Vorabpublikationen meines Romans HANS HALTER

  • Romananfang HANS-HALTER (s.u.) 0

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    Liebe Mitglieder des Klassikerforums,


    ich bin dabei, einen Roman zu schreiben. Wäre es tolerierbar, hier nach und nach die einzelnen Kapitel zur Diskussion zu stellen? Wenn nicht, dann bitte ich die Administratoren um Löschung.


    Um meinen Stil zu erläutern, setze ich eine Erklärung voran, die auch im Buch erscheint:
    Das Buch enthält zahlreiche unmarkierte Zitate, die Belesene erkennen werden. Ich halte die Übernahme fremder Formulierungen in die belletristische Literatur für tolerierbar. Sie machen den Zitatgeber zum Sprachbildner, indem er - zumindest für den Zitierenden - feste Redewendungen geschaffen hat. Mit dieser Montagetechnik gehe ich in Spuren. Thomas Mann hat die Anverwandlung von fremden Textpartikeln geradezu methodisch betrieben und sich ausdrücklich dazu bekannt.
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    Der Roman heißt HANS HALTER


    Das erste Kapitel und das Schlusskapitel sind fertig, also die Eckpunkte. Ich denke, man muss wissen, worauf ein Roman hinauslaufen soll, wenn man sich an die Arbeit macht. Das fertige Schlusskapitel kann ich noch nicht bringen, wie denn auch anders. Hier nun das 1. Kapitel. Es trät die Überschrift


    C a f è E i s e n g r a i n


    Hans Halter, ein Psychiater im Ruhestand, ist Stammgast im Café «Eisengrain». Dort darf geraucht werden. Halter ist Pfeifenraucher. Unabhängig davon hält er sich für einen Intellektuellen und meint, Individualist zu sein.


    Ich kenne Halter aus gemeinsamen Kindertagen. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Vor acht Jahren habe ich ihn im «Eisengrain» wiedergetroffen. Seither sehen wir uns dort öfter. Befreundet sind wir allerdings nicht. Ich glaube, Halter hat wenig Freunde. Ein Hang zur Eigenbrötelei ist bei ihm unverkennbar. Was seine geistigen Interessen betrifft, meint er, da die Welt eine Art Hölle sei, komme es darauf an, sich in ihr eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Das hat er vermutlich irgendwo gelesen.


    Aufgewachsen ist er als Einzelkind. Das hat ihn geprägt. Beide Eltern waren berufstätig. Bis sie abends nach Hause kamen, war er nachmittags, nach der Schule, sich selbst überlassen. Auch das hat ihn geprägt. Mittags wurde er mit Schulspeisung verköstigt. Das hat ihn abgehärtet. Nie hat er seinen Ehefrauen gegenüber - er war mehrfach verheiratet - am Essen gemäkelt. Was nicht heißen soll, dass er keinen Sinn für Kulinarisches hätte. Den hat er sehr wohl.


    Das «Eisengrain» ist mehr Restaurant als Café, mit einer Atmosphäre, die eher an eine Kneipe erinnert als an ein Restaurant. Halters Frau Carmen weigert sich, ihn dorthin zu begleiten. Was, wie ich meine, nicht gegen sie spricht. Da Halter regelmäßig pünktlich und unbeschadet zurückkommt, drückt sie ein Auge zu und lässt ihm seine Café-Sitzerei durchgehen. Ehefrau Carmen ist deutlich jünger als er und seit über 25 Jahren mit ihm verheiratet. Sie ist seine vierte Ehefrau. Ihr gelingt, was ihren Vorgängerinnen nicht gelungen ist. Sie langweilt ihn nicht, und sie behauptet sich ihm gegenüber. Das imponiert ihm. Halter mag starke Frauen und ist ihnen gegenüber bereit, auch einmal zurückzustecken.


    Im «Eisengrain» bevorzugt Halter Tisch 11. Der steht in einer Reihe mit vier weiteren Tischen vor der durchgesessenen Sofabank mit dem gelblichen Kunstlederbezug. Man sitzt auf ihr etwas tiefer als auf den Stühlen des Cafés. Begleitet wird Halter fast immer von Nora, einer Hündin, die seiner Frau gehört. Nora ist ein Labrador-Stafford-Mischling mit schwarzem Fell und markantem Kopf.


