Roman HANS HALTER 2. Kapitel

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    I m W e s t e n


    Als Halter im Herbst 1974, schon ziemlich weit im Oktober, aus dem Kofferraum gestiegen war, war er heil und unversehrt in West-Berlin angekommen. Ein Mann mit schwarzem Vollbart nahm ihn in Empfang und warf die Kofferraumklappe zu. Der Fahrer, der den Motor hatte laufen lassen, legt den Gang ein, gab Gas und fuhr davon. In einiger Entfernung hupte er einmal lang, sich damit von den Zurückbleibenden verabschiedend. Die kurze Szene spielte sich auf einem leeren Parkplatz vor einem Park ab. Der Platz war schwach erhellt mit weit auseinander stehenden Straßenlaternen.


    Der Bärtige, etwa Mitte dreißig, führte Halter zu seinem Auto, einen rot lackierten VW-Käfer. Die Fahrt ging ins Zentrum, nach Charlottenburg, in die Wilmersdorfer Straße. Dort angekommen, durchschritten sie die Toreinfahrt eines großen, vierstöckigen Hauses, überquerten einen sparsam beleuchteten Hof und gelangten in ein Hinterhaus, das ebenso groß war wie das Vorderhaus. Der Schwarzbart schellte an der Tür zu einer Parterrewohnung, die sogleich geöffnet wurde. Mieter war eine Wohngemeinschaft von Studenten. Die Zimmer hatten sie durchweg mit Sperrmüll eingerichtet, überwiegend mit Möbeln, die den Stil des 19. Jahrhunderts imitierten. Das grüne Sofa, der runde Tisch und der zerschlissene Teppich schafften ein Gepräge von ramponierter Behaglichkeit.


    Wie sich jetzt herausstellte, war der Bärtige Zahnarzt mit eigener Praxis in West-Berlin und stammte aus der DDR, wenn sich Halter recht erinnert, kam er aus Halle/Saale. Das einzige bekannte Gesicht gehörte Martina, einer Medizinstudentin aus seiner Stadt, die im Sommer, vor wenigen Monaten, ebenfalls geflüchtet war. Von ihr war Halters Flucht eingefädelt worden.


    Martina hatte im Sommer 1973 während ihres Urlaubs in Bulgarien, in Varna am Schwarzen Meer, westdeutsche Studenten kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet. Sie waren bereit, Martinas Flucht in den Westen zu organisieren. Im Sommer 1974 trafen sie sich mit Martina in Varna wieder und brachten frisierte Einreisepapiere, einen gefälschten Pass sowie westdeutsche Kleidung mit und ermöglichten Martinas Flucht. In West-Berlin, wo Martina sich fürs erste angesiedelt hatte, wurden die zurückgelassenen Bekannten in der DDR, von denen Martina wusste, dass die auch weg wollten, ihr Kapital. Sie organisierte deren Flucht gegen Bares. Zusammen mit ihrem neuen westdeutscher Freund, einem Biologiestudenten, dem die linke Hand fehlte ― in ihr war eine Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg explodiert, die er als Kind gefunden hatte ― wollte sich Martina von den Gewinnen einen Bauernhof kaufen. Eine Idee, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei jungen Leuten als schick galt. Es ging um Sinnfindung in einem einfacheren Leben auf dem Lande. Der Trend war im Rahmen der Flower-Power-Bewegung aus den USA nach Deutschland herübergeschwappt. Ob Martina den Plan mit dem Einhändigen verwirklicht hat und ob die beiden Landwirte geworden sind, kann ich nicht sagen. Ich habe versäumt, Halter danach zu fragen.


