Beiträge von H.-P.Haack

    Das frage ich mich auch. Ich belasse es bei den drei Leseproben. Ich bin unsicher, ob das, was ich hier fabriziere, bei Lesern ankommt. Mein Ansinnen war, Einschätzungen zu erhalten. Etwa: Liest sich schwierig und was den Inhalt betrifft: Das interessiert keinen. Oder: Ich würde ein solches Buch zu Ende lesen.


    Ich schreibe meinen ersten Roman. Und vermutlich einzigen. Gehe wie auf Glatteis. Ich habe in Leipzig eine Literatur-Agentin kontaktiert und sie gebeten, das, was fertig ist zu lesen und eventuell mich an einen Verlag zu vermitteln. Sie brauche aber vier Wochen, ehe sie dazu kommt, sich die Leseprobe vorzunehmen. Wenn sie abwinkt, wäre mir das eine Orientierung.


    Meine beschissene Ungeduld.


    H.-P.Haack :winken:

    S e l b s t b e s i n n u n g


    Als freiwilliger Außenseiter und Individualist hatte Halter mir gegenüber einmal geäußert: «Niemand sollte seinen Wert oder Unwert danach bemessen, was anderen beliebt, sich in ihren Köpfen über ihn zurechtzulegen. Das Beste, was jeder ist, muss er für sich selbst sein. Die Meinungen der Anderen über ihn sind sekundär, solange er von ihnen nicht abhängig ist». Ich hatte diese Einstellung damals als hochfahrend und krass empfunden. Inzwischen bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob diese Sicht nicht doch ihre Berechtigung hat, selbstredend mit der Einschränkung, man wird nicht kriminell, bleibt hilfsbereit und lässt anderen genügend Freiraum.


    Im Alter, er ist 72 Jahre alt, hat Halter das Fürchten verlernt, die Furcht vor der Meinung anderer. Doch ein bisschen Furcht gehört zum Leben dazu, um nicht Schiffbruch zu erleiden. Ein Gespür für Gefahr. Da nun Halter mehr zurück als vorwärts blickt und nicht mehr viel erwartet, ich glaube, sogar Neuem ausweicht, leitet er daraus eine gewisse Unverwundbarkeit ab, als hätte er - um es mythologisch zu formulieren - in Drachenblut gebadet. Halter selbst sieht sein bestandenes Leben natürlich nicht als ein Bad in Drachenblut. So weit würde er sprachlich nicht gehen. Und was heißt bei Halter bestanden! Er hat sein Leben mit viel Glück überstanden. Das ist alles. Allenfalls Fleiß kann man ihm zusprechen, einen kleinlichen Ameisen- und Bienenfleiß. Den er aber auch nicht immer durchgehalten hat.


    Wie die genannten Insekten hat er Vorräte angelegt, das kommt noch hinzu. Risikofreie Geldanlagen. Er ist mit Ausgaben immer einen, wenn nicht zwei Schritte unter seinen Möglichkeiten geblieben. In einer Mischung aus Lebensängstlichkeit und Geiz. Erst jetzt ist er im Geldausgeben etwas lockerer geworden. Ziemlich spät, wie ich meine.


    Um den Gedanken weiter zu spinnen: Unter den Altgewordenen gibt es mildes Greisentum und das Gegenteil: den oder die frechen Alten. So meine Beobachtungen. Frech, weil sie sich nicht mehr fürchten. Halter kann charmant sein, aber auch in die Rolle des frechen Alten fallen. Er meint, er könne sich das leisten. Seine Rente sei dadurch nicht gefährdet. Wahrscheinlich hat er im Laufe seines Lebens einiges einstecken müssen, bis er unabhängig war. Mit der jetzt gewonnen Freiheit übertreibt er es, wie mir scheint. Eine Achillesferse hat jeder, auch er. Er sollte sich hüten. Und wenn es nur ein Lindenblatt gewesen ist, das eine verwundbare Stelle offen gelassen hat.


    «Höflichkeit», sagte Halter, wieder einmal frech geworden, «ist die stillschweigende, Übereinkunft, die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit, die allenthalben vorhanden ist, geflissentlich vor einander zu übersehen.» ― «Höflichkeit,» habe ich ihn zurecht gewiesen, «ist Klugheit. Sich durch Unhöflichkeit Feinde zu machen, ist, als würde man sich Sprengstoff implantieren, den der kleinste Funke zu Explosion bringen kann.»


    Schopenhauers «Aphorismen zur Lebensweisheit» zählt zu Halters Lieblingsbüchern. Die rigorosen Urteile des pessimistischen Philosophen in dieser Schrift entsprechen Halters Welt- und Menschenbild. Ich vermute sogar, er hat sie sich zueigen gemacht und dachte früher anders. Verdorben durch Schopenhauer so zu sagen. Wie dem auch sei, auf jeden Fall fühlt er sich durch ihn bestätigt und macht ihn zum Gewährsmann. Er kann so seine Ansicht aussprechen, in scharfer Formulierung, indem er achselzuckend Schopenhauer zitiert, ohne durchblicken zu lassen, dass er damit seine innerste Überzeugung ausspricht. Sich auf den pessimistischen Philosophen berufend meinte er neulich, daß wir mit den meisten unserer guten Bekannten kein Wort mehr reden würden, wenn wir hörten, wie sie in unserer Abwesenheit von uns sprechen.


    Und weiter: Um die Gediegenheit eines Freundes zu beurteilen, brauche man ihm nur ins Gesicht zu sehen, wenn man ihm von einem Unglück oder einem Rückschlag erzählt. Dann zeige sich Anteilnahme oder Gleichgültigkeit oder ein leises Lächeln. Für hämisches Lächeln brachte Halter im Café «Eisengrain» zwei Beispiele. Es hatte stark zu regnen angefangen und wir saßen fest. Keiner der Gäste traute sich vor die Tür. Halder war mal wieder ins Plaudern gekommen, angeregt durch das Regengeprassel, das bis in die Café-Kneipe zu hören war. Zudem hatte er sich einen doppelten Espresso genehmigt und saß jetzt bei einem Cappuccino. Kaffeegetränke steigern sein Mitteilungsbedürfnis.


    Der eine Fall von hämischem Lächeln lag zwei oder drei Jahre zurück und betraf Martin Dietz, einen gleichaltrigen Kollegen, der wie ich ebenfalls noch berufstätig ist. Halter leidet an einer neurologischen Erkrankung, an einem Restless-Legs-Syndrom (Syndrom der ruhelosen Beine), dass unbehandelt sehr quälend ist. Als Halter Dietz gegenüber geäußert hatte, dabei übertreibend, wenn die Medikamente nicht mehr helfen würden, etwa durch Gewöhnung, bleibe ihm keine andere Wahl, als von einem Hochhaus zu springen, sah Halter, dass Dietz lächelte. ― Halter hält keinen Kontakt mehr mit Dietz. Ich meine auch, nachdem ich das gehört habe, dass er auf den verzichten kann.


    Die andere Anekdote, hämisches Lächeln betreffend, stammte aus seiner Zeit in der Stadt am Fluss und betraf eine Scheidung, eine von Halters Ehescheidungen. Als er damals den Entschluss, sich scheiden zu lassen, gegenüber einem Oberarzt der Klinik, in der er damals beschäftigt war, einem gewissen Dr. Runke, beiläufig erwähnte, änderte der in unbewusster Körpersprache seine Kopfhaltung, indem er die Stirn leicht neigte und gleichzeitig den Kopf um eine Winzigkeit zur Schulter drehte. Dabei lächelte er. «Du Schwein» dachte Halter, ließ sich aber nichts anmerken.


