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Im SPIEGEL vom 10. Mai 2004 findet sich in einem Artikel über die Autorin Gaby Hauptmann diese Aussage: „Hauptmann würde sich nicht gerade selbst als Sachverständige in Liebesdingen bezeichnen, ihre Bücher aber werden wie Ratgeber gelesen, und wenn eine Heldin sich aufmacht und Mann und Küchentisch verlässt, kann das, wie Briefe von Fans belegen, durchaus richtungweisend sein für den Aufbruch in ein neues, vielleicht besseres Leben. ‚Es ist erstaunlich, wie viele Frauen sich nicht trauen zu leben und sich ihren Ehemännern unterordnen’, wundert sich Hauptmann.“
Das von Hauptmann angesprochene Problem ist nicht neu. Ende der 40 Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte die Philosophin Simone de Beauvoir ihr Hauptwerk zur Geschlechterdebatte unter dem Titel „Le Deuxième Sexe“ („Das andere Geschlecht“), das sich ausführlich mit der Frau befasst. Die Anfänge der so genannten Frauenbewegung reichen noch weiter zurück, bis ins 18. Jahrhundert hinein, als Mary Wollenstonecraft ihre Streitschrift „A Vindication of the Rights of Woman“ veröffentlichen ließ.
In diesem Kontext zeigen sich deutlich die noch immer vorhandene Aktualität und Brisanz des vorliegenden Dramas „Nora oder Ein Puppenheim“ von Henrik Ibsen, dessen Protagonistin Nora Helmer sich im Verlauf des Stücks von ihrem Rollenmuster distanziert und emanzipiert, um am Ende tatsächlich ihre Familie zu verlassen.
Zu Beginn des Dramas erscheint sie noch als niedlich-naives Frauchen, das zufällig auch Familie hat. Besonders in seiner Darstellung der Nora als zwitschernde Lerche ihres Ehemannes Torvald Helmer zeigt Ibsen seinem Publikum, dass in dieser Familie irgendetwas faul ist. Zu süß sind die Kosenamen, die Helmer für Nora findet, zu süßlich ist auch Noras Verhalten, während sie gleichzeitig ihren Mann wegen Nichtigkeiten belügt. So nascht sie heimlich eine Makrone, leugnet dies aber, als Helmer sie verdächtigt (S. 9). Eine Situation, wie sie zu Vater und Tochter passen würde, nicht aber zu Frau und Mann. Tatsächlich erkennt Nora später, dass ihr Verhältnis zu ihrem Mann mit dem zu ihrem Vater beinahe identisch ist – einer der Gründe, warum sie ihre Familie verlassen muss (S. 80).
Das Auftreten weiterer Charaktere wie etwa Noras alter Freundin Christine Linde enthüllt schon recht bald nach Eröffnung der Handlung, dass die fast schon körperlich spürbare Fäule in der Beziehung zwischen Nora und Helmer noch eine weitere Ebene hat. Nora verheimlicht ihrem Mann seit Jahren, dass sie für eine wegen seines Gesundheitszustandes unerlässliche Reise auf illegalem Wege Geld beschafft hatte, und noch immer die Schulden abbezahlt. Eine reichlich merkwürdige Situation – eine Ehe, in der sich jeder Partner dem anderen überlegen fühlt und ihm gegenüber die Rolle des Beschützers einnehmen will.
Ibsen nutzt diesen Konflikt, um einerseits die Absurdität der Beziehung darzustellen – sofern von einer Beziehung zu sprechen ist – andererseits enthält seine Darstellung auch deutliche gesellschaftskritische Elemente.
Da ist einmal Helmer, der Ehemann, das Haupt der Familie, selbstverständlich ihr Ernährer und Beschützer. Er legt großen Wert auf diese Rolle. Einmal sagt er sogar selbst, er werde Nora beschützen „wie eine verfolgte Taube, die (er) aus den Klauen des Habichts glücklich gerettet habe“ (S. 79). Doch wo findet sich diese Aussage! Nicht etwa, als Noras Geheimnis ans Licht kommt und ihr wegen einer Unterschriftenfälschung ernsthafte Probleme drohen – da erklärt er ihre Ehe für beendet –, nein, erst als die Gefahr der öffentlichen Schande gebannt ist, erwacht der Held in ihm. Er merkt dabei gar nicht, dass seine Frau seine Unterstützung wesentlich früher gebraucht hätte – am Besten schon zu Beginn der Ehe, spätestens aber als sie in Schwierigkeiten ist.
