"Wer das Leben liebt, liest nicht."

  • Hallo zusammen,


    Berch hat in seiner Signatur ein Zitat von Houellebecq stehen, das wie folgt lautet: "Wer das Leben liebt, liest nicht.".


    Zum einen halte ich Houellebecq nicht nur für einen Erfolgsautoren, sondern auch für einen intelligenten Menschen, zum anderen lese ich, obwohl ich das Leben liebe. Sicher ist an Houellebecq Aussage was dran, aber ganz richtig kann sie ja wohl nicht sein- Wie seht ihr diese Aussage?


    Gruß


    Georg

  • Hhm, vermutlich meint er, man solle sich nicht in Scheinwelten, bestimmte literarische, fingierte Situationen flüchten, sondern das Leben leben und damit selbst erleben. Lesen wäre demnach ein passiver Lebensgenuss, doch als Liebhaber des Lebens wäre einem mehr gedient, die wertvolle Zeit in aktive Abenteuer wie Reisen, Spazieren, Sport, Musik etc. investieren und nicht darüber lesen, wie andere Leute genau diese Sachen tun.
    Also ich selbst liebe das Leben ja auch und lese gleichwohl sehr viel, ausschliesslich lesen könnte ich natürlich dennoch nicht. :zwinker:


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo zusammen,


    vielleicht ist es hilfreich, wenn ich kurz den Kontext des Zitates wiedergebe.
    Es stammt aus Houellebecqs erstem Buch 'Gegen die Welt, gegen das Leben.', in dem er sich mit H.P. Lovercraft auseinandersetzt und zwar aus dem ersten Teil des Buches, aus dem Kapitel 'Ein neues Universum'.
    Es beginnt folgendermaßen:


    "Das Leben ist schmerzhaft und enttäuschend. Folglich ist es nutzlos, neue realistische Romane zu schreiben. Was die Realität im allgemeinen betrifft, so wissen wir bereits, woran wir sind; und wir haben keine Lust, noch mehr darüber zu erfahren. [...] Ist das Buch einmal zugeschlagen, verstärkt all das nur unseren Ekel, der bereits von jedem beliebigen Tag des 'realen Lebens' reichlich genährt wird. [...] Wer das Leben liebt, liest nicht. Und geht erst recht nicht ins Kino. Was immer auch darüber gesagt wird, der Zugang zum künstlerischen Universum ist mehr oder weniger für jene reserviert, die ein wenig die Schnauze voll haben."


    Man muß das Zitat also wohl zum einen vor dem Hintergrund der in Houellebecqs Texten allgemein vorherrschenden lebensverneinenden Grundstimmung und zum anderen in Bezug auf das von H.P. Lovercraft geschaffenen Universum sehen.
    Daher würde ich sagen, daß er das Lesen (speziell das Lesen von nicht-realitätsnahen Texten) deutlich als Fluchtmöglichkeit aus der Realität ansieht. Ich würde diesem Zitat zumindest in weitem Umfang zustimmen. Natürlich ist es überspitzt und provokant, aber der Kern scheint wahr zu sein. Die Zeit, die ich aufwende, um zu lesen, d.h. um mich in das Leben anderer Personen hinein zu denken, andere Lebensgeschichten und Ereignisse zu erkunden, nutze ich nicht, um mich mit meinem eigenen Leben zu beschäftigen. Da ich recht viel und gern lese, scheint mir dies wohl eine willkommene Abwechslung zu sein, scheint die aufgebrachte Zeit besser angelegt zu sein, als in die 'Erfahrung', das 'Erleben' des eigenen Lebens.


    Bliebe die Frage nach seinen eigenen Büchern, die ich in weiten Strecken als zutiefst realistisch, fast schon schmerzhaft realistisch und zeitgebunden erfahren habe...


    Gruß
    Berch

  • Moin, Moin!


    Zitat von "Imrahil"

    vermutlich meint er, man solle sich nicht in Scheinwelten, bestimmte literarische, fingierte Situationen flüchten, sondern das Leben leben und damit selbst erleben. Lesen wäre demnach ein passiver Lebensgenuss, doch als Liebhaber des Lebens wäre einem mehr gedient, die wertvolle Zeit in aktive Abenteuer wie Reisen, Spazieren, Sport, Musik etc. investieren und nicht darüber lesen, wie andere Leute genau diese Sachen tun.


