Beiträge von klaus

    Auch ich bin inzwischen, das lange Osterwochenende zum Lesen nutzend, mit dem Roman fertig geworden. Meine etwas zwiespältige Bewertung hatte ich schon geschildert. Die Konfusion, die die Zeitgenossen angesichts der geschichtlichen Verläufe erlebt haben mußten, hatte sich für mich etwas zu sehr auf mich als Leser übertragen. Mein Wunsch, den Roman zu lesen, war nach der (partiellen) Lektüre von Karl Schlögels „Entscheidung in Kiew“ entstanden, das im Untertitel „Ukrainische Lektionen“ heißt, man könnte aber auch sagen „Ukrainische Impressionen“. Vielleicht habe ich den Roman benutzt, um mehr von diesen Impressionen zu erhaschen. Dazu war er aber m.E. nicht so recht geeignet.


    Was mich auf jeden Fall erstaunt, ist, dass mich ein Herr Putin und die häßliche Fratze, die er der Welt zur Zeit von Russland präsentiert, nicht davon abhält, mich mit russischer (oder russischsprachiger) Literatur zu befassen. Zumal viele der Schätze, die da noch warten, ja von Dissidenten stammt. So war es mit der deutschen Literatur auch einmal.

    Ich bin jetzt im 16. Kapitel, also weit im 3. Teil. Die Geschichte von Turbins (des Älteren) Verletzung und der Hilfe, die er erfährt durch Geschwister, Freunde und vor allem durch eine Fremde (Julia), hat mich sehr berührt. Auch hier wechselt der Autor die Zeitebenen, finsbury, aber es erscheint einem ganz natürlich im Erzählablauf: Turbin ist plötzlich verletzt und hilfsbedürftig und der Leser möchte wissen, wo er die Verletzung sich zugezogen hat, dies wird im Anschluss in einer langen Rückblende erzählt. Das Gleiche ist der Fall bei der Schilderung des nächtlichen „Ganoven“überfalls, den der Hausmeister erfährt: erst klopft er aufgeregt bei den Turbins an, und im Folgekapitel wird beschrieben, was dem in seiner Wohnung vorausging.


    Diese Art der Modernität, die ein wenig mit dem Zeitablauf spielt, bereitet mir gar keine Schwierigkeiten. Aber im gegenwärtigen Kapitel, das in der Sophia-Kathedrale spielt, fühle ich mich wieder völlig orientierungslos. Der Leser hat es mit einer Polyphonie von Stimmen zu tun, bei der er nie weiß, wer jetzt gerade spricht. Eine anonyme Menschenmenge, ein „man“ scheint Akteur und Sprecher zu sein, und wenn man Glück hat, schält sich aus einer solchen Massenschilderung dann eine Einzelszene heraus.

    Ich stehe jetzt im 2. Teil und vor dem 9. Kapitel und muss einmal gestehen, dass ich große Probleme mit dem Roman habe, und zwar nicht alleine wegen des verwirrenden geschichtlichen Hintergrundes, der sich in ihm spiegelt, sondern vor allem wegen der Erzählweise Bulgakows. Man merkt dem Roman die gleichzeitige Konzeption als Theaterstück an, ein Stück allerdings, das in teils kleinste Einzelszenen zerrissen ist. Besser noch stelle ich mir das Ganze als Film vor mit schnellen Schnitten und nicht mit langen Einstellungen auf Menschen und Gesichter, wie ich es bevorzuge. Es gibt kaum eine innere Perspektive der handelnden Personen und keine Möglichkeit für den Leser seinen Blick auf einzelne Figuren zu fokussieren, da der Erzählerblick ständig wechselt.


    Ich stimme daher Reich-Ranicki zu, das er es schwierig fand, der Handlung zu folgen. Nicht zustimmen würde ich ihm, dass das Buch epigonal sei. Ich finde schon, dass Bulgakow hier einen eigenen Stil entwickelt hat, der außerdem sehr in die damalige Zeit paßt, aber es ist ein Stil, mit dem ich persönlich Probleme habe …


    Vergleiche mit dem heutigen Krieg finde ich nicht so angemessen: damals standen sich (mindestens) 5 Kriegsparteien gegenüber, die selber nicht genau wußten, wofür sie kämpften, noch weniger die Zeitgenossen, erst recht nicht wir heutigen Leser. Der Krieg heute ist dagegen einfach: es gibt einen Aggressor und einen Verteidiger, und der Aggressor macht es dem Verteidiger sehr einfach, sich für die richtige Seite zu entscheiden. Es wurde ja von politischen Kommentatoren schon gesagt, dass das was Putin tue ein „nation building“ für die Ukraine sei. Wenn man bisher noch Zweifel haben konnte, ob es eine ukrainische Nation überhaupt gibt, so wird es sie jetzt nicht mehr geben: Putin schmiedet sie gerade durch seinen Krieg.

    b.a.t. in der Übersetzung von Nitzberg aus dem Galiani-Verlag ist stets von der „Großen Stadt“ die Rede, wenn Kiew gemeint ist.