    Die Scheidung selbst verlief einvernehmlich. Das will ich ergänzend hinzufügen. Gabriele, seine zweite Ex-Frau, hatte die Scheidung eingereicht, nachdem Halter ausgezogen war, aber mit der Einreichung der Scheidung getrödelt hatte. Da sie sich einig waren, genügte ein Anwalt für beide. Beim Gerichtstermin wurde gegenseitig ein Unterhaltsanspruch ausgeschlossen. Die Verhandlung fand im Arbeitszimmer des Richters statt. Halter und Gabriele saßen nebeneinander vor dem Schreibtisch des Richters, ihm frontal gegenüber. Der Richter war blind. Blind wie die Allegorie der Justiz, wenn sie als Skulptur mit verbundenen Augen dargestellt wird. Aufgrund der Sehbehinderung gab sich der Richter besonders gewissenhaft, um nichts zu übersehen bzw. keinen Fehler zu machen. Er las die Vereinbarung des gegenseitigen Unterhaltsausschlusses vor, den Text mit den Fingerkuppen tastend. Der enthielt die Präzisierung, dass auch «im Falle der Not» keiner der beiden ehemaligen Eheleute für den anderen aufkommen werde. Bei diesem Passus drehte sich Gabriele zu Halter und flüsterte: „Ich helfe dir, wenn du in Not bist“, lächelte und wandte sich wieder dem blinden Richter zu. Gabriele hat wieder geheiratet und ist Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter. Halter hat keine Kinder.


    [wird fortgesetzt]

    I m W e s t e n


    Als Halter im Herbst 1974, schon ziemlich weit im Oktober, aus dem Kofferraum gestiegen war, war er heil und unversehrt in West-Berlin angekommen. Ein Mann mit schwarzem Vollbart nahm ihn in Empfang und warf die Kofferraumklappe zu. Der Fahrer, der den Motor hatte laufen lassen, legt den Gang ein, gab Gas und fuhr davon. In einiger Entfernung hupte er einmal lang, sich damit von den Zurückbleibenden verabschiedend. Die kurze Szene spielte sich auf einem leeren Parkplatz vor einem Park ab. Der Platz war schwach erhellt mit weit auseinander stehenden Straßenlaternen.


    Der Bärtige, etwa Mitte dreißig, führte Halter zu seinem Auto, einen rot lackierten VW-Käfer. Die Fahrt ging ins Zentrum, nach Charlottenburg, in die Wilmersdorfer Straße. Dort angekommen, durchschritten sie die Toreinfahrt eines großen, vierstöckigen Hauses, überquerten einen sparsam beleuchteten Hof und gelangten in ein Hinterhaus, das ebenso groß war wie das Vorderhaus. Der Schwarzbart schellte an der Tür zu einer Parterrewohnung, die sogleich geöffnet wurde. Mieter war eine Wohngemeinschaft von Studenten. Die Zimmer hatten sie durchweg mit Sperrmüll eingerichtet, überwiegend mit Möbeln, die den Stil des 19. Jahrhunderts imitierten. Das grüne Sofa, der runde Tisch und der zerschlissene Teppich schafften ein Gepräge von ramponierter Behaglichkeit.


    Wie sich jetzt herausstellte, war der Bärtige Zahnarzt mit eigener Praxis in West-Berlin und stammte aus der DDR, wenn sich Halter recht erinnert, kam er aus Halle/Saale. Das einzige bekannte Gesicht gehörte Martina, einer Medizinstudentin aus seiner Stadt, die im Sommer, vor wenigen Monaten, ebenfalls geflüchtet war. Von ihr war Halters Flucht eingefädelt worden.


    Martina hatte im Sommer 1973 während ihres Urlaubs in Bulgarien, in Varna am Schwarzen Meer, westdeutsche Studenten kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet. Sie waren bereit, Martinas Flucht in den Westen zu organisieren. Im Sommer 1974 trafen sie sich mit Martina in Varna wieder und brachten frisierte Einreisepapiere, einen gefälschten Pass sowie westdeutsche Kleidung mit und ermöglichten Martinas Flucht. In West-Berlin, wo Martina sich fürs erste angesiedelt hatte, wurden die zurückgelassenen Bekannten in der DDR, von denen Martina wusste, dass die auch weg wollten, ihr Kapital. Sie organisierte deren Flucht gegen Bares. Zusammen mit ihrem neuen westdeutscher Freund, einem Biologiestudenten, dem die linke Hand fehlte ― in ihr war eine Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg explodiert, die er als Kind gefunden hatte ― wollte sich Martina von den Gewinnen einen Bauernhof kaufen. Eine Idee, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei jungen Leuten als schick galt. Es ging um Sinnfindung in einem einfacheren Leben auf dem Lande. Der Trend war im Rahmen der Flower-Power-Bewegung aus den USA nach Deutschland herübergeschwappt. Ob Martina den Plan mit dem Einhändigen verwirklicht hat und ob die beiden Landwirte geworden sind, kann ich nicht sagen. Ich habe versäumt, Halter danach zu fragen.


    Fluchtweg Halters ist damals die Autobahn nach West-Berlin gewesen. Das konnte zu dieser Zeit noch klappen. Am 3. Juni 1972 war das Transitabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in kraft getreten. Es ist das erste Abkommen gewesen, das zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf Regierungsebene abgeschlossen wurde. Die damalige SPD- und FDP-geführte Bundesregierung hatte eine «Neue Ostpolitik» eingeleitet, um einen «Wandel durch Annäherung» zu bewirken. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR wurden tatsächlich spürbar verbessert. Zu diesen Verbesserungen gehörte das «Transitabkommen». Bis dahin waren Reisende auf den Autobahnen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin oft an den Grenzpunkten von DDR-Polizisten schikanös kontrolliert worden, was zu erheblichen Zeitverlusten für die Transit-Reisenden führte. Mit diesem Abkommen verzichtete die DDR auf die Kontrolle von Gepäck und die Reisenden mussten für die Erteilung der Transit-Visa die Fahrzeuge nicht mehr verlassen. Die Grenzkontrollpunkte der DDR konnten jetzt in stop and go durchfahren werden, ohne Stau und Warteschlangen. Und vor allem: Die Fahrzeuge wurden nicht mehr durchsucht. Doch die Bewacher an den Grenzübergängen hat man in den folgenden Jahren mit Geräten für Infrarot-Wäme-Messung ausgestattet, mit denen Flüchtige im Kofferraum entdeckt werden konnten. Im Transitabkommen hatten die DDR-Unterhändler sich ausbedungen, dass im Verdachtsfall Fahrzeuge kontrolliert werden dürfen. Damit war diese Fluchtmöglichkeit blockiert.


    Anfang September 1974 hatte Halter angefangen, seine Flucht vorzubereiten. Sprechen konnte er mit niemand darüber, nur mit Karli und Jenny. Die beiden wollten auch weg und hatten Kontakt zu Martina. Karli, ein zierliches, verschmitztes Kerlchen mit blondem Bart, war freischaffender Graphiker und verdiente sein Geld mit der Gestaltung von Schallplatten-Cover und Bucheinbänden der volkseigenen Produktion. Die Herstellung von Tonträgern und Druckerzeugnissen war in der DDR fest in staatlicher Hand. Wie Karlis Erscheinung war auch sein künstlerischer Stil. Der hatte etwas minutiöses, filigranes, wobei er mehrere kleine eckige Motive seriell wiederholte und daraus eine Art flächendeckendes, buntes Raster bildete. Nach geglückter Flucht war er in West-Berlin als Theatermaler untergekommen. Die Arbeit an den Kulissen mit Flachpinsel und Spachtel dürfte einen Stilwechsel erzwungen haben. Karlis Frau Jenny war Ärztin und hatte vor kurzem erst ihr Studium beendet. Sie stand ihrem Mann an Zierlichkeit nicht nach. Jenny wollte Psychiaterin werden und ist es vermutlich auch geworden. In West-Berlin hatte sie eine Assistenzarztstelle an einer traditionsreichen Psychiatrischen Klinik bekommen und war dort bei Chef und Kollegen wohlgelitten.


    Halter war damals schon Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Und etwas besonderes — für DDR-Verhältnisse — war, dass er ein Auto besaß, ein neues, weißes, mit schwarzen Sitzen und schwarzem Armaturenbrett. Es war ein von den Russen in Lizenz gebauter Fiat 124, den die Russen «Lada» nannten. Der russische Fiat machte mehr her als die DDR-Autos Wartburg und Trabant.