    Ich wehre mich nicht gegen die Vorstellung, Lesen sei Eskapismus oder könne es oft sein, sondern gegen die Dämonisierung der Tatsache. Ich sage: na und? Laßt mich bitte flüchten, wohin ich will! Das ist mein gutes Recht. Und wenn ich in den Büchern eine eigene Welt entdecke und bevorzuge, dann tue ich niemandem damit weh. Ich habe das Recht, in der Buchwelt zu existieren. Es ist die schönste Flucht, die ich mir vorstellen kann. Aktiv, passiv - das sind schöne Worte. Aber es sind nur Worte.

  • Ich stimme Dir ja voll und ganz zu, habe nur zu deuten versucht, ist aber nicht meine Meinung, dass man nicht lesen sollte! :zwinker:


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Zitat von "Berch"

    "Das Leben ist schmerzhaft und enttäuschend. Folglich ist es nutzlos, neue realistische Romane zu schreiben. [...]"


    Folglich? Was ist denn das für Blödsinn?


    Ich hab die windschnittige Misantropie H's ja immer nur für einen Marketingtrick gehalten, aber dass er so ein Flachkopf sein könnte, hätte ich nun doch nicht für möglich gehalten.

  • Zitat von "Dostoevskij"

    Ich habe das Recht, in der Buchwelt zu existieren.


    Hallo zusammen,


    diesen Satz finde ich sehr gut! Wer sagt denn, daß ich nicht lebe, wenn ich lese? Oder musiziere oder Musik höre? Für mich ist das jedenfalls alles kein Eskapismus, sondern es sind schöne Er*leb"nisse!


    "Das Leben ist schmerzhaft und enttäuschend. Folglich ist es nutzlos, neue realistische Romane zu schreiben. [...]"
    Wenn es das nicht wäre, wenn es immer und für Alle schön und erfolgreich wäre, hätte man dann einen Nutzen von realistischen Romanen? Realität ist durchaus subjektiv, genau wie jedes einzelne Leben.


    Ich kenne diesen Autoren nicht, von dem das Zitat stammt, deshalb sage ich ganz einfach mal: Das ist mir zu apodiktisch und ich halte es dann doch lieber mit dem Titel eines Buches von Saint Exupéri, der da lautet "Dem Leben einen Sinn geben". (Ein Buch, das vor Jahren, als ich es an Freunde in Ostberlin sandte, diese nie erreichte!) Dieser Sinn schließt für mich das Lesen ein.


    Grüße,
    Gitta

  • Hallo zusammen,


    giesbert:

    Zitat

    Folglich? Was ist denn das für Blödsinn?


    Ich verstehe nicht ganz, weshalb das Blödsinn sein soll? Innerhalb seiner Argumentation macht diese Folgerung ja durchaus Sinn: Die Realität ist schlecht und alle wissen es. Welchen Sinn soll es haben, sich das Schlechte auch noch außerhalb der Realität anzutun?
    Daher sehe ich in dieser Folgerung auch keine Begründung dafür, daß Houellebecq ein Flachkopf sein soll. Über seine medienwirksamen Themen läßt sich freilich trefflich streiten. Ob es nun 'echte' Anliegen sind oder nur die Bedienung eines Publikumswunsches sei dahingestellt. Im Grunde ändert das aber auch nichts an der Qualität (wie auch immer man die einschätzen mag) seiner Texte.


    Dostoevskij, Gitta: Vielleicht wird das aus der kurzen Textpassage nicht klar. Houellebecq dämonisiert das Lesen nicht, er sagt nicht, daß es schlecht ist, aus der Realität zu entfliehen, sondern hält es fast schon für erforderlich, dies zu tun. Nur sieht er keinen Sinn darin, aus der negativen Realität in eine Literatur zu fliehen, die eben diese Realität wiederspiegelt. Besser, nach seiner Theorie, ist eine Flucht in realitätsfremde oder -ferne Literatur.


    Gruß
    Berch

  • Moin, Moin!


    Zitat von "Berch"

    Die Realität ist schlecht und alle wissen es. Welchen Sinn soll es haben, sich das Schlechte auch noch außerhalb der Realität anzutun?


    Demnach wäre es Masochismus, wenn man liest; die meiste fiktionalisierte Literatur ist ja eben kein Heile-Welt-Schreiben, sondern trieft von der Schlechtigkeit der Welt.