    Ich habe jetzt die ersten 3 Kapitel gelesen und will heute noch etwas schaffen.


    Den Thalberg sehe ich so: er stammt aus dem Baltikum und ist ein Karrierist und Opportunist und schlägt sich auf die Seite, die am ehesten die Wiederherstellung von Recht und Ordnung verspricht, und nach dem Rückzug der Deutschen ist das für ihn General Denikin und seine Weißen Verbände am Don. Dort will Thalberg (über den Umweg Rumänien - Krim, also wohl über See) nun hin: „Dort fehlen heißt auch - die Karriere zerstören …“ .


    Übrigens waren auch die Roten im Februar 1918 schon nach Kiew vorgedrungen und ließen in den 3 Wochen, die sie bis zum Einmarsch deutscher Truppen blieben, 5000 Menschen erschießen.


    Ansonsten fällt mir ebenfalls die expressionistische und manieristische Sprache auf, die sich spezieller Wortwahl und vieler Wortumstellungen bedient. Der Übersetzer versucht dabei am Original zu bleiben und erklärt seine Übersetzung oft in den Anmerkungen.

    Guten Morgen!


    Ein bißchen bin ich ja dafür verantwortlich, dass wir hier die "Weiße Garde" und nicht den "Meister und Margarita" lesen. Deshalb möchte ich hier auf jeden Fall mal ein Lebenszeichen von mir geben, da ich wegen Umzugsvorbereitungsstresses erst ab Karfreitag in den Lesefluss kommen werde. Ich habe erst das Einleitungskapitel gelesen (in der Übersetzung von Alexander Nitzberg) und die mehr als 4 Seiten lange Anmerkung zum Jahr 1918, das ja gleich in der ersten Zeile auftaucht. Am Ende dieser Anmerkung wird Bulgakow selbst zitiert, der über die Jahre 1917-21 schreibt:


    Zitat von Bulgakow: (aus seiner Skizze Die Stadt Kiew)

    Nach Rechnung der Kiewer waren es achtzehn Machtwechsel. Manche der Memoirenschreiber zählten zwölf; ich kann Ihnen sagen, dass es genau vierzehn waren - und ich selbst habe zehn davon durchlebt ... Den Rekord hielt der bekannte Buchhalter und spätere Angestellte der Städtevereinigung Semjon Wassiljewitsch Petljura. Viermal tauchte er in Kiew auf, und viermal jagte man ihn davon.

    Es waren also wirre Jahre, die in dem Roman beschrieben werden und es sollte mich nicht wundern, wenn sie uns verwirrend vorkommen. Aber vermutlich taten sie das auch schon für die Zeitgenossen in Kiew, die hier beschrieben werden.


    Achja: welche Ausgabe lest Ihr denn?


    Wenn wir das natürlich alle machen, dann kommen wir nirgends hin. Ich werde im Laufe der nächsten Woche also weiterlesen - gehauen oder gestochen... :breitgrins:


    Bitte nehmt auf mich keine Rücksicht, im Moment ist einfach der Schwung raus. Ich hab's ein paarmal versucht wieder reinzukommen, aber im Moment spricht Jean Paul einfach nicht mehr zu mir oder wie Volker so schön sagte: "er geht nicht mehr zu mir". Sorry, aber so ist das manchmal.


    Ich werde die Leserunde weiterhin verfolgen und es vielleicht irgendwann nochmal versuchen. Achso: und es war trotzdem eine lohnenswerte Erfahrung, 300 Seiten aus seinem Hesperus zu lesen. Jean Paul ist wirklich ein ganz außergewöhnlicher Schriftsteller. Nur macht er es mir momentan einfach zu schwer ...


    Gruß
    Klaus :winken:


    Was meint ihr dazu, dass JP vielleicht Synästhetiker war.


    Mag sein, ist mir aber nicht so wichtig. Für mich sind solche Stellen einfach ein spezieller Ausdruck von JP's dichterischer Fantasie und Verknüpfungsfähigkeit. Es gibt ja auch von Rilke in seinem Gedicht Spätherbst in Venedig die Stelle: die gläsernen Paläste klingen spröder an deinen Blick. Da werden drei Sinne miteinander verknüpft und ich habe mich nie gefragt, ob Rilke Synästhetiker war (war er's?). Das ist einfach ein ganz tolles Bild, was viel im Leser hervorruft.