    Halter redet gern — und das gar nicht schlecht. Zu einem Einzelgänger will diese Mitteilsamkeit nicht so recht passen. Mitunter knüpft er Gespräche mit den Gästen am Nachbartisch an. Zum Anlass nimmt er den Hund, indem er beim Platznehmen treuherzig fragt, ob der Hund störe. In der Folge entspinnt sich dann nicht selten eine Plauderei, nach der die so rekrutierten Gesprächspartner, ursprünglich wildfremde Leute, sich mit Handschlag verabschieden. Offenbar wird Halter nicht übel genommen, dass er sich mit der Wahl seiner Gesprächsthemen mehr nach seinen Bedürfnissen richtet als nach denen seines Gegenübers.


    Ich, der hier schreibt, heiße Paul Felix Tanner. Ein Plauderer wie Halter bin ich nicht. Vor Jahren hatte ich in einem alten, in geprägtem Schweinsleder gebunden Buch geblättert, dessen Buchdeckel seitlich zwei Schließen zusammenhielten. Gedruckt worden war das Buch 1587. Die Jahreszahl hat sich mir eingeprägt. Warum könnte ich nicht einmal sagen. Dabei war ich auf eine Spruchweisheit gestoßen, die nur aus zwei Zeilen bestand, im fortlaufenden Text mittig eingerückt und nicht zu übersehen.


    Weißt du was, so schweig.
    Ist dir wohl, so bleib.


    Mir war, als stünde dort meine Lebensmaxime, formuliert von einem Unbekannten. Dabei hat mein Schweigen etwas Unfreiwilliges. Das Denken läuft bei mir langsam ab. Leider bin ich auch nicht schlagfertig. Meine Langsamkeit mache ich wett durch Gründlichkeit. Doch wenn ich schreibe, hält sich mir das Wort durchaus zu Gebote.


    Ich habe vor, über Halter einen Roman zu schreiben. Roman-Autoren in meiner Verwandtschaft, die mir Anlagen dieser Art vererbt hätten, sind mir nicht bekannt. Allenfalls ein weit entfernter Anverwandter aus Süddeutschland in der mütterlichen Linie - meine Mutter hat bajuwarische Vorfahren - käme in Betracht, ein ehemaliger Gymnasialprofessor in Freising. Dabei weiß ich nicht einmal, ob er mit mir blutsverwandt oder nur angeheiratet war. Meine Mutter, die Auskunft geben könnte, lebt schon lange nicht mehr. Der Gymnasialprofessor hatte sich schriftstellerisch einen Namen gemacht mit der Lebensbeschreibung eines Komponisten, den, nachdem ihm endlich der künstlerische Durchbruch gelingt, der Teufel holt. Es ging dabei auch um Syphilis. Meine literarische Figur Hans Halter soll nicht der Teufel holen. Ich habe keinen Sinn fürs Gruslige oder gar Dämonische, dafür um so mehr für Ironie und Komik. Selbst das Groteske kann unterhaltend sein, sofern es sich um Literatur handelt.


    Das Wort Literatur ist gefallen. Aus den Anekdoten, die Halter mir erzählt hat, soll, wie gesagt, ein Roman werden. Den Anspruch auf Literatur gleich im Auftakt geltend zu machen, erscheint mir wichtig, denn die Literatur ist der Wahrheit nicht verpflichtet. Sie darf ihre Inhalte durchaus erdichten. Die eine oder andere Anekdote werde ich daher nach schriftstellerischem Ermessen erfinden. Dabei lasse ich den Leser bewusst im Unklaren darüber, was Dichtung und was Wahrheit ist. Die Literatur erlaubt ein solches Vexierspiel. Und man kann mich nicht festnageln, wenn der eine oder andere Zeitgenosse meint, er sei hier mit Druckfarbe angeschwärzt worden. Dieser Haftungsausschluss wird «die Freiheit der Kunst» genannt. Bösartige Zungen sprechen von der «Narrenfreiheit» der Kunst, wobei sie vermutlich gewagte Experimente der zeitgenössischen bildenden Kunst im Auge haben, deren Formensprache, sofern man überhaupt noch von Form sprechen kann, sich jeglicher Deutung verschließt.