    Zitat von "Berch"

    Houellebecq dämonisiert das Lesen nicht, er sagt nicht, daß es schlecht ist, aus der Realität zu entfliehen, sondern hält es fast schon für erforderlich, dies zu tun.


    Ich wollte die Dämonisierung nicht H. in die Schuhe schieben, sondern prach von der allgemeinen Schlußfolgerung, der man meiner Erfahrung gemäß doch regelmäßig begegnet, daß Lesen schnell zum Eskapismus führe und daß DAS eben übel sei, weil man sich dem wirklichen Leben doch stellen muß usw. Dagegen setze ich mein Postulat eines Rechts auf Leseflucht. Ich gehe als Krankenpfleger einer nützlichen Arbeit nach und möge bitte in meiner Freizeit lesen dürfen, ohne dafür gescholten zu werden, nicht im Fitneß-Center angetroffen zu werden, nicht vor politischer oder gesellschaftlicher Agilität zu platzen. Um es loriotesk zu sagen: ich möchte einfach nur hier lesen.

  • Zitat von "Berch"

    h verstehe nicht ganz, weshalb das Blödsinn sein soll? Innerhalb seiner Argumentation macht diese Folgerung ja durchaus Sinn: Die Realität ist schlecht und alle wissen es. Welchen Sinn soll es haben, sich das Schlechte auch noch außerhalb der Realität anzutun?


    Tja, es soll Leute geben, die von der Literatur, Kunst allgemein, Trost beziehen (nicht zu verwechseln mit : Tröstungen), Lebens- und Liebesfähigkeit etc. Sehr platt gesagt und ins Unreine formuliert, ist Kunst ein Therapeutikum, ohne sich darauf reduzieren zu lassen. Aber das ist ein *sehr* weites Feld. Und Hs Kunst-/Literaturverständnis von einer schon atemberaubenden Schlichtheit, dem verstellt ja schon der erstbeste Maulwurfshügel dauerhaft den Blick.

  • Zitat von "Berch"

    Die Realität ist schlecht und alle wissen es. Welchen Sinn soll es haben, sich das Schlechte auch noch außerhalb der Realität anzutun?


    Hallo Berch,


    nicht ganz klar ist mir noch: Sagst Du diesen Satz oder Houellebecq? Egal, ich bin ohnehin nicht der Meinung, daß die Realität a priori schlecht ist. Noch weniger sehe ich ein, daß dies angeblich alle wissen. Nur weil uns die Medien um des Katastrophen-Voyeurismus' willen fast nur Schlechtes vorsetzen? Ich bin Pragmatikerin und philosophische Spitzfindigkeiten interessieren mich wenig.


    Zitat

    Dostoevskij, Gitta: Vielleicht wird das aus der kurzen Textpassage nicht klar. Houellebecq dämonisiert das Lesen nicht, er sagt nicht, daß es schlecht ist, aus der Realität zu entfliehen, sondern hält es fast schon für erforderlich, dies zu tun. Nur sieht er keinen Sinn darin, aus der negativen Realität in eine Literatur zu fliehen, die eben diese Realität wiederspiegelt. Besser, nach seiner Theorie, ist eine Flucht in realitätsfremde oder -ferne Literatur.


    Danke für die Relativierung, die mich den Gedankengängen des Autors etwas näher bringt, ohne sie zu teilen. Jedenfalls profitiere ich, genau wie Giesbert, vom Lesen meistens, sei die Lektüre zuweilen auch eher realistisch als erbaulich.


    Grüße,
    Gitta

  • Hallo zusammen,


    Gitta:

    Zitat

    Die Realität ist schlecht und alle wissen es. Welchen Sinn soll es haben, sich das Schlechte auch noch außerhalb der Realität anzutun?


    Das war eine, zugegeben recht platte, Umformulierung der angeführten Houellebeqc'schen These und nicht meine eigene Meinung. Ich kann das zwar in Teilen nachvollziehen, jedoch stört mich persönlich vor allem seine Pauschalisierungstendenz 'wir wissen', etc.


    Dostoevskij:

    Zitat

    Demnach wäre es Masochismus, wenn man liest


    Das Ertragen des Lebens selbst scheint bei Houellebecq schon Masochismus zu sein. Bei so einer Grundhaltung hat man dann vermutlich auch nicht mehr viel zu erwarten.