    Fluchtweg Halters ist damals die Autobahn nach West-Berlin gewesen. Das konnte zu dieser Zeit noch klappen. Am 3. Juni 1972 war das Transitabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in kraft getreten. Es ist das erste Abkommen gewesen, das zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf Regierungsebene abgeschlossen wurde. Die damalige SPD- und FDP-geführte Bundesregierung hatte eine «Neue Ostpolitik» eingeleitet, um einen «Wandel durch Annäherung» zu bewirken. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR wurden tatsächlich spürbar verbessert. Zu diesen Verbesserungen gehörte das «Transitabkommen». Bis dahin waren Reisende auf den Autobahnen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin oft an den Grenzpunkten von DDR-Polizisten schikanös kontrolliert worden, was zu erheblichen Zeitverlusten für die Transit-Reisenden führte. Mit diesem Abkommen verzichtete die DDR auf die Kontrolle von Gepäck und die Reisenden mussten für die Erteilung der Transit-Visa die Fahrzeuge nicht mehr verlassen. Die Grenzkontrollpunkte der DDR konnten jetzt in stop and go durchfahren werden, ohne Stau und Warteschlangen. Und vor allem: Die Fahrzeuge wurden nicht mehr durchsucht. Doch die Bewacher an den Grenzübergängen hat man in den folgenden Jahren mit Geräten für Infrarot-Wäme-Messung ausgestattet, mit denen Flüchtige im Kofferraum entdeckt werden konnten. Im Transitabkommen hatten die DDR-Unterhändler sich ausbedungen, dass im Verdachtsfall Fahrzeuge kontrolliert werden dürfen. Damit war diese Fluchtmöglichkeit blockiert.


    Anfang September 1974 hatte Halter angefangen, seine Flucht vorzubereiten. Sprechen konnte er mit niemand darüber, nur mit Karli und Jenny. Die beiden wollten auch weg und hatten Kontakt zu Martina. Karli, ein zierliches, verschmitztes Kerlchen mit blondem Bart, war freischaffender Graphiker und verdiente sein Geld mit der Gestaltung von Schallplatten-Cover und Bucheinbänden der volkseigenen Produktion. Die Herstellung von Tonträgern und Druckerzeugnissen war in der DDR fest in staatlicher Hand. Wie Karlis Erscheinung war auch sein künstlerischer Stil. Der hatte etwas minutiöses, filigranes, wobei er mehrere kleine eckige Motive seriell wiederholte und daraus eine Art flächendeckendes, buntes Raster bildete. Nach geglückter Flucht war er in West-Berlin als Theatermaler untergekommen. Die Arbeit an den Kulissen mit Flachpinsel und Spachtel dürfte einen Stilwechsel erzwungen haben. Karlis Frau Jenny war Ärztin und hatte vor kurzem erst ihr Studium beendet. Sie stand ihrem Mann an Zierlichkeit nicht nach. Jenny wollte Psychiaterin werden und ist es vermutlich auch geworden. In West-Berlin hatte sie eine Assistenzarztstelle an einer traditionsreichen Psychiatrischen Klinik bekommen und war dort bei Chef und Kollegen wohlgelitten.


    Halter war damals schon Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Und etwas besonderes — für DDR-Verhältnisse — war, dass er ein Auto besaß, ein neues, weißes, mit schwarzen Sitzen und schwarzem Armaturenbrett. Es war ein von den Russen in Lizenz gebauter Fiat 124, den die Russen «Lada» nannten. Der russische Fiat machte mehr her als die DDR-Autos Wartburg und Trabant.


    Er ist nie ein guter Autofahrer geworden. Jede Menge Unfälle hat Halter verursacht. Und so hat er auch seinen schönen Lizenz-Fiat kaputt gefahren. Wieder repariert, sollte er ihm im Oktober 1974 noch nützlich werden. Karli entpuppte sich nach dem Unfall als Experte. Über das ganze Gesicht strahlend hielt er Halter einen längeren Vortrag über den unwiederbringlichen Wertverlust, den das schöne Auto nun hatte. Das Chassis sei auf jedem Fall verzogen. So etwas könne man nicht wieder richten. Karli brachte Analogien zu Flugzeugschäden und redete, und redete. Bis dahin hatte ihn Halter als eher still erlebt.


