HANS HALTER Roman 18. Kapitel

  • S e l b s t b e s i n n u n g


    Als freiwilliger Außenseiter und Individualist hatte Halter mir gegenüber einmal geäußert: «Niemand sollte seinen Wert oder Unwert danach bemessen, was anderen beliebt, sich in ihren Köpfen über ihn zurechtzulegen. Das Beste, was jeder ist, muss er für sich selbst sein. Die Meinungen der Anderen über ihn sind sekundär, solange er von ihnen nicht abhängig ist». Ich hatte diese Einstellung damals als hochfahrend und krass empfunden. Inzwischen bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob diese Sicht nicht doch ihre Berechtigung hat, selbstredend mit der Einschränkung, man wird nicht kriminell, bleibt hilfsbereit und lässt anderen genügend Freiraum.


    Im Alter, er ist 72 Jahre alt, hat Halter das Fürchten verlernt, die Furcht vor der Meinung anderer. Doch ein bisschen Furcht gehört zum Leben dazu, um nicht Schiffbruch zu erleiden. Ein Gespür für Gefahr. Da nun Halter mehr zurück als vorwärts blickt und nicht mehr viel erwartet, ich glaube, sogar Neuem ausweicht, leitet er daraus eine gewisse Unverwundbarkeit ab, als hätte er - um es mythologisch zu formulieren - in Drachenblut gebadet. Halter selbst sieht sein bestandenes Leben natürlich nicht als ein Bad in Drachenblut. So weit würde er sprachlich nicht gehen. Und was heißt bei Halter bestanden! Er hat sein Leben mit viel Glück überstanden. Das ist alles. Allenfalls Fleiß kann man ihm zusprechen, einen kleinlichen Ameisen- und Bienenfleiß. Den er aber auch nicht immer durchgehalten hat.


    Wie die genannten Insekten hat er Vorräte angelegt, das kommt noch hinzu. Risikofreie Geldanlagen. Er ist mit Ausgaben immer einen, wenn nicht zwei Schritte unter seinen Möglichkeiten geblieben. In einer Mischung aus Lebensängstlichkeit und Geiz. Erst jetzt ist er im Geldausgeben etwas lockerer geworden. Ziemlich spät, wie ich meine.


    Um den Gedanken weiter zu spinnen: Unter den Altgewordenen gibt es mildes Greisentum und das Gegenteil: den oder die frechen Alten. So meine Beobachtungen. Frech, weil sie sich nicht mehr fürchten. Halter kann charmant sein, aber auch in die Rolle des frechen Alten fallen. Er meint, er könne sich das leisten. Seine Rente sei dadurch nicht gefährdet. Wahrscheinlich hat er im Laufe seines Lebens einiges einstecken müssen, bis er unabhängig war. Mit der jetzt gewonnen Freiheit übertreibt er es, wie mir scheint. Eine Achillesferse hat jeder, auch er. Er sollte sich hüten. Und wenn es nur ein Lindenblatt gewesen ist, das eine verwundbare Stelle offen gelassen hat.


    «Höflichkeit», sagte Halter, wieder einmal frech geworden, «ist die stillschweigende, Übereinkunft, die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit, die allenthalben vorhanden ist, geflissentlich vor einander zu übersehen.» ― «Höflichkeit,» habe ich ihn zurecht gewiesen, «ist Klugheit. Sich durch Unhöflichkeit Feinde zu machen, ist, als würde man sich Sprengstoff implantieren, den der kleinste Funke zu Explosion bringen kann.»


    Schopenhauers «Aphorismen zur Lebensweisheit» zählt zu Halters Lieblingsbüchern. Die rigorosen Urteile des pessimistischen Philosophen in dieser Schrift entsprechen Halters Welt- und Menschenbild. Ich vermute sogar, er hat sie sich zueigen gemacht und dachte früher anders. Verdorben durch Schopenhauer so zu sagen. Wie dem auch sei, auf jeden Fall fühlt er sich durch ihn bestätigt und macht ihn zum Gewährsmann. Er kann so seine Ansicht aussprechen, in scharfer Formulierung, indem er achselzuckend Schopenhauer zitiert, ohne durchblicken zu lassen, dass er damit seine innerste Überzeugung ausspricht. Sich auf den pessimistischen Philosophen berufend meinte er neulich, daß wir mit den meisten unserer guten Bekannten kein Wort mehr reden würden, wenn wir hörten, wie sie in unserer Abwesenheit von uns sprechen.