Mit dieser Aufgabe ist Helmer überfordert. Im Grunde weiß er mit dem süßen Vogel, in den er so verliebt ist (S. 80), nämlich gar nichts anzufangen. Nora bietet keinen Ansatzpunkt für Helmer, den Sohn aus gutem Hause; ihre Erziehung zu einer gleichwertigen Partnerin bedürfte größerer Erfahrung, Selbstsicherheit und größeren Wissens, als Helmer sein Eigen nennt. Beide stecken sie mit Haut und Haaren in ihren von einer ominösen Gesellschaft vorgegebenen Rollenklischees; Helmer noch mehr als Nora, an der sich ihre Rolle selbst überholt:
Nora ist so sehr ihre Rolle, dass sie den Kontakt zur Basis ihrer Gesellschaftsordnung verloren hat. Sie ist so sehr das Eichkätzchen und der Zeisig, dass kein Raum für Bildung bleibt. Dabei ist Nora keineswegs dumm, sie weiß sich offensichtlich zu helfen, sie ist geschickt, und am Ende auch klug genug, um den einzigen Lösungsweg zu finden: die Trennung von der Familie. Ihre angeborene Intelligenz leistet ihr vorher allerdings auch den einen oder anderen Bärendienst – so kann sie nicht verstehen, warum eine lebensrettende Dokumentenfälschung, die niemandem schadet, strafbar sein sollte.
In den Charakteren Nora und Helmer treibt Ibsen die Typisierung des Bürgers auf die Spitze, und enthüllt gleichzeitig, welch eine Leere sich dahinter verbergen, und wie diese Lebensform zu einem Schauspiel pervertieren kann, dessen Spieler sich ihrer Rolle nicht bewusst sind – oder es aber werden, wie Nora, und dann ihre Rolle abzustreifen versuchen.
Der Spannungsbogen des Stückes lässt an dieser Stelle nur die eine Lösung zu; dass Nora auszieht, um sich selbst zu finden.
Beinahe unglaublich da die Tatsache, dass das Stück in seiner originalen Fassung von der deutschen Zensur beanstandet wurde und Ibsen den Schluss zu einer versöhnlichen Familienvereinigung umschreiben musste, damit das Drama in Deutschland aufgeführt werden durfte. Eine Übelkeit erregende Vorstellung – doch man wollte es so. Die Geschichte einer Frau, die nicht nur ihren Mann, sondern auch noch ihre Kinder im Stich lässt, war ein solcher Skandal, dass man das Publikum nicht damit zu konfrontieren wünschte. Man bedenke, welche Wirkung ein derart schlechtes Vorbild, noch dazu überzeugend vorgebracht, haben könnte – nein, das durfte nicht sein.
Heute könnte man mit dieser Geschichte niemanden mehr schocken. Allenthalben verlässt ein Ehepartner die Familie, und es interessiert nur noch die nächsten Angehörigen sowie, im Falle einer prominenten Familie, die Klatschpresse.
Doch das dahinter verborgene Problem ist mitnichten verschwunden, wie man bereits den eingangs zitierten Sätzen aus dem SPIEGEL entnehmen kann. Und wo Hauptmann lediglich von der unselbstständigen Frau spricht, geht Ibsens Drama „Nora oder Ein Puppenheim“ weiter und thematisiert die Emanzipation des Menschen von der Gesellschaft. Nicht nur Nora muss sich ihrer Rolle entledigen und herausfinden, wie das Leben wirklich ist, auch Helmer muss über das Bild, dass er von seinem Leben im Kopf hat, hinauswachsen, damit eine Beziehung zwischen den beiden möglich wird.
Dies betrifft uns! Wir, die wir mehr denn je nicht nur von einem, sondern von vielen Bildern geprägt werden und von allen Seiten gesagt bekommen, wie wir zu sein haben, dürfen uns genauso wenig wie Nora und Helmer in Schemata pressen lassen. Wir müssen unseren eigenen Weg finden, besonders in Bezug auf die Partnerschaft mit dem anderen Geschlecht, da in diesem Fall früher vorhandene Stabilitätsfaktoren wie Gewohnheit, Tradition und Glaube immer mehr verschwinden. Nicht umsonst wird heute statistisch jede zweite neu geschlossene Ehe geschieden; es scheint, als würden die Beziehungen zusehends fragiler. In diesem Sinne offenbart sich eine schreckliche Aktualität des „Puppenheims“, indem Ibsen nämlich etwas thematisiert, was – damals noch ein Tabu – doch schon vorhanden war, sich aber erst im Laufe von Dekaden offenbarte.[/size]