    Ansonsten geht's bei mir im Moment sehr zäh voran (das Wetter, andere Dinge und andere Bücher), ich stecke im 20. Hundposttag fest.

    Guten Morgen Volker, dann wünsche ich Dir viel Spaß mit Deinem neuen Gerät (da wirst Du ja auch mehr mit machen können als Klassiker zu lesen) und viel Freude bei der Jean-Paul-Lektüre. Für mich war sie jedenfalls (trotz der Mühe, bisweilen) bisher auf jeden Fall ein Gewinn! Und Du hast recht: man muß nicht immer alles verstehen ... Ein Kommentar (wie in der Hanser/Zweitausendeins-Ausgabe) hilft aber sehr. Ich stehe übrigens vor dem 19. Hundposttag. :winken:


    Sobald das Maienthal und - eingeschränkt - St. Lüne auftauchen, ist meine Lesefreude etwas gehemmt, geht es dann doch rasch ins Gefühlige.


    finsbury, ich freue mich, dass Du das ähnlich siehst wie ich - wobei St. Lüne ist wegen Eymann und seiner Frau noch ganz amüsant. Und wann taucht endlich mal wieder der Kutscher auf?



    Der spätere JP ist doch deutlich weiter. Im Siebenkäs und den Flegeljahren kann ich mich an so lange Durststrecken weniger erinnern, eher schon im Titan.


    Ja, als Einstieg in JP wären die für mich vielleicht wirklich besser gewesen, wobei den Katzenberger hatte ich ja schon als Aperitif. :smile: Ich muß gestehen, dass ich manchmal mit meiner Motivation kämpfen muß, nach dem Motto: :morgen: ist auch ein Tag ...


    Da fällt mir ein: hat irgendjemand den 2. Schalttag gefunden? Der scheint verschwunden zu sein ... :breitgrins:


    Ihr könnt also gerne wieder posten, falls ihr nicht schon lange durch seid.


    Haha, du hast mich jetzt eingeholt - wie erwartet. :zwinker: Habe auch grad den 17. Hundposttag durch. Viktor ist ja nun am Hof in Flachsenfingen und JP's Adelskritik wird immer lauter und amüsanter. Des Fürsten Leiden, vom Leibarzt Kuhlpepper jahrelang als Podagra behandelt und diesen so als Universalkrankheit ernährend, ist für Viktor lediglich Gedärm-Äther, also Wind:


    Da Fürsten keinen Druck erfahren als den der Luft, die – in ihrem Leibe ist: so kannte Jenners Dank für die Befreiung von diesem Druck so wenig Grenzen, daß er den ganzen Tag den Doktor – nicht wegließ.


    Viktor wird so zum Riechfläschchen des Fürsten, das dieser immer dabei haben will. Bitter beklagt sich Viktor in einem Brief an den Adoptiv-Vater Eymann über das Leben bei Hofe:


    ... aber bei Hofleuten ist die Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwungfeder ihrer Seelen; alle sind geborne Kunstrichter, die auf nichts als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache sehen. Das macht, sie haben nichts zu tun; ihre gute Werke sind Bonmots, ihre Meßgeschäfte Besuchkarten, ihre Hauswirtschaft eine Spiel- und ihre Feldwirtschaft eine Jagdpartie, und der kleine Dienst eine Physiognomie. Daher müssen sie fremde Fehler den ganzen Tag in Ohren haben gegen die schlaffe Weile, ...


    Und noch bitterer:


    Hier ist jede Minute eine stechende Moskite, und der Distelsame des schöngefärbten Kummers fliegt weit herum.


    Er fühlt sich dort also nicht wohl, obwohl er schon wieder ein Auge auf weibliche Schönheiten geworfen hat: die Fürstin Agnola, der er schon in Kussewitz einen Zettel zugesteckt hatte, und Joachime, der er jetzt just in dem Moment begegnet, da er wehmütig an Klotilde denkt ...


    Unglaublich, dieser Einfallsreichtum, die ständigen Anbindungen an irgend etwas, was JP gelesen, gehört oder gesehen hat. Anscheinend landet fast alles, was er in seinen Zettelkästen aufbewahrt, auch irgendwann in seinen Werken.