    Er ist nie ein guter Autofahrer geworden. Jede Menge Unfälle hat Halter verursacht. Und so hat er auch seinen schönen Lizenz-Fiat kaputt gefahren. Wieder repariert, sollte er ihm im Oktober 1974 noch nützlich werden. Karli entpuppte sich nach dem Unfall als Experte. Über das ganze Gesicht strahlend hielt er Halter einen längeren Vortrag über den unwiederbringlichen Wertverlust, den das schöne Auto nun hatte. Das Chassis sei auf jedem Fall verzogen. So etwas könne man nicht wieder richten. Karli brachte Analogien zu Flugzeugschäden und redete, und redete. Bis dahin hatte ihn Halter als eher still erlebt.


    Für die Reparatur seines schönen Autos musste sich Halter in der Werkstatt einen Termin für die Terminvergabe geben lassen. Ja, einen Termin für einen Termin. Bei dem Termin für die definitive Terminvergabe sah sich einer der Werkstattmeister den Schaden an, kalkulierte den Zeitaufwand, ging danach mit dem Kunden ins Büro, fuhr dort mit dem Zeigefinger über Listen, die vor ihm lagen, fand schließlich einen Termin, den er dem Kunden mitteilte, und den der Kunde allen anderen Termine unterordnen musste, wollte er nicht, dass sich die Reparatur erheblich verzögerte. Es fehlte in der DDR so gut wie an allem, auch an Autowerkstätten. Als Halter sich den Reparaturtermin holte, musste er warten, bis er an der Reihe war. Es hatte sich eine kleine Warteschlange gebildet aus weiteren havarierten Automobilisten. Alles in allem ging damit für Halter ein ganzer Vormittag verloren, bis er in der Neurologischen Universitätsklinik, wo er arbeitete, eintraf. Er hatte zuvor mitgeteilt, dass er an diesem Montag später kommen wird. Das schien man vergessen zu haben. Wie Halter eintraf, schlug Oberarzt Dr. med. habil. Otto die Hände über dem Kopf zusammen. «Herr Halter! Da sind sie ja! Wo sind Sie denn gewesen? Es hat ihretwegen einigen Tumult gegeben. Nach ihnen wird gefahndet. Ich muss gleich Bescheid geben, dass sie da sind“ und eilte in sein Zimmer ans Telefon. Man hatte vermutet, dass Halter «Republikflucht» begangen hat. «Republikflucht» war eine DDR-spezifische Wortschöpfung. Ob nun Halter bereits im Visier der Stasi stand oder der Oberarzt lediglich einer Vorschrift nachgekommen ist, muss offen bleiben. Ich schließe nicht aus, dass ein «staatlicher Leiter» (DDR-Wortschöpfung) verpflichtet war, Meldung zu machen, wenn ein «hoch qualifizierter Mitarbeiter» (DDR-Jargon) ausgerechnet an einem Montag nicht zur Arbeit erschien. Es waren häufig Wochenenden, an denen die Fluchtwilligen sich aus dem von Honecker und Mielke praktizierten Sozialismus verabschiedeten.


    Vor Halter sollten Karli und Jenny flüchten. Die Flucht der beiden gelang erst im zweiten Anlauf. Beim ersten Versuch hatten sie in einem Gebüsch am Rande eines Parkplatzes der Autobahn gewartet. Der Rand des Parkplatzes war eine Böschung. An deren Fuß standen die Büsche, in denen Karli und Jenny sich versteckt hatten. Der Fluchthelfer erschien aber nicht. Als Karli und Jenny schon gehen wollten, hielt oben auf der Böschung ein russischer LKW. Von der Ladefläche sprangen an die zwanzig russische Soldaten, laut in Ihren Idiom durcheinander redend. In Reihe schlugen sie von der Böschung in großen Bögen ihr Wasser ab, nach unten, auf die Büsche, in denen Karli und Jenny kauerten. Doch sie hatten Glück im Unglück. Nass geworden sind sie nicht. Karli hatte Halter den kuriosen Vorfall lachend erzählt.


    Der Kontakt mit den Fluchthelfern erfolgte mündlich durch Kuriere. Man musste in der DDR damit rechnen, dass die Briefpost in und aus der Bundesrepublik geöffnet wurde. Innerdeutsche Telefonate wurden abgehört. Die genauen Anweisungen erhielt Halter bei einem Treffen in Ost-Berlin von einer Studentin aus Westdeutschland, die in West-Berlin studierte. Sie war als Kurier eingesprungen und mit einem Tagesvisum nach Ost-Berlin gekommen. Die Flucht war für den 20. Oktober 1974 angesetzt worden, wie sie Halter mitteilte. Er sollte sich in der Nähe der Autobahn «Berliner Ring» auf einer schmalen Straße, die durch ein Waldgebiet führte, aufhalten und, wenn er von einer DDR-Polizeistreife gefragt worden wäre, damit musste man in der Nähe der Autobahn «Berliner Ring» rechnen, sich als Pilzsammler ausgeben. Halter sollte entsprechend gekleidet sein und ein Körbchen mit Pilzen bei sich haben. Der Fahrer des Fluchtautos werde Halter eine Frage stellen in einem festgelegten Wortlaut, um sich kenntlich zu machen. Halter würde seinerseits mit einer vereinbarten Formel zu antworten.


    Halter, unverheiratet, wohnte damals noch in der Wohnung seiner Eltern, obwohl bereits 34 Jahre alt. Damit seine Fluchtabsicht nicht ruchbar wurde, hatte er sein Zimmer neu tapezieren lassen. Eine Maßnahme, die für sein Bleiben sprach. Die Arbeit war am frühen Nachmittag des Fluchttages beendet. Halter fuhr den Handwerker, der im Landkreis wohnte, mit seinem Lada nach Hause und von da weiter zur Autobahn Richtung Berlin.


    Der Tag war wolkenverhangen. In den Kieferwäldern beidseits des «Berliner Rings» lag diesiger Nebel mit einer Sichtweite von etwa 50 Meter. Die schmale Waldstraße mit dem Treffpunkt war leer und still. Halter wartete in schon fortgeschrittener Dämmerung. Er hatte eine schmale Tasche bei sich. Als er nach ihr griff ― er hatte sie für einen Moment auf der Straße abgestellt ― bemerkte er, dass seine Hände flatterten. So etwas war während seines ganzen bisherigen Lebens bei ihm nicht aufgetreten. Wie das letzte Tageslicht erloschen war, hörte Halter, pünktlich auf den abgesprochenen Termin, Motorgeräusche. Aus dem Dunst tauchten zwei Autoscheinwerfer auf, die, indem sie näher kamen, mehr und mehr an Leuchtkraft gewannen. Halter stellte sich in das Licht der Scheinwerfer. Eine Limousine hielt vor ihm. Die Scheinwerfer gingen aus. Aus dem Wagen stieg ein Mann, sich mit einer auf den Boden gerichteten Taschenlampe leuchtend. Soviel Halter in dem Streulicht der Taschenlampe erkennen konnte, trug er eine Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Der Mann im Halbdunkel stellte die vereinbarte Frage. Halter antwortete wie abgesprochen. Der Mann ging zum Heck, öffnete die Kofferraumklappe und sagte zu Halter beim Einsteigen: «Mit dem Gewicht nach vorn».


    Einige Tage zuvor war Halter mit seinem repariertem «Lada» hier gewesen und hatte sich den Treffpunkt angesehen samt Umgebung. Im Kofferraum hörte er jetzt an den Geräuschen, die die Räder mit dem Straßenbelag erzeugten, wo er sich befand. Die stille Straße im Wald war asphaltiert. Der Belag der Autobahnauffahrt bestand aus regelmäßigen Pflastersteinen, etwas unter Faustgröße, auf denen die Reifen ein surrendes Geräusch erzeugten. Auch die Kurve, die der Wagen auf der Auffahrt fuhr, spürte Walter im Kofferraum. Die Autobahn, die mit Betonplatten belegt war, ergab rhythmisch leichte Stöße, die zu einem gleichmäßigen Pochen wurden. Halter kann sich nicht mehr erinnern, wie lange die Fahrt mit den monotonen Autobahn-Geräuschen dauerte. Doch dann verlor das Auto an Geschwindigkeit und kam zum Stehen. Der Fahrer, den Halter im Kofferraum hören konnte, pfiff leise, zwei oder drei Sekunden. Halter begriff, dass er sich jetzt ruhig zu verhalten hatte, so hellhörig wie es in dem stehenden Auto war. Nach kurzer Wartezeit fuhr das Auto in langsamen Tempo an und hielt wieder ― fuhr erneut an und hielt erneut ― fuhr wieder an, jetzt aber beschleunigend und der Fahrer rief «Ende». Halter weinte, obwohl alles gut gegangen war. Er hatte sein Zuhause verloren.