    Ich fahre fort, mich weiter kenntlich zu machen, da ich davon ausgehe, dass Leser und Leserinnen wissen möchten, mit wem sie es zu tun haben. Wie Halter bin ich Jahrgang 1940. Es geht also bei Erzähler und Romanfigur um Rückblicke von zwei in die Jahre gekommenen Männern, die mehr Vergangenheit hinter sich haben als Zukunft vor sich. Eine Aussicht, die mich ein wenig bedrückt. Halter scheint sie nichts auszumachen. Aufgewachsen sind wir in derselben Stadt, in der ich, im Gegensatz zu Halter, alle meine Zeit verbracht habe. Diese Beständigkeit und Heimattreue hatte Halter einmal als Ofenhockerei bezeichnet. Was ich als übertrieben und taktlos empfunden habe. Er hatte sich nämlich 1974 im Kofferraum mit Hilfe von Fluchthelfern davongemacht und volle drei Jahrzehnte beim Klassenfeind, so hieß das damals, verbracht. Ich komme auf die näheren Umstände noch zu sprechen. Richtig gefallen scheint es ihm dort nicht zu haben, denn er hat sich 2005 repatriiert und ist zurückgekommen. Er sieht in dieser biographischen Rundung etwas von lebensgütiger Erfüllung, möglich geworden durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands.


    Was unsere Stadt betrifft, so wurde sie an zwei sich kreuzenden Handelswegen gegründet, einer Nord-Süd-Route, via imperii genannt und einer West-Ost-Route, der via regia. Die so genannte Reichsstraße in der Innenstadt erinnert an den historischen Namen via imperii. Wegen dieses Schnittpunktes ist im Ausklang des Mittelalters unserer Stadt von Kaiser Maximilian das Messeprivileg verliehen worden. Auch heute kreuzen vor der Stadt die großen Autobahnen und in ihr Fernlinien der Bahn.


    Die Stadtteile sind nach den Dörfern benannt, die eingemeindet wurden, darunter Dörfer mit slawisch klingenden Namen, z. B. Reudnitz oder Zschocher, aber auch mit deutschen, wie Schönefeld und Volkmarsdorf. Sogar der Name unserer Stadt kommt aus dem Slawischen. Er enthält das Wort Lipa, das Linde bedeutet. Zugewanderte deutschsprachige Siedler hatten hier neben den ansässigen Slawen ebenfalls Dörfer gegründet. Die Slawen haben mit der Zeit Deutsch gelernt und ihre Sprache allmählich vergessen.


    Die Innenstadt umfasst nur einen Quadratkilometer, wenn überhaupt. Trotzdem besteht eine urbane Atmosphäre ohne Beengtheit, denn schmale Straßen und Gassen gibt es nur wenige, dazu mehrere große Plätze. Demnächst soll ein S-Bahntunnel, der die Innenstadt unterquert, eröffnet werden, nach zehn Jahren Bauzeit. Ein chinesischer Student, der in der Messehof-Passage an einer Kaffee-Bar gejobt hatte, meinte lächelnd: In zehn Jahren bauen wir in China eine ganze Stadt einschließlich U-Bahn-Netz.


    Als Kinder waren Halter und ich Spielkameraden. Er stammt aus der Eisenbahnstraße 147, ich aus der sie querenden Geißlerstraße 2, aus dem Haus, in dem im Erdgeschoss rechts die geschiedene Frau von Walter UIbricht wohnte. Er hatte sie, obwohl wieder verheiratet, gelegentlich besucht. Als Kind bin ich im Hausflur dem «Spitzbart» sogar einmal begegnet. Die Einwohner der gesamten Häuserzeile wussten, wer anwesend war, wenn die schwarze Limousine mit Fahrer vor der Haustür parkte. Die Besuche Ulbrichts in der Geißlerstraße fielen in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Danach habe ich die schwarze Limousine nicht mehr vor unserer Haustür gesehen. Das Haus steht heute leer und ist sanierungsbedürftig.


    Auf der anderen Seite der Geißlerstraße, die leicht abschüssig verläuft, sieht man auf die rote Ziegelmauer einer ehemaligen Gasanstalt, die damals dicht mit Efeu bewachsen war. Bei der Erinnerung dieses Straßenbilds aus der unteren Geißlerstraße fällt mir eine Episode ein, die sich im oberen Teil der Geißlerstraße zugetragen hatte, an einem Sonntagvormittag. Hoch anstößig. Von großer Liederlichkeit.