    Für die Reparatur seines schönen Autos musste sich Halter in der Werkstatt einen Termin für die Terminvergabe geben lassen. Ja, einen Termin für einen Termin. Bei dem Termin für die definitive Terminvergabe sah sich einer der Werkstattmeister den Schaden an, kalkulierte den Zeitaufwand, ging danach mit dem Kunden ins Büro, fuhr dort mit dem Zeigefinger über Listen, die vor ihm lagen, fand schließlich einen Termin, den er dem Kunden mitteilte, und den der Kunde allen anderen Termine unterordnen musste, wollte er nicht, dass sich die Reparatur erheblich verzögerte. Es fehlte in der DDR so gut wie an allem, auch an Autowerkstätten. Als Halter sich den Reparaturtermin holte, musste er warten, bis er an der Reihe war. Es hatte sich eine kleine Warteschlange gebildet aus weiteren havarierten Automobilisten. Alles in allem ging damit für Halter ein ganzer Vormittag verloren, bis er in der Neurologischen Universitätsklinik, wo er arbeitete, eintraf. Er hatte zuvor mitgeteilt, dass er an diesem Montag später kommen wird. Das schien man vergessen zu haben. Wie Halter eintraf, schlug Oberarzt Dr. med. habil. Otto die Hände über dem Kopf zusammen. «Herr Halter! Da sind sie ja! Wo sind Sie denn gewesen? Es hat ihretwegen einigen Tumult gegeben. Nach ihnen wird gefahndet. Ich muss gleich Bescheid geben, dass sie da sind“ und eilte in sein Zimmer ans Telefon. Man hatte vermutet, dass Halter «Republikflucht» begangen hat. «Republikflucht» war eine DDR-spezifische Wortschöpfung. Ob nun Halter bereits im Visier der Stasi stand oder der Oberarzt lediglich einer Vorschrift nachgekommen ist, muss offen bleiben. Ich schließe nicht aus, dass ein «staatlicher Leiter» (DDR-Wortschöpfung) verpflichtet war, Meldung zu machen, wenn ein «hoch qualifizierter Mitarbeiter» (DDR-Jargon) ausgerechnet an einem Montag nicht zur Arbeit erschien. Es waren häufig Wochenenden, an denen die Fluchtwilligen sich aus dem von Honecker und Mielke praktizierten Sozialismus verabschiedeten.


    Vor Halter sollten Karli und Jenny flüchten. Die Flucht der beiden gelang erst im zweiten Anlauf. Beim ersten Versuch hatten sie in einem Gebüsch am Rande eines Parkplatzes der Autobahn gewartet. Der Rand des Parkplatzes war eine Böschung. An deren Fuß standen die Büsche, in denen Karli und Jenny sich versteckt hatten. Der Fluchthelfer erschien aber nicht. Als Karli und Jenny schon gehen wollten, hielt oben auf der Böschung ein russischer LKW. Von der Ladefläche sprangen an die zwanzig russische Soldaten, laut in Ihren Idiom durcheinander redend. In Reihe schlugen sie von der Böschung in großen Bögen ihr Wasser ab, nach unten, auf die Büsche, in denen Karli und Jenny kauerten. Doch sie hatten Glück im Unglück. Nass geworden sind sie nicht. Karli hatte Halter den kuriosen Vorfall lachend erzählt.


    Der Kontakt mit den Fluchthelfern erfolgte mündlich durch Kuriere. Man musste in der DDR damit rechnen, dass die Briefpost in und aus der Bundesrepublik geöffnet wurde. Innerdeutsche Telefonate wurden abgehört. Die genauen Anweisungen erhielt Halter bei einem Treffen in Ost-Berlin von einer Studentin aus Westdeutschland, die in West-Berlin studierte. Sie war als Kurier eingesprungen und mit einem Tagesvisum nach Ost-Berlin gekommen. Die Flucht war für den 20. Oktober 1974 angesetzt worden, wie sie Halter mitteilte. Er sollte sich in der Nähe der Autobahn «Berliner Ring» auf einer schmalen Straße, die durch ein Waldgebiet führte, aufhalten und, wenn er von einer DDR-Polizeistreife gefragt worden wäre, damit musste man in der Nähe der Autobahn «Berliner Ring» rechnen, sich als Pilzsammler ausgeben. Halter sollte entsprechend gekleidet sein und ein Körbchen mit Pilzen bei sich haben. Der Fahrer des Fluchtautos werde Halter eine Frage stellen in einem festgelegten Wortlaut, um sich kenntlich zu machen. Halter würde seinerseits mit einer vereinbarten Formel zu antworten.


    Halter, unverheiratet, wohnte damals noch in der Wohnung seiner Eltern, obwohl bereits 34 Jahre alt. Damit seine Fluchtabsicht nicht ruchbar wurde, hatte er sein Zimmer neu tapezieren lassen. Eine Maßnahme, die für sein Bleiben sprach. Die Arbeit war am frühen Nachmittag des Fluchttages beendet. Halter fuhr den Handwerker, der im Landkreis wohnte, mit seinem Lada nach Hause und von da weiter zur Autobahn Richtung Berlin.