    Ich füge, die alten Ereignisse beiseite schiebend, zwei aktuelle Meldung der Zeitung unserer Stadt auf ihrer Internet-Seite ein: In der frühen Freitagnacht vom 19. Juli 2013 wollte ein 52-Jähriger Buntmetalldieb das kupferne Fallrohr von der Dachrinne der Russisch-Orthodoxen Kirche in Leipzig stehlen. Der Mann hatte die drei Meter lange Röhre bereits demontiert, als die Polizei ihn gegen 3 Uhr auf frischer Tat ertappte. ― Morgen, Sonnabend den 20. Juli demonstrieren ab 14 Uhr Vertreter der Leipziger Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen in der Innenstadt unter dem Motto «Lieben und lieben lassen». Vorgesehen ist ein zweistündiger Umzug, der vom Markt aus startet. Daran schließt sich ab 16 Uhr ein buntes Straßenfest in der City an.


    [wird fortgesetzt mit ersten Erlebnissen in West-Berlin]

    Liebe Mitglieder des Klassikerforums,


    ich bin dabei, einen Roman zu schreiben. Wäre es tolerierbar, hier nach und nach die einzelnen Kapitel zur Diskussion zu stellen? Wenn nicht, dann bitte ich die Administratoren um Löschung.


    Um meinen Stil zu erläutern, setze ich eine Erklärung voran, die auch im Buch erscheint:
    Das Buch enthält zahlreiche unmarkierte Zitate, die Belesene erkennen werden. Ich halte die Übernahme fremder Formulierungen in die belletristische Literatur für tolerierbar. Sie machen den Zitatgeber zum Sprachbildner, indem er - zumindest für den Zitierenden - feste Redewendungen geschaffen hat. Mit dieser Montagetechnik gehe ich in Spuren. Thomas Mann hat die Anverwandlung von fremden Textpartikeln geradezu methodisch betrieben und sich ausdrücklich dazu bekannt.
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    Der Roman heißt HANS HALTER


    Das erste Kapitel und das Schlusskapitel sind fertig, also die Eckpunkte. Ich denke, man muss wissen, worauf ein Roman hinauslaufen soll, wenn man sich an die Arbeit macht. Das fertige Schlusskapitel kann ich noch nicht bringen, wie denn auch anders. Hier nun das 1. Kapitel. Es trät die Überschrift


    C a f è E i s e n g r a i n


    Hans Halter, ein Psychiater im Ruhestand, ist Stammgast im Café «Eisengrain». Dort darf geraucht werden. Halter ist Pfeifenraucher. Unabhängig davon hält er sich für einen Intellektuellen und meint, Individualist zu sein.


    Ich kenne Halter aus gemeinsamen Kindertagen. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Vor acht Jahren habe ich ihn im «Eisengrain» wiedergetroffen. Seither sehen wir uns dort öfter. Befreundet sind wir allerdings nicht. Ich glaube, Halter hat wenig Freunde. Ein Hang zur Eigenbrötelei ist bei ihm unverkennbar. Was seine geistigen Interessen betrifft, meint er, da die Welt eine Art Hölle sei, komme es darauf an, sich in ihr eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Das hat er vermutlich irgendwo gelesen.


    Aufgewachsen ist er als Einzelkind. Das hat ihn geprägt. Beide Eltern waren berufstätig. Bis sie abends nach Hause kamen, war er nachmittags, nach der Schule, sich selbst überlassen. Auch das hat ihn geprägt. Mittags wurde er mit Schulspeisung verköstigt. Das hat ihn abgehärtet. Nie hat er seinen Ehefrauen gegenüber - er war mehrfach verheiratet - am Essen gemäkelt. Was nicht heißen soll, dass er keinen Sinn für Kulinarisches hätte. Den hat er sehr wohl.


    Das «Eisengrain» ist mehr Restaurant als Café, mit einer Atmosphäre, die eher an eine Kneipe erinnert als an ein Restaurant. Halters Frau Carmen weigert sich, ihn dorthin zu begleiten. Was, wie ich meine, nicht gegen sie spricht. Da Halter regelmäßig pünktlich und unbeschadet zurückkommt, drückt sie ein Auge zu und lässt ihm seine Café-Sitzerei durchgehen. Ehefrau Carmen ist deutlich jünger als er und seit über 25 Jahren mit ihm verheiratet. Sie ist seine vierte Ehefrau. Ihr gelingt, was ihren Vorgängerinnen nicht gelungen ist. Sie langweilt ihn nicht, und sie behauptet sich ihm gegenüber. Das imponiert ihm. Halter mag starke Frauen und ist ihnen gegenüber bereit, auch einmal zurückzustecken.


    Im «Eisengrain» bevorzugt Halter Tisch 11. Der steht in einer Reihe mit vier weiteren Tischen vor der durchgesessenen Sofabank mit dem gelblichen Kunstlederbezug. Man sitzt auf ihr etwas tiefer als auf den Stühlen des Cafés. Begleitet wird Halter fast immer von Nora, einer Hündin, die seiner Frau gehört. Nora ist ein Labrador-Stafford-Mischling mit schwarzem Fell und markantem Kopf.


    Halter redet gern — und das gar nicht schlecht. Zu einem Einzelgänger will diese Mitteilsamkeit nicht so recht passen. Mitunter knüpft er Gespräche mit den Gästen am Nachbartisch an. Zum Anlass nimmt er den Hund, indem er beim Platznehmen treuherzig fragt, ob der Hund störe. In der Folge entspinnt sich dann nicht selten eine Plauderei, nach der die so rekrutierten Gesprächspartner, ursprünglich wildfremde Leute, sich mit Handschlag verabschieden. Offenbar wird Halter nicht übel genommen, dass er sich mit der Wahl seiner Gesprächsthemen mehr nach seinen Bedürfnissen richtet als nach denen seines Gegenübers.


    Ich, der hier schreibt, heiße Paul Felix Tanner. Ein Plauderer wie Halter bin ich nicht. Vor Jahren hatte ich in einem alten, in geprägtem Schweinsleder gebunden Buch geblättert, dessen Buchdeckel seitlich zwei Schließen zusammenhielten. Gedruckt worden war das Buch 1587. Die Jahreszahl hat sich mir eingeprägt. Warum könnte ich nicht einmal sagen. Dabei war ich auf eine Spruchweisheit gestoßen, die nur aus zwei Zeilen bestand, im fortlaufenden Text mittig eingerückt und nicht zu übersehen.


    Weißt du was, so schweig.
    Ist dir wohl, so bleib.


    Mir war, als stünde dort meine Lebensmaxime, formuliert von einem Unbekannten. Dabei hat mein Schweigen etwas Unfreiwilliges. Das Denken läuft bei mir langsam ab. Leider bin ich auch nicht schlagfertig. Meine Langsamkeit mache ich wett durch Gründlichkeit. Doch wenn ich schreibe, hält sich mir das Wort durchaus zu Gebote.


    Ich habe vor, über Halter einen Roman zu schreiben. Roman-Autoren in meiner Verwandtschaft, die mir Anlagen dieser Art vererbt hätten, sind mir nicht bekannt. Allenfalls ein weit entfernter Anverwandter aus Süddeutschland in der mütterlichen Linie - meine Mutter hat bajuwarische Vorfahren - käme in Betracht, ein ehemaliger Gymnasialprofessor in Freising. Dabei weiß ich nicht einmal, ob er mit mir blutsverwandt oder nur angeheiratet war. Meine Mutter, die Auskunft geben könnte, lebt schon lange nicht mehr. Der Gymnasialprofessor hatte sich schriftstellerisch einen Namen gemacht mit der Lebensbeschreibung eines Komponisten, den, nachdem ihm endlich der künstlerische Durchbruch gelingt, der Teufel holt. Es ging dabei auch um Syphilis. Meine literarische Figur Hans Halter soll nicht der Teufel holen. Ich habe keinen Sinn fürs Gruslige oder gar Dämonische, dafür um so mehr für Ironie und Komik. Selbst das Groteske kann unterhaltend sein, sofern es sich um Literatur handelt.