    Aus dem Eckhaus Eisenbahnstraße 149 waren aus den Fenstern, die auf die Geißlerstraße gingen, benutzte Präservative geworfen worden, mehrere, in kurzen Abständen und lagen auf dem Pflaster herum. Die Entrüstung der Nachbarn war groß, besonders unter den Frauen: Kinder könnten bei diesem Anblick Schaden nehmen oder verdorben werden. Der Benutzer der Verhütungsmittel wurde gefunden: Ein junger Mann mit Grundschulabschluss und Lehrling, ich weiß nicht mehr für welchen Beruf, ich glaube Gärtner, hatte, als seine Eltern sonntags vormittags in der Kirche saßen, seine Freundin zu Besuch, ein korpulentes, rothaariges Mädchen, deutlich unter Mittelgröße. Was dem Skandal jedoch eine eigenartige Note gab, war die leibarme Erscheinung des fleißigen Liebhabers: Er war noch keine 18, aber bereits hoch aufgeschossen, hager, mit vorspringendem Adamsapfel, der die Hagerkeit herausstrich, schwarzhaarig und Brillenträger, mit auffallend dicken Gläsern. Der Mund war stets leicht geöffnet, sodass die Schneidezähne in voller Größe zu sehen waren. Ein Anblick, der an Hasenzähne erinnerte. Das ausdruckslose Gesicht ließ dazu keine großen Geistesgaben vermuten. Und dann diese Manneskraft! Mir war, als hätte ich aus den empörten Reden der Frauen etwas wie klammheimliche Bewunderung herausgehört.


    In der Eisenbahnstraße wohnen inzwischen viele Ausländer, überwiegend Orientalen. Die Ladengeschäfte mit ihren Auslagen vor den Schaufenstern bilden ein südländisches Kunterbunt. Davor, auf den Trottoirs laufen Frauen in weiten, knöchelangen Gewändern und mit in die Stirn gezogenen Kopftüchern. Hin und wieder stehen Männer mit dunklem Teint, kohlschwarzen Augen und ebenso schwarzen Haaren in kleinen Gruppen beisammen, viele davon unrasiert. Am 8. Juli 2013 fielen in der Eisenbahnstraße Ecke Hildegardstraße Schüsse. Ein Syrer hatte kurz nach 18:00 Uhr zwei Mazedoniern in die Beine geschossen. Sie wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Der Syrer hat sich am Tag darauf gestellt. Sein Anwalt hatte ihm dazu geraten. Das ist bereits die dritte Schießerei in unserer Stadt innerhalb weniger Monate. Erst im April war einem türkischen Mann in Reudnitz ins Bein geschossen worden. Ein Täter konnte bisher nicht ermittelt werden. Im Mai wurde ein Toter am Bahnhof Leutzsch gefunden. Ermittler teilten damals mit, dass das Opfer erschossen worden sei. Zusammenhänge zwischen dem Ermordeten und dem Vorfall im Stadtteil Reudnitz waren geprüft worden. Ein offizielles Ergebnis gab es nicht.


    Jetzt wohnt Halter im «Waldstraßenviertel», in einer ehemals großbürgerlichen Altbauwohnung, zumindest teilweise, denn die ursprüngliche Wohnung, die über die gesamte Etage ging, ist unterteilt worden in drei Wohnungen. Eine davon haben Halters gemietet. Genau genommen wohnen Halter und seine Frau nur zu einem Drittel großbürgerlich, auf knappen neunzig Quadratmetern. Eine vorgebliche Bescheidenheit, die aber nichts weiter ist als Geiz. Ich wohne in der Prellerstraße, die zu einer bevorzugten Wohngegend gehört, auf beachtlichen 135 Quadratmetern. Ein kleiner Wehrmutstropfen ist, dass sie nur über den Hintereingang, den ehemaligen Dienstbotenaufgang zu erreichen ist, und dass die Deckenhöhe niedriger ist als in den Stockwerken darunter. Zudem ist der Fahrstuhl im vorderen Treppenhaus installiert. Meine Frau, wenn ich das hinzufügen darf, ist berufstätig als chirurgische Oberärztin, in einem bis vor wenigen Jahrzehnten noch typischem Männerberuf. Halters Ehefrau ist Arzthelferin.