    Der Tag war wolkenverhangen. In den Kieferwäldern beidseits des «Berliner Rings» lag diesiger Nebel mit einer Sichtweite von etwa 50 Meter. Die schmale Waldstraße mit dem Treffpunkt war leer und still. Halter wartete in schon fortgeschrittener Dämmerung. Er hatte eine schmale Tasche bei sich. Als er nach ihr griff ― er hatte sie für einen Moment auf der Straße abgestellt ― bemerkte er, dass seine Hände flatterten. So etwas war während seines ganzen bisherigen Lebens bei ihm nicht aufgetreten. Wie das letzte Tageslicht erloschen war, hörte Halter, pünktlich auf den abgesprochenen Termin, Motorgeräusche. Aus dem Dunst tauchten zwei Autoscheinwerfer auf, die, indem sie näher kamen, mehr und mehr an Leuchtkraft gewannen. Halter stellte sich in das Licht der Scheinwerfer. Eine Limousine hielt vor ihm. Die Scheinwerfer gingen aus. Aus dem Wagen stieg ein Mann, sich mit einer auf den Boden gerichteten Taschenlampe leuchtend. Soviel Halter in dem Streulicht der Taschenlampe erkennen konnte, trug er eine Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Der Mann im Halbdunkel stellte die vereinbarte Frage. Halter antwortete wie abgesprochen. Der Mann ging zum Heck, öffnete die Kofferraumklappe und sagte zu Halter beim Einsteigen: «Mit dem Gewicht nach vorn».


    Einige Tage zuvor war Halter mit seinem repariertem «Lada» hier gewesen und hatte sich den Treffpunkt angesehen samt Umgebung. Im Kofferraum hörte er jetzt an den Geräuschen, die die Räder mit dem Straßenbelag erzeugten, wo er sich befand. Die stille Straße im Wald war asphaltiert. Der Belag der Autobahnauffahrt bestand aus regelmäßigen Pflastersteinen, etwas unter Faustgröße, auf denen die Reifen ein surrendes Geräusch erzeugten. Auch die Kurve, die der Wagen auf der Auffahrt fuhr, spürte Walter im Kofferraum. Die Autobahn, die mit Betonplatten belegt war, ergab rhythmisch leichte Stöße, die zu einem gleichmäßigen Pochen wurden. Halter kann sich nicht mehr erinnern, wie lange die Fahrt mit den monotonen Autobahn-Geräuschen dauerte. Doch dann verlor das Auto an Geschwindigkeit und kam zum Stehen. Der Fahrer, den Halter im Kofferraum hören konnte, pfiff leise, zwei oder drei Sekunden. Halter begriff, dass er sich jetzt ruhig zu verhalten hatte, so hellhörig wie es in dem stehenden Auto war. Nach kurzer Wartezeit fuhr das Auto in langsamen Tempo an und hielt wieder ― fuhr erneut an und hielt erneut ― fuhr wieder an, jetzt aber beschleunigend und der Fahrer rief «Ende». Halter weinte, obwohl alles gut gegangen war. Er hatte sein Zuhause verloren.


    Ich füge, die alten Ereignisse beiseite schiebend, zwei aktuelle Meldung der Zeitung unserer Stadt auf ihrer Internet-Seite ein: In der frühen Freitagnacht vom 19. Juli 2013 wollte ein 52-Jähriger Buntmetalldieb das kupferne Fallrohr von der Dachrinne der Russisch-Orthodoxen Kirche in Leipzig stehlen. Der Mann hatte die drei Meter lange Röhre bereits demontiert, als die Polizei ihn gegen 3 Uhr auf frischer Tat ertappte. ― Morgen, Sonnabend den 20. Juli demonstrieren ab 14 Uhr Vertreter der Leipziger Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen in der Innenstadt unter dem Motto «Lieben und lieben lassen». Vorgesehen ist ein zweistündiger Umzug, der vom Markt aus startet. Daran schließt sich ab 16 Uhr ein buntes Straßenfest in der City an.


    [wird fortgesetzt mit ersten Erlebnissen in West-Berlin]

    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)

    Einmal editiert, zuletzt von H.-P.Haack ()