    Das Wort Literatur ist gefallen. Aus den Anekdoten, die Halter mir erzählt hat, soll, wie gesagt, ein Roman werden. Den Anspruch auf Literatur gleich im Auftakt geltend zu machen, erscheint mir wichtig, denn die Literatur ist der Wahrheit nicht verpflichtet. Sie darf ihre Inhalte durchaus erdichten. Die eine oder andere Anekdote werde ich daher nach schriftstellerischem Ermessen erfinden. Dabei lasse ich den Leser bewusst im Unklaren darüber, was Dichtung und was Wahrheit ist. Die Literatur erlaubt ein solches Vexierspiel. Und man kann mich nicht festnageln, wenn der eine oder andere Zeitgenosse meint, er sei hier mit Druckfarbe angeschwärzt worden. Dieser Haftungsausschluss wird «die Freiheit der Kunst» genannt. Bösartige Zungen sprechen von der «Narrenfreiheit» der Kunst, wobei sie vermutlich gewagte Experimente der zeitgenössischen bildenden Kunst im Auge haben, deren Formensprache, sofern man überhaupt noch von Form sprechen kann, sich jeglicher Deutung verschließt.


    Ich fahre fort, mich weiter kenntlich zu machen, da ich davon ausgehe, dass Leser und Leserinnen wissen möchten, mit wem sie es zu tun haben. Wie Halter bin ich Jahrgang 1940. Es geht also bei Erzähler und Romanfigur um Rückblicke von zwei in die Jahre gekommenen Männern, die mehr Vergangenheit hinter sich haben als Zukunft vor sich. Eine Aussicht, die mich ein wenig bedrückt. Halter scheint sie nichts auszumachen. Aufgewachsen sind wir in derselben Stadt, in der ich, im Gegensatz zu Halter, alle meine Zeit verbracht habe. Diese Beständigkeit und Heimattreue hatte Halter einmal als Ofenhockerei bezeichnet. Was ich als übertrieben und taktlos empfunden habe. Er hatte sich nämlich 1974 im Kofferraum mit Hilfe von Fluchthelfern davongemacht und volle drei Jahrzehnte beim Klassenfeind, so hieß das damals, verbracht. Ich komme auf die näheren Umstände noch zu sprechen. Richtig gefallen scheint es ihm dort nicht zu haben, denn er hat sich 2005 repatriiert und ist zurückgekommen. Er sieht in dieser biographischen Rundung etwas von lebensgütiger Erfüllung, möglich geworden durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands.


    Was unsere Stadt betrifft, so wurde sie an zwei sich kreuzenden Handelswegen gegründet, einer Nord-Süd-Route, via imperii genannt und einer West-Ost-Route, der via regia. Die so genannte Reichsstraße in der Innenstadt erinnert an den historischen Namen via imperii. Wegen dieses Schnittpunktes ist im Ausklang des Mittelalters unserer Stadt von Kaiser Maximilian das Messeprivileg verliehen worden. Auch heute kreuzen vor der Stadt die großen Autobahnen und in ihr Fernlinien der Bahn.


    Die Stadtteile sind nach den Dörfern benannt, die eingemeindet wurden, darunter Dörfer mit slawisch klingenden Namen, z. B. Reudnitz oder Zschocher, aber auch mit deutschen, wie Schönefeld und Volkmarsdorf. Sogar der Name unserer Stadt kommt aus dem Slawischen. Er enthält das Wort Lipa, das Linde bedeutet. Zugewanderte deutschsprachige Siedler hatten hier neben den ansässigen Slawen ebenfalls Dörfer gegründet. Die Slawen haben mit der Zeit Deutsch gelernt und ihre Sprache allmählich vergessen.


    Die Innenstadt umfasst nur einen Quadratkilometer, wenn überhaupt. Trotzdem besteht eine urbane Atmosphäre ohne Beengtheit, denn schmale Straßen und Gassen gibt es nur wenige, dazu mehrere große Plätze. Demnächst soll ein S-Bahntunnel, der die Innenstadt unterquert, eröffnet werden, nach zehn Jahren Bauzeit. Ein chinesischer Student, der in der Messehof-Passage an einer Kaffee-Bar gejobt hatte, meinte lächelnd: In zehn Jahren bauen wir in China eine ganze Stadt einschließlich U-Bahn-Netz.


    Als Kinder waren Halter und ich Spielkameraden. Er stammt aus der Eisenbahnstraße 147, ich aus der sie querenden Geißlerstraße 2, aus dem Haus, in dem im Erdgeschoss rechts die geschiedene Frau von Walter UIbricht wohnte. Er hatte sie, obwohl wieder verheiratet, gelegentlich besucht. Als Kind bin ich im Hausflur dem «Spitzbart» sogar einmal begegnet. Die Einwohner der gesamten Häuserzeile wussten, wer anwesend war, wenn die schwarze Limousine mit Fahrer vor der Haustür parkte. Die Besuche Ulbrichts in der Geißlerstraße fielen in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Danach habe ich die schwarze Limousine nicht mehr vor unserer Haustür gesehen. Das Haus steht heute leer und ist sanierungsbedürftig.


    Auf der anderen Seite der Geißlerstraße, die leicht abschüssig verläuft, sieht man auf die rote Ziegelmauer einer ehemaligen Gasanstalt, die damals dicht mit Efeu bewachsen war. Bei der Erinnerung dieses Straßenbilds aus der unteren Geißlerstraße fällt mir eine Episode ein, die sich im oberen Teil der Geißlerstraße zugetragen hatte, an einem Sonntagvormittag. Hoch anstößig. Von großer Liederlichkeit.


    Aus dem Eckhaus Eisenbahnstraße 149 waren aus den Fenstern, die auf die Geißlerstraße gingen, benutzte Präservative geworfen worden, mehrere, in kurzen Abständen und lagen auf dem Pflaster herum. Die Entrüstung der Nachbarn war groß, besonders unter den Frauen: Kinder könnten bei diesem Anblick Schaden nehmen oder verdorben werden. Der Benutzer der Verhütungsmittel wurde gefunden: Ein junger Mann mit Grundschulabschluss und Lehrling, ich weiß nicht mehr für welchen Beruf, ich glaube Gärtner, hatte, als seine Eltern sonntags vormittags in der Kirche saßen, seine Freundin zu Besuch, ein korpulentes, rothaariges Mädchen, deutlich unter Mittelgröße. Was dem Skandal jedoch eine eigenartige Note gab, war die leibarme Erscheinung des fleißigen Liebhabers: Er war noch keine 18, aber bereits hoch aufgeschossen, hager, mit vorspringendem Adamsapfel, der die Hagerkeit herausstrich, schwarzhaarig und Brillenträger, mit auffallend dicken Gläsern. Der Mund war stets leicht geöffnet, sodass die Schneidezähne in voller Größe zu sehen waren. Ein Anblick, der an Hasenzähne erinnerte. Das ausdruckslose Gesicht ließ dazu keine großen Geistesgaben vermuten. Und dann diese Manneskraft! Mir war, als hätte ich aus den empörten Reden der Frauen etwas wie klammheimliche Bewunderung herausgehört.