    Außerdem: Selten habe ich über eine Loriotanlehnung so gelacht und selten war sie so passend.


    giesbert: Ich stimme Dir bei der Wirkung von Kunst und Literatur vollkommen zu. Es mag sein, daß ich Deinen Standpunkt mißverstehe oder überinterpretiere, dann korrigiere mich bitte, aber ich sehe darin keinen Widerspruch zu Houellebecq: Genau diese 'Lebenshilfe', die Literatur geben kann, bzw. ihre Inanspruchnahme zeigt doch, daß ich als Leser Defizite in meinem realen Leben erkenne, die ich so zu überwinden hoffe. D.h. überspitzt formuliert, ich liebe das Leben, wie es ohne Literatur ist, nicht.
    Dieser These einen absoluten Charakter zu verleihen und sie zu verallgemeinern, das zeugt allerdings von einer gewissen Engstirnigkeit, weil es viele andere Wirkungsbereiche, beispielsweise die reine Freude an der Konstruktion von Sprache, vollkommen vernachlässigt. Das ist zugegeben nicht sehr weit gedacht, aber ich unterstelle, daß einiges an Sinngehalt Houellebecqs Wunsch nach Provokation zum Opfer gefallen ist. Ob man das nun allerdings als Begründung gelten lassen kann oder nicht, sei dahingestellt.


    Gruß
    Berch

  • Lesen als Realitaetsflucht? Vielleicht. Aber sind Trekkingtouren in den Himalaja, Wanderungen durch die Wueste, Pauschalurlaub im Club Med, ja selbst eine Woche im Ballermann nicht auch eine Flucht vor der Realitaet? Vor der Realitaet des eigenen Lebens. Also da lese ich doch lieber, als durchs Gebirge zu kraxeln oder besoffene deutsche Touristen ertragen zu muessen. :breitgrins:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Hallo BigBen,


    so ist es, vieles ist irgendwie Realitätsflucht.


    Jeden Abend 3 Stunden vor der Glotze sitzen (mit dem Nebeneffekt, dass man dabei verblödet), der fanatische Fußballfan, der auf jedes Spiel muß und alles über den Verein wissen muß und den Fanclub leitet, gewisse Formen der Religiosität, Arbeitssucht, durchtanzte Abende in der techno-Disko und natürlich jegliche Art von Drogenkonsum (angefangen beim Alkohol).
    Da fragt man sich, was noch für die Realität übrigbleibt :-)


    Viele Grüße,
    Zola

  • Zitat von "nimue"

    mal eine Zwischenfrage: Was ist schlimm an Realitätsflucht?


    Es kommt drauf an wie stark sie ist.
    Wer vor der Realität flieht, verändert sie nicht.

  • Hallo,


    Zitat von "Zola"

    Es kommt drauf an wie stark sie ist.
    Wer vor der Realität flieht, verändert sie nicht.


    O.k...jetzt wirds philosophisch. Meiner Meinung nach ist das dann aber schon wieder Realität, weil sie sich durch "Wirklichkeit" definiert. In dem Moment, in dem ich der Realität entfliehe, ist das schon wieder Realität und somit verändere ich sie aktiv.


    Ich bin der Meinung, dass es nicht möglich ist, die Realität nicht zu verändern. Egal was man tut.


    Liebe Grüße
    nimue

  • Zitat von "nimue"

    Ich bin der Meinung, dass es nicht möglich ist, die Realität nicht zu verändern. Egal was man tut.


    Realitätsflucht ist (für mich) meist ein Ausbruch aus der (physischen) Realität auf geistiger Ebene.


    Ein schönes Beispiel war die Christianisierung amerikanischer Sklaven: "Euer Leben (eure Realität) als Sklaven ist schlecht. Aber wenn ihr als gute Christen lebt, erwartet euch nach dem Tod das Himmelreich."
    Die Realitätsflucht war in dem Fall der Glaube.

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "nimue"

    Was ist schlimm an Realitätsflucht?


    Nun, du bist vor ihr geflohen, ausgebüxt, ausgerissen, ausge-rückt. Du hast ihr den Rück-en zugedreht. Du bist von ihr abge-rückt - mit einem Wort:


    Eventuell bist du ent-rückt, ganz sicher aber ver-rückt :breitgrins: :breitgrins: :breitgrins:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus