Christoph Martin Wieland: Musarion


  • Mittlerweile das erste Buch gelesen. Flirttechnik des 18. Jahrhunderts im Gewand der Antike. Im Grunde genommen belanglos, aber witzig. Oder habe ich, von Wielands Sprache eingelullt, etwas übersehen?


    Etwas übersehen. Es geht um die lebenspraktische Bedeutung des richtigen Verhältnisses von Geist und Anmut - oder in antiker Personifizierung: von Musen und Grazien.


    Die im Untertitel ("Die Philosophie der Grazien") angelegte Lehre hat Wieland selbst übrigens zwei Jahre nach "Musarion" in den "Grazien" nochmals in aller Deutlichkeit offengelegt:


    Zitat

    "Nur unter den Händen der Grazien verliert die Weisheit und die Tugend der Sterblichen das Übertriebene und Aufgedunsene, das Herbe, Steife, und Eckige, welches eben so viele Fehler sind, wodurch sie, nach dem moralischen Schönheitsmaß der Weisen, aufhört Weisheit und Tugend zu sein. Dies war es, was Musarion ihren Schüler lehren wollte."


    Aber gut, das erschließt sich erst etwas später.

  • Das mit dem Versmaß hätten wir dann geklärt. Gerade dass sich Wieland nicht von einem Versmaß festlegen lässt, führt wohl auch zur Leichtigkeit seiner Verse.
    Bin in der zweiten Hälfte des ersten Buches und sehe in der Tat vordergründig auch den Liebeszank. Allerdings wird aus Musarions Sicht klar, dass sie alles Schwerblütige, Bedeutungsschwangere vermeiden will und somit auch meiner Meinung nach das Primat des Geistes über diese emotional bestimmten Gemütszustände (doppelt gemoppelt, oder gibt es auch einen geistdurchfluteten Gemütszustand :rollen:) herausstreicht.

  • Zu diesem Thema des lebensentwurfs (Stoa vs. Grazien) gab's doch mal was ... Moment bitte ... Müsste der Merkur gewesen sein ... ja, genau: [url=http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4776.msg52917.html#msg52917]Hier[/url] zumindest eine (sehr kurze) Zusammenfassung. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Wow,


    ob Wieland sich das auch so kompliziert gedacht hat, wie der Autor des von dir verlinkten Aufsatzes meint... . Jedenfalls ist auch Musarion in der Tat noch nicht so in sich ruhend, wenn sie zugibt, ihr blondes Gspusi organisiert zu haben, um sich von den ernsteren Gefühlen zu Phanias abzulenken.


    Bin nun am Anfang des zweiten Buches. Schön die Prügelei zwischen den beiden philosophischen Freunden zu Beginn. Damit sind sie gleich vorgeführt, und genau so wenig ernst werden sie weiter genommen: Während Phanias schon längst wieder Musarion erlegen ist, verführt sie die beiden zur philosophischen Debatte, wer da denn wohl den Kürzeren zieht?


    Habe mir überlegt, worüber sich Breitinger und seine Kumpels wohl so besonders erregt haben bei diesem kleinen Versepos. Ich denke nun, es sind solche Stellen wie die oben angeführte, dass sich Musarion zur Ablenkung einem kleinen Flirt hingibt: Das wird wahrscheinlich einem empfindsam-religiösen Gemüt schon reichen, um den Warnwimpel der Verderbnis zu hissen.

  • Fertig mit dem zweiten Buch:


    Wer schneidet nun besser ab, der Pythagoreer Theophron oder der Stoiker Kleanth? Lächerlich machen sie sich beide, vielleicht Kleanth eine Spur mehr, weil er auch noch "höheren" Maßstäben nacheiferte und daher um so tiefer fällt, als er betrunken in den Stall entsorgt wird.
    Aber beide werden eigentlich nicht durch die von ihnen vertretenen Lehren lächerlich, sondern dadurch, dass sie sich nicht beherrschen können und ihren eigenen Lehren zuwiderhandeln. Insofern erzielt Musarion nur einen Sieg gegenüber dem Allzumenschlichen, sie führt nicht die philosophischen Schulen an sich ad absurdum.

  • Insofern erzielt Musarion nur einen Sieg gegenüber dem Allzumenschlichen, sie führt nicht die philosophischen Schulen an sich ad absurdum.


    Insofern, als diese Schulen aber das Allzumenschliche gepflegt ignorieren und dennoch Lebensweisheit und ethisch-moralische Regeln vorgeben zu dürfen meinen, werden schon die Schulen an sich ad absurdum geführt. Mutatis mutandis kann man das ja auch auf die Kirche und ihre Väter anwenden (Mütter hatte die ja keine). Da bricht bricht das Natürliche in Form des Weiblichen in das wunderhübsche Theorien-System ein, und bringt es zum Einsturz. Und nun gar diese Musarion, die vom Autor nicht als Dämonin, als Hexe, verschrieen wird, sondern sogar ganz offenbar dessen Sympathie geniesst! Kein Wunder war Breitinger - von Haus aus zwinglianischer Theologe und im stockzwinglianischen Zürich wohn-, sess- und arbeitshaft - derart entsetzt ...