    In der Eisenbahnstraße wohnen inzwischen viele Ausländer, überwiegend Orientalen. Die Ladengeschäfte mit ihren Auslagen vor den Schaufenstern bilden ein südländisches Kunterbunt. Davor, auf den Trottoirs laufen Frauen in weiten, knöchelangen Gewändern und mit in die Stirn gezogenen Kopftüchern. Hin und wieder stehen Männer mit dunklem Teint, kohlschwarzen Augen und ebenso schwarzen Haaren in kleinen Gruppen beisammen, viele davon unrasiert. Am 8. Juli 2013 fielen in der Eisenbahnstraße Ecke Hildegardstraße Schüsse. Ein Syrer hatte kurz nach 18:00 Uhr zwei Mazedoniern in die Beine geschossen. Sie wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Der Syrer hat sich am Tag darauf gestellt. Sein Anwalt hatte ihm dazu geraten. Das ist bereits die dritte Schießerei in unserer Stadt innerhalb weniger Monate. Erst im April war einem türkischen Mann in Reudnitz ins Bein geschossen worden. Ein Täter konnte bisher nicht ermittelt werden. Im Mai wurde ein Toter am Bahnhof Leutzsch gefunden. Ermittler teilten damals mit, dass das Opfer erschossen worden sei. Zusammenhänge zwischen dem Ermordeten und dem Vorfall im Stadtteil Reudnitz waren geprüft worden. Ein offizielles Ergebnis gab es nicht.


    Jetzt wohnt Halter im «Waldstraßenviertel», in einer ehemals großbürgerlichen Altbauwohnung, zumindest teilweise, denn die ursprüngliche Wohnung, die über die gesamte Etage ging, ist unterteilt worden in drei Wohnungen. Eine davon haben Halters gemietet. Genau genommen wohnen Halter und seine Frau nur zu einem Drittel großbürgerlich, auf knappen neunzig Quadratmetern. Eine vorgebliche Bescheidenheit, die aber nichts weiter ist als Geiz. Ich wohne in der Prellerstraße, die zu einer bevorzugten Wohngegend gehört, auf beachtlichen 135 Quadratmetern. Ein kleiner Wehrmutstropfen ist, dass sie nur über den Hintereingang, den ehemaligen Dienstbotenaufgang zu erreichen ist, und dass die Deckenhöhe niedriger ist als in den Stockwerken darunter. Zudem ist der Fahrstuhl im vorderen Treppenhaus installiert. Meine Frau, wenn ich das hinzufügen darf, ist berufstätig als chirurgische Oberärztin, in einem bis vor wenigen Jahrzehnten noch typischem Männerberuf. Halters Ehefrau ist Arzthelferin.


    Er und ich haben ähnliche, aber auch wieder grundverschiedene Berufe ergriffen: Er ist Psychiater geworden, wie eingangs gleich mitgeteilt worden ist. Ich habe es nach gediegener Ausbildung und solider Lehranalyse zum Psychoanalytiker gebracht, zu einem Jünger Sigmund Freuds, von strenger Observanz. Mein analytischer Sinn für die Tiefen und Untiefen der Seele samt den unbewältigten Konflikten, die dort im Unbewussten rumoren, ist von Halter nie so recht akzeptiert worden. Er vertrat und vertritt noch immer eine naturwissenschaftliche Psychiatrie, die seelische Erkrankungen als Krankheiten des Gehirns ansieht, sich dabei auf einen der Stammväter der Psychiatrie berufend, der dies 1845 in seinem Lehrbuch als einen Kernsatz formuliert hatte. Eine aus meiner Sicht doch recht simple Auffassung. Ich halte es für oberflächlich, psychische Erkrankungen auf biochemische Störungen zurückzuführen, auf ein Zuviel oder Zuwenig von Neurotransmittern. Es hat in diesem Punkt zwischen uns keine Einigung geben können. Dieser Dissens ist typisch für die psychiatrische Wissenschaft. Wir stehen damit nicht allein. Es gibt seit dem Beginn der wissenschaftlichen Psychiatrie eine naturwissenschaftlich-medizinische und geisteswissenschaftlich-psychologische Strömung. Allerdings gewinnt die naturwissenschaftliche Psychiatrie mit den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften immer mehr an Boden. Die Verschiebung des wissenschaftlichen Fokus von der Lebenswelt des Patienten auf Funktionsweise des Gehirns sehe ich durchaus, kann mich aber einem solch platten Biologismus nicht anschließen.


    Halter hat sich mit 65 Jahren aus dem Berufsleben verabschiedet. Ich dagegen praktiziere noch immer. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden wir uns. Er geniest seit 2005 seinen Ruhestand. Nun ja, - soll er meinetwegen. In den ersten Jahren seines Rentner-Daseins hatte er diesen Lebensabschnitt als ein Erntedankfest bezeichnet, das sich täglich erneuere. Er hat mit seiner Nervenarztpraxis (er war nicht nur Psychiater, sondern auch Neurologe) im Westen gut verdient, nach meinem Dafürhalten zu viel und bezieht eine entsprechend üppige Rente, die ich ebenfalls für zu hoch halte. Zwei der vielen Ungerechtigkeiten, die das Leben so bringt.


    Doch zurück zu unserer Stadt. Sie ist immer eine bürgerliche Stadt gewesen im Gegensatz zur Landeshauptstadt, die Sitz von Kurfürsten und Königen war. Der populärste Kurfürst ist August der Starke. Der soll über enorme Körperkräfte verfügt haben, die er als Kurfürst gar nicht nötig hatte. Behauptet wird, er habe vor Zuschauern mit bloßen Händen ein Hufeisen aufgebogen. Den Bildnissen nach zu urteilen ist er ein schöner Mann gewesen. Ihm wird eine Schwäche für das weibliche Geschlecht nachgesagt, und er soll Vater von 365 unehelichen Kindern geworden sein, was die Sachsen - der Leser hat längst erkannt, wo wir uns literarisch aufhalten - sich gegenseitig schmunzelnd erzählen. Nachdem die barocke Zeit des starken Mannes abgelaufen war und Aufklärung und Klassizismus an der Tagesordnung waren, wurde Sachsen 1806 von Napoleon zum Königreich erhoben, und Dresden war damit königliche Residenzstadt geworden. Unmittelbar zuvor hatte Napoleon die Sachsen und die Preußen, beide waren Verbündete, bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen. Neun Jahre später verschwand Napoleon von der Weltbühne und verkümmerte auf einer einsamen Insel im Atlantik. Das Königreich Sachsen aber blieb. Es bestand noch 112 Jahre.


    Apropos zu der Rolle der Sachsen in Kriegen. Es gibt kaum Kriege, aus denen die Sachsen als Sieger hervorgegangen wären. Ich schreibe vorsichtshalber kaum. Bekannt sind mir Siege der Sachsen jedenfalls nicht. Eine Ausnahme wäre vielleicht die Völkerschlacht bei Leipzig 1813, bei der, wie jeder weiß, Napoleon unterlag. Zu Beginn der Schlacht waren die Sachsen noch Verbündete Napoleons. Während der Gefechte wechselten sie die Seite und liefen zu den Gegnern Napoleons über. Sie schossen plötzlich in die andere Richtung, auf ihre Waffenbrüder, die von einer Minute auf die andre keine Waffenbrüder mehr waren. Ein typisches Beispiel von sächsischer Heimtücke. Man hatte sich noch rechtzeitig auf die Seite der Sieger gebracht.


    Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist die unterschiedliche Mentalität der Einwohner beider Städte. Der Dresdner ist Residenzler geblieben und sieht auf unsere traditionell bürgerliche Stadt ein bisschen herab. Trotzdem kommt die hiesige Art von Urbanität bei jungen Leuten gut an. Eine Studentin aus den alten Bundesländern hatte unsere Stadt mir gegenüber so gelobt: «Nicht so saturiert wie München und nicht so ausgeflippt wie Berlin».



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    Epigrammatisch

    Welcher Mythos taugt als Leitbild?
    Proteus oder Atlas spielen?
    Durch Verwandlung sich entziehen,
    Oder schwere Lasten tragen?

    Dass man ihn nicht stellen konnte,
    Schuf Bewunderung dem Proteus;
    Ruhm und Achtung jedoch fand
    Der Titan und Himmelsträger.

    Suche jeder seine Rolle,
    Zeit und Leben zu besteh'n.
    Proteus’ Bildnis kennt man kaum -
    Atlas ward in Stein gemeißelt.

    Treffend Wort



    Wort in Text
    und Wort gesprochen
    Beide nicht dasselbe sind:
    Rede manch Ermessen hat,
    Text erfordert Maß und Strenge.