    Und weiter: Um die Gediegenheit eines Freundes zu beurteilen, brauche man ihm nur ins Gesicht zu sehen, wenn man ihm von einem Unglück oder einem Rückschlag erzählt. Dann zeige sich Anteilnahme oder Gleichgültigkeit oder ein leises Lächeln. Für hämisches Lächeln brachte Halter im Café «Eisengrain» zwei Beispiele. Es hatte stark zu regnen angefangen und wir saßen fest. Keiner der Gäste traute sich vor die Tür. Halder war mal wieder ins Plaudern gekommen, angeregt durch das Regengeprassel, das bis in die Café-Kneipe zu hören war. Zudem hatte er sich einen doppelten Espresso genehmigt und saß jetzt bei einem Cappuccino. Kaffeegetränke steigern sein Mitteilungsbedürfnis.


    Der eine Fall von hämischem Lächeln lag zwei oder drei Jahre zurück und betraf Martin Dietz, einen gleichaltrigen Kollegen, der wie ich ebenfalls noch berufstätig ist. Halter leidet an einer neurologischen Erkrankung, an einem Restless-Legs-Syndrom (Syndrom der ruhelosen Beine), dass unbehandelt sehr quälend ist. Als Halter Dietz gegenüber geäußert hatte, dabei übertreibend, wenn die Medikamente nicht mehr helfen würden, etwa durch Gewöhnung, bleibe ihm keine andere Wahl, als von einem Hochhaus zu springen, sah Halter, dass Dietz lächelte. ― Halter hält keinen Kontakt mehr mit Dietz. Ich meine auch, nachdem ich das gehört habe, dass er auf den verzichten kann.


    Die andere Anekdote, hämisches Lächeln betreffend, stammte aus seiner Zeit in der Stadt am Fluss und betraf eine Scheidung, eine von Halters Ehescheidungen. Als er damals den Entschluss, sich scheiden zu lassen, gegenüber einem Oberarzt der Klinik, in der er damals beschäftigt war, einem gewissen Dr. Runke, beiläufig erwähnte, änderte der in unbewusster Körpersprache seine Kopfhaltung, indem er die Stirn leicht neigte und gleichzeitig den Kopf um eine Winzigkeit zur Schulter drehte. Dabei lächelte er. «Du Schwein» dachte Halter, ließ sich aber nichts anmerken.


    Die Scheidung selbst verlief einvernehmlich. Das will ich ergänzend hinzufügen. Gabriele, seine zweite Ex-Frau, hatte die Scheidung eingereicht, nachdem Halter ausgezogen war, aber mit der Einreichung der Scheidung getrödelt hatte. Da sie sich einig waren, genügte ein Anwalt für beide. Beim Gerichtstermin wurde gegenseitig ein Unterhaltsanspruch ausgeschlossen. Die Verhandlung fand im Arbeitszimmer des Richters statt. Halter und Gabriele saßen nebeneinander vor dem Schreibtisch des Richters, ihm frontal gegenüber. Der Richter war blind. Blind wie die Allegorie der Justiz, wenn sie als Skulptur mit verbundenen Augen dargestellt wird. Aufgrund der Sehbehinderung gab sich der Richter besonders gewissenhaft, um nichts zu übersehen bzw. keinen Fehler zu machen. Er las die Vereinbarung des gegenseitigen Unterhaltsausschlusses vor, den Text mit den Fingerkuppen tastend. Der enthielt die Präzisierung, dass auch «im Falle der Not» keiner der beiden ehemaligen Eheleute für den anderen aufkommen werde. Bei diesem Passus drehte sich Gabriele zu Halter und flüsterte: „Ich helfe dir, wenn du in Not bist“, lächelte und wandte sich wieder dem blinden Richter zu. Gabriele hat wieder geheiratet und ist Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter. Halter hat keine Kinder.


    [wird fortgesetzt]

    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)

    Einmal editiert, zuletzt von H.-P.Haack ()

  • Das frage ich mich auch. Ich belasse es bei den drei Leseproben. Ich bin unsicher, ob das, was ich hier fabriziere, bei Lesern ankommt. Mein Ansinnen war, Einschätzungen zu erhalten. Etwa: Liest sich schwierig und was den Inhalt betrifft: Das interessiert keinen. Oder: Ich würde ein solches Buch zu Ende lesen.


    Ich schreibe meinen ersten Roman. Und vermutlich einzigen. Gehe wie auf Glatteis. Ich habe in Leipzig eine Literatur-Agentin kontaktiert und sie gebeten, das, was fertig ist zu lesen und eventuell mich an einen Verlag zu vermitteln. Sie brauche aber vier Wochen, ehe sie dazu kommt, sich die Leseprobe vorzunehmen. Wenn sie abwinkt, wäre mir das eine Orientierung.


    Meine beschissene Ungeduld.


    H.-P.Haack :winken:

    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)