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  • Mutatis mutandis kann man das ja auch auf die Kirche und ihre Väter anwenden (Mütter hatte die ja keine). Da bricht bricht das Natürliche in Form des Weiblichen in das wunderhübsche Theorien-System ein, und bringt es zum Einsturz. Und nun gar diese Musarion, die vom Autor nicht als Dämonin, als Hexe, verschrieen wird, sondern sogar ganz offenbar dessen Sympathie geniesst! Kein Wunder war Breitinger - von Haus aus zwinglianischer Theologe und im stockzwinglianischen Zürich wohn-, sess- und arbeitshaft - derart entsetzt ...


    Da hast du sicher Recht! Und wie gut, dass Wieland sich aus dieser zwinglianischen Enge befreien konnte: Die deutsche Literartur hätte sonst diesen einzigartigen humanen, humoristischen und eleganten Schriftsteller nie gekannt.
    Ich bin immer wieder bei der Lektüre der Musarion darüber fasziniert, wie leicht und musikalisch hier unsere Sprache klingt: Das Musikalische und das Leichte schaffen andere Dichter auch, aber die Kombi ist schon einzigartig, man vergleiche nur die längeren Erzählgedichte von Klopstock oder Voss ... . Die sind allerdings weder leicht noch musikalisch.

  • So, mittlerweile fertig geworden. Ist ja im Grunde genommen sehr kurz, das ganze.


    Es endet mit einem Hymnus auf die Liebe, und ich denke, wir können hierunter mehr als die der Fortpflanzung dienende Illusion des menschlichen Hirns darunter vermuten. Sondern: Wieland propagiert einmal mehr den goldenen Mittelweg zwischen bedingungsloser Anhängerschaft an eine (philosophische, theologische) Doktrin und einem solipsistischen Egoismus. Dass dabei eine schöne Frau, ein schöner Mann dazu gehören, ist nur noch das Tüpfelchen auf dem i.


    :winken:

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  • Auch ich habe nun die Lektüre beendet. Wie du schon schriebst, sandhofer, eigentlich hätte ein Nachmittag gereicht, um dieses kurze und auch leicht zu lesende Werkchen zu beenden. Aber a) hatte ich solch einen Nachmittag nicht und b) ist die Sprache so schön, dass ich sie in kleineren Häppchen und der richtigen Stimmung, nicht zwischen Tür und Angel, genießen wollte.
    Am Ende ist mir noch einmal anhand einer Anmerkung zu Xenophon aufgefallen, wie akribisch Wieland diese so locker und leicht erscheinende Verserzählung gestaltet hat. Bloß um zu vermeiden, dass er die schwache Maskulinum- Endung Helden hatte wegfallen lassen müssen, damit der Reim stimmte, wechselte er in der hier abgedruckten Auflage zu einem anderen Helden, der die gelebte Philosophie ebensogut verkörpern konnte. Mit solch einer Kleinigkeit wie einer unregelmäßigen Endung hatten andere, auch berühmte Dichterkollegen keine Probleme und haben deutlich schwerere und Sinn entstellendere Verstöße gegen die Grammatik oder Syntax vorgenommen.
    Für mich stellt sich diese kleine, scheinbare Idylle deutlich über solche, die es wirklich und nur sind, denn gerade im letzten Teil wird, wie oben schon von sandhofer aufgezeigt, noch einmal deutlich, was eigentlich die Intention dieser Erzählung ist: zum Maße und zur Authentizität der Persönlichkeit aufzufordern: Philosophische Denkrichtungen haben dann ihre Legitimierung, wenn sie auch gelebt und nicht nur vor sich hergetragen werden.
    Schön, dass die Leserunde mich mit diesem Text bekannt machte. Wer weiß, ob ich's sonst gelesen hätte! Gerne im Herbst mehr Wieland oder auch Jean Paul, wenn jemand mitliest ... .

  • Ich stecke ja gerade im Neuen Amadis, wo Wielands sprachliche Akribie fast noch stärker zum Ausdruck kommt. Ja, was bei Wieland so locker vom Hocker daherkommt, ist in Tat und Wahrheit sehr wohl nach präzisen Kriterien komponiert und auch weltanschaulich hinterfüttert. Schön, dass diese Leserunde nicht nur mir gefallen hat. :winken:

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  • Da fällt mir ein: In "Musarion" prägt Wieland ja die Redewendung, "den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen" ("Die Herren dieser Art blendt oft zu vieles Licht / sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht" (oder so ähnlich, das schlag ich jetzt nicht nach ;-)). Als bei Greno seinerzeit der Wieland-Reprint rauskam, gab es auch eine kleine Broschüre, in der eine ganze Reihe von bekannten Wörtern und Redewendungen aufgeführt wurden, die allesamt auf Wieland zurückgehen. - Jetzt frage ich mich, ob es dazu eine Untersuchung gibt bzw. wie man überhaupt bemerkt, dass eine vertraute Redewendung von Wieland stammt. Ich wäre zB nie auf die Idee gekommen, das mit dem Wald und den Bäumen Wieland zuzuschreiben, sondern hätte die Stelle in Musarion für eine hübsche Variante einer uralten Redensart gehalten.

  • Ich erinnere mich an ein Täfelchen im Wieland-Museum in Biberach, wo aufgeführt wurde, welche Redensarten bzw. Begriffe nur schon aus Wielands Shakespeare-Übersetzung in den Allgemeingebrauch übergegangen sind. Quite a few...

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