    Diese Zucht, die guter Schriftform
    Klarheit und Prägnanz erst schafft,
    Sie beruht auf sich´rer Wortwahl,
    Auf dem Wort, das treffend passt.

    Treffend Wort erst bringt die Dichte,
    Die aus Versen Dichtung macht.
    Guter Text ist dichte Sprache
    Durch das abgewogne Wort.



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    Zu dem Wortspiel „Dichte, die aus Versen Dichtung macht“:

    Der Gleichklang von "Dichte" und "Dichtung" beruht nicht auf demselben Wortstamm.
    „Dichte“, seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar, leitet sich von dem mittelhochdeutschen „dīhte“ [mittelniederhochdeutsch „dicht (e)“] ab, das für „dicht, dick“ steht.
    „Dichtung“, seit dem 9. Jahrhundert nachweisbar, althochdeutsch „dihton“ [mittelhochdeutsch „tihten“, mittelniederdeutsch „dichten“], ist entlehnt aus dem lateinischen „dictāre“ für "etwas zum Aufschreiben vorsagen", einem Intensivum zu „dīcere“ für „sagen“. (Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 23. Aufl.,1999.)

    Verse machen
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    Komprimieren
    Hält das Wort sich zu Gebote
    Dem, der Sprache formen will,
    Kann er sie zum Vers verdichten,
    Rhythmus gebend oder frei.

    Ironie
    Anklang und Bedeutungshof
    Sowie doppelbödig Inhalt,
    Der die Kehrseit’ nicht verschweigt,
    Sprechen höh're Wahrheit aus.

    Ambiguität
    Tragik Ironie verleihen
    Oder Komik tragisch schildern,
    Scherz dem Ernste abgewinnen
    Sichert Versen dauernd Leben.

    Mit Sprache modellieren


    Sprache kann das Mittel sein,
    Zu gestalten, Form zu geben,
    Wie für Plastiker der Ton,
    Wie für Maler die Palette.


    Guter Text und gute Rede,
    Nur von diesen will ich sprechen,
    Weitaus suggestiver sind
    Als das Seh- und Hörerleben.


    Sprache affiziert gezielter
    Das Bewusstsein von uns Menschen;
    Kann Strukturen prägen, ändern,
    Wertehierarchien schaffen.


    Von dem Logos abgesehen
    Können Worte auch zu Tränen
    Oder Lachen viele rühren,
    Wenn sie wurden gut gewählt.


    Denkbar ist es, dass das Wort
    Stärker wirkt als Bild und Plastik,
    Ja, noch mehr erschüttern kann,
    Als es die Musik vermag.

    Atlantik

    Kleine Wellen, hoher Himmel,
    Weite Leere ringsumher.
    Einsam seinem Kurse folgend
    Bringt MEIN SCHIFF mich übers Meer.


    Sinnend an dem Heck ich sitze,
    Blicke rückwärts und hinab:
    Schraubenantrieb wirbelt schäumend
    Eine helle Spur der Fahrt.


    Wie ein langes schmales Band
    Zieht zum Horizont dies Brodeln,
    Perspektivisch enger werdend,
    abgegrenzt vom Blau der See.


    Wirbel und Verwirbelung
    Keineswegs von Dauer sind;
    Wellen, Dünung, Wassermassen
    Tilgen fern die nasse Spur.


    Solch Versiegen und Verrinnen
    Mahnen an das Dasein selbst.
    Zeit und Leben gleichfalls fließen,
    Uranfänglich und bis heut’.


    Letzte Überfahrt kann warten,
    Ein Jahrzehnt noch geb’ ich mir.
    Dann besteig ich Charons Nachen,
    Dass ich Ruh’ für immer find.

    Bin mir nicht sicher, ob hier der richtige Platz ist für meine Verse. Riskiere es aber trotzdem.



    Schwere See
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    Steifer Wind bläst übers Deck,
    Will mich auf die Planken werfen.
    Schaumbedeckte Wellen rollen
    Gegen starke Dünung an.


    Stampfend packt die schwere See
    Dieses übergroße Schiff.
    Alle waagerechten Flächen
    Schwanken ohne Unterlass.


    Unvermittelt kommen Stöße,
    Gläser von den Tischen fegend,
    Ausgelöst von großen Wellen,
    Die sich einzelnen aufgebaut.


    Und dann wieder wird das Schiff
    Rüttelnd, schüttelnd für Sekunden
    Wuchtig hin und hergeworfen,
    Scheinbar auf der Stelle harrend.


    Nasse Schäume treibt der Wind
    Bis zum höchsten Deck hinauf.
    Sonnenschein im Tröpfchen-Nebel
    Regenbogen leuchten lässt.


    Mageninhalt drängt ins Freie,
    Schwindel macht im Kopf sich breit.
    In den Gleichgewichtsorganen
    Schwappt die Lymphe wie auf See.


    In der Klinik hier an Bord
    Mussten kranke Passagiere,
    Ärztliche Bemühung löhnend,
    Tief in ihre Taschen greifen.


    Doch geholfen hat es ihnen,
    Fort war alle Seekrankheit!
    Innenohr (und auch und Magen)
    Nicht mehr so sensibel waren


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    Reimlose Trochäen geben
    Meinen Versen Takt und Form.
    Knapp und bündig ist der Duktus,
    Und mein Wort - es trifft genau.



    Hans-Peter Haack




    Schiffsgedicht 2:
    http://www.klassikerforum.de/i…36.msg49560.html#msg49560

    Künftiges Standardwerk für Sammler und Antiquare:


    Erstausgaben Thomas Manns. Ein bibliographischer Atlas.


    http://www.bt-mediawork.de/erstausgaben/


    Abgebildet sind alle Erstausgaben Thomas Manns, auch die ersten Einzeldrucke der Vorzugsausgaben und Luxusdrucke. Es fehlt lediglich «Dieser Krieg!» (1940). Das Vorhandensein eines dieser Exemplare konnte auch Potempa nicht verifizieren. Die Auflage gilt als vernichtet. Abgebildet ist hier ein Folgedruck (Standort: Thomas-Mann-Archiv Zürich), der unter der Hand in Nazi-Deutschland kursierte.


    Auflage: 490 Exemplare, unterteilt in eine Vorzugsausgabe 2010 mit Schuber, Schutzumschlag und Leseband von190 nummerierten Exemplaren sowie in eine nicht nummerierte Normalausgabe 2011 (300 Exemplare).

    Inhalt und Ausstattung beider Einband-Varianten: 224 Seiten, 190 farbige Abb., schweres Papier (135g/m²), breitrandiges Layout, Offset-Druck, Hardcover, Lexikon-Oktav. Die abgebildeten Werke Thomas Manns sind in bis zu 11 cm Abbildungs-Höhe dargestellt, mit den Buch- und Broschurkanten (unbeschnittene Fotovorlagen). Identifiziert werden die Abbildungen durch die Signaturen von Potempa und Bürgin.


    Hrsg.: Hans-Peter Haack. Mitarbeit Sebastian Kiwitt. Einbandgestaltung: Christine Ruttka. Druck und Bindung: Druckzentrum DZA zu Altenburg (D), gegründet 1594 in Torgau als Fürstlich Sächsische Officin durch Herzog Friedrich Wilhelm zu Sachsen.

    An Markus Kolbeck alias Dostojewski in Leipzig: Vielen Dank für das Zitat! - Dir und vielen anderen mag die generelle Kluft zwischen Film und literarischer Vorlage geläufig sein, - aber nicht allen. Bei der großsprecherischen Ankündigung dieses Filmes sind meine Anmerkungen am Platz. Sie sind auch eine Warnung. Im mündlichen Examen merkt der Prüfer schnell, ob ein Abiturient den Roman gelesen hat oder nur den Film kennt. Auch Germanistikstudenten laufen Gefahr, dass die Erinnerung an den literarischen Text durch die suggestiven Bilder des Films – eine gestalterische Leistung! – verfälscht wird. - H.-P. Haack, Leipzig. :smile:

    "ei, wieso? Warum sollte ich mir eine schlechte Literaturverfilmung antun?" - Ja, warum! Recht hast Du, wenn Du Dich an das Original hälst! Einige Leute gingen während der Vorstellung raus. Würde Dir vielleicht auch passieren.


