenz nicht nur als ostdeutschen, sondern auch als explizit norddeutschen Autor. Sehr stark ja auch in Hamburg verwurzelt. Die Radfahrten des Siggi entlang des Nordseeküstendeichs sind mir eindrücklich in Erinnerung.


    Wobei sich wieder die Frage stellt, ob es wirklich eine Trennung in einen norddeutschen und einen süddeutschen Kanon gibt. Marcel Reich-Ranicki schreibt in seiner Autobiographie ja sehr schön darüber, wie sehr seine literarische Schulbildung eine preußisch-norddeutsche war. Bei mir war es ganz ähnlich. Autoren wie Storm, Fontane, Goethe, Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Günter Grass usw. waren gut vertreten. Stifter, Doderer, Musil - Fehlanzeige. Bei uns ging es sehr preußisch-protestantisch zu, bis hin in die Lesegewohnheiten. Und in diesem Kontext war und ist Siegfried Lenz einfach ein Norddeutscher.

  • Im Juli erscheint Siegfried Lenz' letzte Geschichte: Das Wettangeln
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    Im September werden Die Erzählungen neu aufgelegt, diesmal in zwei Bänden:
    [kaufen='3455405541'][/kaufen]


    Gruß, Gina



  • Seine Erzählungen in einem Band besitze ich bereits. Doch seine letzte Geschichte werde ich mir natürlich kaufen. Danke für den Hinweis!


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Die Erzählungen habe ich auch, zu einem größeren Teil aber noch nicht gelesen. (Ich pflege meine Vorfreude, bis ich mir die Zeit für den Rest nehme.)


    Die letzte Geschichte werde (muss) ich mir erstmal verkneifen. Schreibst Du bitte ein paar Zeilen dazu, wenn Du sie gelesen hast? :smile:


    Gruß, Gina

  • ein bis dato unveröffentlichter früher Roman der den Arbeitstitel „… da gibt’s ein Wiedersehen" trug, und in seinem Nachlass entdeckt wurde, wird nun unter dem Titel "Der Überläufer" am 10. März 2016 erscheinen!


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    http://www.amazon.de/Der-%C3%9…05703/ref=tmm_hrd_title_0

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ein Blick auf einen unbekannteren Lenz-Roman, um den Thread mal wieder zu beleben:


    Siegfried Lenz: Exerzierplatz (1985)


    Lenz (1926-2014) beschreibt in diesem Roman den Aufstieg und die Gefährdung der Baumschulgründung von Conrad Zeller auf einem ehemaligen Exerzierplatz in Schleswig-Holstein.


    Inhalt:

    Bruno Messmer trifft als Kind auf die Familie Zeller während der Flucht aus Ostpreußen, auf der er von seinen Eltern getrennt und bei einem Unfall mit Pferden unter Wasser so schwer verletzt wird, dass er im Gesicht entstellt und psychisch beeinträchtigt ist. Damals rettet ihn Zeller. Aus Brunos Sicht, der dem „Chef“ zutiefst ergeben ist, wird die Geschichte der Familie Zeller erzählt.


    Zusammen fliehen sie, Conrad und Dorothea Zeller mit ihren Kindern Max, Ina , Joachim und dem mitgenommenen Bruno nach Schleswig-Holstein, wo sie in Notunterkünften neben einem ehemaligen Exerzierplatz unterkommen. Zeller, dessen Familie bereits in Ostpreußen in der gleichen Branche tätig war, erkennt schnell die Eignung des militärischen Geländes für eine Baumschule, pachtet es unter dem anfänglichen Widerwillen der einheimischen Bevölkerung gegen die Flüchtlinge und kauft es später.