    Er und ich haben ähnliche, aber auch wieder grundverschiedene Berufe ergriffen: Er ist Psychiater geworden, wie eingangs gleich mitgeteilt worden ist. Ich habe es nach gediegener Ausbildung und solider Lehranalyse zum Psychoanalytiker gebracht, zu einem Jünger Sigmund Freuds, von strenger Observanz. Mein analytischer Sinn für die Tiefen und Untiefen der Seele samt den unbewältigten Konflikten, die dort im Unbewussten rumoren, ist von Halter nie so recht akzeptiert worden. Er vertrat und vertritt noch immer eine naturwissenschaftliche Psychiatrie, die seelische Erkrankungen als Krankheiten des Gehirns ansieht, sich dabei auf einen der Stammväter der Psychiatrie berufend, der dies 1845 in seinem Lehrbuch als einen Kernsatz formuliert hatte. Eine aus meiner Sicht doch recht simple Auffassung. Ich halte es für oberflächlich, psychische Erkrankungen auf biochemische Störungen zurückzuführen, auf ein Zuviel oder Zuwenig von Neurotransmittern. Es hat in diesem Punkt zwischen uns keine Einigung geben können. Dieser Dissens ist typisch für die psychiatrische Wissenschaft. Wir stehen damit nicht allein. Es gibt seit dem Beginn der wissenschaftlichen Psychiatrie eine naturwissenschaftlich-medizinische und geisteswissenschaftlich-psychologische Strömung. Allerdings gewinnt die naturwissenschaftliche Psychiatrie mit den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften immer mehr an Boden. Die Verschiebung des wissenschaftlichen Fokus von der Lebenswelt des Patienten auf Funktionsweise des Gehirns sehe ich durchaus, kann mich aber einem solch platten Biologismus nicht anschließen.


    Halter hat sich mit 65 Jahren aus dem Berufsleben verabschiedet. Ich dagegen praktiziere noch immer. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden wir uns. Er geniest seit 2005 seinen Ruhestand. Nun ja, - soll er meinetwegen. In den ersten Jahren seines Rentner-Daseins hatte er diesen Lebensabschnitt als ein Erntedankfest bezeichnet, das sich täglich erneuere. Er hat mit seiner Nervenarztpraxis (er war nicht nur Psychiater, sondern auch Neurologe) im Westen gut verdient, nach meinem Dafürhalten zu viel und bezieht eine entsprechend üppige Rente, die ich ebenfalls für zu hoch halte. Zwei der vielen Ungerechtigkeiten, die das Leben so bringt.


    Doch zurück zu unserer Stadt. Sie ist immer eine bürgerliche Stadt gewesen im Gegensatz zur Landeshauptstadt, die Sitz von Kurfürsten und Königen war. Der populärste Kurfürst ist August der Starke. Der soll über enorme Körperkräfte verfügt haben, die er als Kurfürst gar nicht nötig hatte. Behauptet wird, er habe vor Zuschauern mit bloßen Händen ein Hufeisen aufgebogen. Den Bildnissen nach zu urteilen ist er ein schöner Mann gewesen. Ihm wird eine Schwäche für das weibliche Geschlecht nachgesagt, und er soll Vater von 365 unehelichen Kindern geworden sein, was die Sachsen - der Leser hat längst erkannt, wo wir uns literarisch aufhalten - sich gegenseitig schmunzelnd erzählen. Nachdem die barocke Zeit des starken Mannes abgelaufen war und Aufklärung und Klassizismus an der Tagesordnung waren, wurde Sachsen 1806 von Napoleon zum Königreich erhoben, und Dresden war damit königliche Residenzstadt geworden. Unmittelbar zuvor hatte Napoleon die Sachsen und die Preußen, beide waren Verbündete, bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen. Neun Jahre später verschwand Napoleon von der Weltbühne und verkümmerte auf einer einsamen Insel im Atlantik. Das Königreich Sachsen aber blieb. Es bestand noch 112 Jahre.


    Apropos zu der Rolle der Sachsen in Kriegen. Es gibt kaum Kriege, aus denen die Sachsen als Sieger hervorgegangen wären. Ich schreibe vorsichtshalber kaum. Bekannt sind mir Siege der Sachsen jedenfalls nicht. Eine Ausnahme wäre vielleicht die Völkerschlacht bei Leipzig 1813, bei der, wie jeder weiß, Napoleon unterlag. Zu Beginn der Schlacht waren die Sachsen noch Verbündete Napoleons. Während der Gefechte wechselten sie die Seite und liefen zu den Gegnern Napoleons über. Sie schossen plötzlich in die andere Richtung, auf ihre Waffenbrüder, die von einer Minute auf die andre keine Waffenbrüder mehr waren. Ein typisches Beispiel von sächsischer Heimtücke. Man hatte sich noch rechtzeitig auf die Seite der Sieger gebracht.


    Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist die unterschiedliche Mentalität der Einwohner beider Städte. Der Dresdner ist Residenzler geblieben und sieht auf unsere traditionell bürgerliche Stadt ein bisschen herab. Trotzdem kommt die hiesige Art von Urbanität bei jungen Leuten gut an. Eine Studentin aus den alten Bundesländern hatte unsere Stadt mir gegenüber so gelobt: «Nicht so saturiert wie München und nicht so ausgeflippt wie Berlin».



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    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)

    Einmal editiert, zuletzt von H.-P.Haack ()