    Die Vorschusslorbeeren für den Film lassen sich vermutlich als Bildungsanspruch derer erklären, die den Roman nicht kennen, aber wissen, dass er zur Weltliteratur gehört.

    Denke, man soll sich den Film ansehen. Nur muss man stets wissen, dass man es mit Kino (und Kino-Betrieb) zu tun hat.


    Eine Gefahr ist allerdings, dass die suggestiven Leinwandbilder die Erinnerung an den literarischen Text verfälschen. Ein Grund, nach dem Film „Buddenbrooks“ noch einmal zu lesen. Dann hat man es schwarz auf weiß, was Breloer aus dem Roman gemacht hat.

    Heinrich Breloer ist ein opulenter Ausstattungs-Film gelungen. Kulisse und Kostüme wirken hoch authentisch. Dünkel und Provinzialität, im Roman eher hintergründig, werden zum alles beherrschenden Leitmotiv. Höchste ideelle Werte sind Großbürgerlichkeit und Besitz, die in der überschaubaren Stadt an der Ostsee im Kaufmannsberuf gipfeln. Engstirnige Krämermentalität wird mit sozialem Prestige verwechselt und als Familientradition hochgehalten. Persönliches Glück hat sich dynastischem Standesdünkel unterzuordnen. Die selbstüberzeugte Würde des Patriarchen Jean Buddenbrook, gespielt von Armin Müller-Stahl, täuscht die Zuschauer über das Fassadenhafte dieses reichen Bürgertums.


    Im Roman ist Christian Buddenbrook eine Art Bajazzo, banal und oberflächlich. Närrisch ist er auch in Breloers Film, glänzt aber bisweilen mit philosophischen Einsichten und wissender Überlegenheit. Damit wird aus Christian Buddenbrook mehr gemacht, als er ist. Dem literarischen Text zufolge leidet Christian an einer schleichend voranschreitenden Psychose mit abnormen Leibgefühlen, Zwangsgedanken, Halluzinationen, Wahnideen und einer zunehmenden dynamischen Entleerung. Thomas Buddenbrook, dem Thomas Mann eigene Wesenszüge mitgegeben hat, nennt Christian im Roman wegwerfend einen "maroden Narren" und zahlt ihm als Familienoberhaupt sein mütterliches Erbe nur ratenweise aus.


    Dass der finanziell gut gestellte Christian die mittellose Aline Puvogel mit dem unehelichen Kind, das sie mitbringt (im Roman sind es zwei), heiratet, ist aus unserer heutigen Sicht ein menschlich sympathischer Zug. Für Thomas Mann war es eine skandalöse Pointe in seinem „Verfalls“- Roman. Er hat in seiner eigenen Lebensplanung hartnäckig um eine Tochter aus reichem Haus geworben und schließlich auch ihr Ja-Wort erhalten. Seinem Bruder Heinrich konnte er nicht verzeihen, dass dieser eine Kellnerin geheiratet hat.


    Mit einem hohen Aufwand an Kunst ist die Begegnung Thomas Buddenbrooks mit Gerda Arnoldsen in Bilder gesetzt. Sie lebt in Amsterdam und ist eine Geigenvirtuosin, ohne dass sie ihre Begabung zum Beruf gemacht hätte. Amsterdam ist zu dieser Zeit eine Stadt des Welthandels. Die Schiffe der Lübecker Kaufleute, so stellt es der Film dar, befahren nur die Ostsee. Die nächtliche Kahnfahrt in Amsterdam zum Haus des Vaters von Gerda Arnoldsen spielt mythisch auf den unterweltlichen Styx an. Diese düstere Einstimmung ist eine filmische Lizenz Breloers, denn im Roman ist von einer Bootsfahrt, dazu durch Dunkelheit, keine Rede. Der Feuerschein der Fackel, die dem stakenden Fährmann leuchtet, wird vom Wasser der Gracht reflektiert und gibt der prächtigen Hausfassade eine magische Illumination. In Gerda Arnoldsen erkennt Thomas Buddenbrook seine künftige Gattin. Sie spielt auf ihrer Stradivari, die Wange an das Instrument geschmiegt und sieht Thomas mit wissendem, kaum merklichem Lächeln an. Die tradierte Buddenbrooks-Interpretation deutet die rätselhafte und fremd bleibende Gerda Buddenbrook als eine Art Todesengel, der Lübeck wieder verlässt, nachdem Thomas und ihr gemeinsamer Sohn gestorben sind. Der erste Blickkontakt der Geige spielenden Gerda Arnoldsen mit Thomas Buddenbrook lässt Assoziationen aufkommen zu dem Selbstporträt Arnold Böcklins mit dem fiedelnden Tod. (-> http://commons.wikimedia.org/w…ecklin-fiedelnder_Tod.jpg)


    Es gibt Filme, die Kunstwerke sind. Der Literatur ist der Film jedoch nicht gewachsen. Sprache, wird sie vom Schriftsteller/Dichter gehandhabt, vermag mehr Inhalte und Hintergründiges zu vermitteln, als es Theater oder Film können. Filme als genuine Kunstwerke brauchen einen eigenen, originalen Plot. Stammt er aus der Literatur und wird für die Leinwand adaptiert, den Erwartungen der Menge angepasst, ist die Nähe zum Kitsch vorprogrammiert.


    Breloer beschwört schwelgerich die Standesgesellschaft von einst mit ihrem Dünkel und Hochmut. Für Zuschauer, die den Roman nicht gelesen haben, ist es großes Kintopp. Sie sind von den rückschlägigen Wertbegriffen beeindruckt. Ein Paradoxon in unserer demokratischen Gegenwart.


    Im Roman erkannten sich 1901 zahlreiche Lübecker wieder. Erkennt sich das heutige Lübeck auch wieder, "Lübeck als geistige Lebensform", mit heimlichen Bürgerstolz? Dann wäre in Lübeck die Zeit stehen geblieben. Thomas Mann fand 1945, dass im Lübeck seiner Jugend mit dem spitz getürmten Stadtbild ein altertümlich-neurotischer Untergrund zu spüren war („Deutschland und die Deutschen“). Eine Stadt, in der sich Transitrouten kreuzen, ist Lübeck heute nicht mehr.

    Eines zeigt die Novelle deutlich: Die Bedeutung der Form gegenüber dem Inhalt im Kunstwerk. Was ist denn hier der Inhalt? Ein Alternder vergafft sich in einen hübschen Jungen, steigt ihm durch verwinkelte Gassen nach, infiziert sich mit ungewaschenem Obst, dass er auf einem seiner Streifzüge kauft und stirbt an der Cholera. – Erst Komposition, mythische Bezüge (die dem Wesen des Mythos nach auch ihren psychologischen Gehalt haben), Symbole und allegorische Anklänge, Klang und Rhythmik der Sprache, einer Sprache, die in ihrem Ausdruckswillen auf äußerste und gewagteste Treffsicherheit des Wortes zielt – all das gibt der Novelle Glanz und Wirkung, macht aus dem widerlichen Plot ein Kunstwerk.


    Zur gescheiterten Abreise: Ein kleines Missgeschick nimmt der Alternde zum Vorwand, um den letzten Rest von Vernunft wegzuwerfen. Er überlässt sich dem „Rausch“ seiner homoerotischen Verliebtheit ab nun widerstandslos. Er folgt - wenn man so will – seinem vorbestimmten Schicksal. Die Episode illustriert zugleich die Macht des Unbewussten gegenüber dem Ich (Entscheidungsfreiheit) und dem Es (Ethik, Moral, Selbstachtung). Im Fall Gustavs von Aschbachs konnten Es und Ich das Unbewusste nicht mehr kontrollieren. Von dem Leistungs-Ethiker und Asketen bis dahin „geknechtet“, rächt es sich auf der Schwelle zum Greisenalter. Thomas Manns Es und Ich dagegen hatten Triebe und die Umtriebe des Unbewussten im Griff.


    H.-P.Haack