    Er entrümpelt mit der tatkräftigen Hilfe Brunos und meliorisiert den Boden. Mit geradezu magischem Gespür erkennt er, welche Geländeabschnitte sich für welche Pflanzen eignen und hat mit den Jahren immer mehr Erfolg. Sie ziehen zunächst in einen leer stehenden Bauernhof, bauen sich später auf dem ehemaligen Kommandohügel eine Villa, die „Festung“. Zeller wird sogar Bürgermeister des nahe gelegenen Ortes Hollenhusen, zu dem das Gelände gehört, und die Baumschule erhält eine eigene Verladerampe an der nahe gelegenen Bahnstrecke. Preise und Politikerbesuche stellen sich ein, man ist arriviert. Die Tochter Ina heiratet einen ehemaligen Soldaten, der bei einem Besuch des Exerzierplatzes die Familie kennen lernt und sich als fachkundiger Gärtner herausstellt. Dieser aber verbirgt ein Geheimnis, das sein Leben vergiftet und ihn später in den Selbstmord treibt. Die beiden Söhne des Paars sind Brunos „Quälgeister“, die ihn, den gutmütigen Simpel, immer wieder angehen und foppen.


    Bruno selbst wird von der Familie und auch von Zeller, dem er so ergeben ist, letzten Endes massiv ausgebeutet. Gegen ein Taschengeld, Essen und Unterkunft, aber nur zu hohen Festen gleichberechtigt im Kreise der Familie arbeitet er fast rund um die Uhr und mit hoher Fachkundigkeit in der Baumschule, erledigt zusätzlich Tätigkeiten im Haushalt und für die Kinder. Den Hollenhusenern ist er zu Beginn eine Witzblattfigur, auf der man herumhacken kann, und auch später wird seine Gutmütigkeit immer wieder ausgenutzt. Von anspruchsvollen Aufgaben, wie dem Bedienen elektrischer Maschinen wird er aber ferngehalten.


    Die Jetztzeit als Haupterzählebene wird bestimmt durch das bald bewahrheitete Gerücht, dass der alte Conrad Zeller, der trotz fachlicher Klarheit ansonsten einige Zeichen geistiger und physischer Verwahrlosung zeigt , entmündigt werden soll, vor allem wohl auch deshalb, weil er in Schleswig einen Schenkungsvertrag an Bruno unterzeichnet hat, dem im Todesfall Zellers ein Drittel des Baumschulgeländes samt der dazugehörigen gewerblichen Mittel zukommen soll.


    Bruno ist von dieser Situation völlig überfordert. Von den Söhnen der Familie wird er angefeindet, von Untersuchungsbeamten verhört, und Zeller bestimmt ihn, auf keinen Fall auf die Schenkung zu verzichten. Schließlich weiß er nicht weiter und verlässt die Familie, in der Hoffnung, dass dadurch die alten Verhältnisse wieder hergestellt werden.


    Meine Meinung

    Die Problematik des Romans, die auch von den ersten Kritikern sofort benannt wurde, liegt in der Diskrepanz der Rolle des psychisch beeinträchtigten Bruno als Person im Roman und seiner Funktion als Ich-Erzähler, der über das gesamte Können seines Autoren Siegfried Lenz verfügt und dies auch einsetzt. Darüber hinaus bietet der Roman einige unnötige Längen in der Beschreibung von Tätigkeiten in der Baumschule, und wichtige Zeitgeschehnisse werden nur sehr dezent angedeutet, wie zum Beispiel die wieder einsetzende Remilitarisierung der Endsiebziger, Anfang Achtziger Jahre, die auch in Hollenhusen ein neues Interesse an Militärstationierung wachruft.


    Die ökologische Fragestellung war wohl noch kein großes Thema in Lenz‘ Augen. Gerade dadurch wirkt es fast paradox, wie oft das Thema Pflanzenschutz mit Giften angedeutet wird. Trotz Zellers und Brunos Stolz auf das Erschaffene wirkt letzten Endes die Baumschule auch nicht als wahres Paradies nach der militärischen Nutzung. Zu gewollt, zu gezwungen erscheint hier die Natur als ausbeutbare Ware.


    Keine undankbare Lektüre, aber Lenz hat deutlich Besseres und Nachhaltigeres geschaffen.