    Für mich ist JP wie eine Assoziationsmaschine. Nichts ist einfach was es ist, es gibt immer zu Vergleichen, Symbolisierungen und Assoziieren Anlaß. JP war ein wandelndes Internet, in dem es tausende Verknüpfungen (Links) gab, zwischen scheinbar Unverknüpftem. Ein schönes Beispiel ist der Anfang des 12. Hundposttages. Viktor ist unterwegs zur "Insel der Vereinigung", der Himmel ist bewölkt und Viktor hat seine "Polar-Phantasien": es gab die Vorstellung, dass am Pol das Wort im Winter gefriere und erst im Sommer wieder auftaue. Was JP daraus auf einer ganzen Seite folgert, gehört zum Witzigsten meiner bisherigen Lektüre. Da gibt es z.B. - an die schon erwähnte Misogynie anknüpfend - folgende herrliche Phantasie:


    – Aber, o ihr Heiligen, wenn ich am Pol – indes die Sonne im Steinbock wäre und mein Herz im Krebs – niederfiele vor der schönsten Frau und ihr die längste Nacht hindurch die heißesten Lieberklärungen täte, die aber in einer Drittels-Terzie Eis ansetzten und ihr gefroren, d.h. gar nicht zu Ohren kämen: was würd' ich im Sommer machen, wo ich schon kalt wäre und sie schon hätte, wenn gerade in der Stunde, wo ich mich tüchtig mit ihr zu zanken verhoffte, nun mitten unter dem Keifen meine Steinbocks-Lieberklärungen aufzutauen und zu reden anfingen? Ich würde gelassen nichts machen als die Regel: man sei zärtlich am Pol, aber erst im Widder oder Krebs.


    Also, ich bin jetzt mit dem ersten Heftlein(!) fertig, stehe also vor dem 16. Hundposttag und bin hin- und hergerissen: zwischen Bewunderung und Freude beim Lesen solcher Stellen, und arger Langeweile bei langen gefühlsbetonten Passagen, in deren Überschwang ich mich nicht hineinzuversetzen vermag. Ich werde langsam weiterlesen ...


    :breitgrins:
    Bei mir ist es (noch) umgekehrt. Die Abschweifungen finde ich kurzweilig, bin eher von der Geschichte genervt.


    Als wenn es davon nicht schon genug gäbe, hat JP am Ende des 6. Hundposttages mit dem Leser einen Vertrag geschlossen, der des Autors Recht auf Abschweifung juristisch absichert. Seinen überbordenden Witz und Scharfsinn darf er nun in zusätzlichen "Schalttagen" unterbringen, die mit der Geschichte nichts zu tun haben müssen. Den ersten Schalttag habe ich nun gelesen: es geht darum, ob Verträge denn auch zu halten sind. Köstlich. :smile:


    Mein Empfinden bzgl. Abschweifungen, Handlung und Langeweile möchte ich noch präzisieren: ich stelle fest, die Abschweifungen an sich sind nicht das Problem, sondern die besagten schwärmerischen Passagen. Ich langweile mich sehr, wenn ich den Brief von Emanuel an Viktor lese; da ertappe ich mich dabei drüber wegzuhuschen. Die Gefühle zwischen den beiden empfinde ich sowieso als unmotiviert. Viktor kennt von ihm nur einen Brief, der noch nicht mal an ihn gerichtet ist und schon bricht bei ihm eine schwärmerische Liebe zu diesem Lehrer aus, die auch noch - ebenfalls unbekannterweise - erwidert wird. Da fehlt's mir an Verständnis. :sauer: Was ich an den Handlungspassgen so gut finde, sind die Personenbeschreibungen: wenn der Kutscher bzw. Blasebalg-Treter auftaucht, weiß ich jetzt wird's wieder lustig. Oder die Beschreibung des Fürsten Jenner im 8. Hundposttag. Hier ein paar Kostproben von JP's satirischer Schärfe:


    Das fürstliche Gesicht setzte den Helden in Verlegenheit, nicht weil es imponierte, sondern weil es dieses bleiben ließ. Es war ein Wochentags- und Kurrentgesicht ...


    ... so nahm Jenner unsern Viktor durch verschiedene Funken von Religion [...] ein; wiewohl er einsah, daß für einen Fürsten die Religion zwar ihr Gutes, aber auch ihr Schlimmes habe, da nur ein gekrönter Atheist, aber kein Theist das unschätzbare privilegium de non appellando besitzt, das darin besteht, daß die beschwerte Partei nicht [...] an die höchste Instanz außerhalb der Erde appellieren darf.


    Viktor stellte an den Fürsten die gewöhnlichen medizinischen Fragstücke, nicht bloß als Leibarzt, sondern auch als Mensch, um ihn zu lieben. Obgleich Leute aus der großen und größten Welt, wie der Unter-Mensch, der Urangutang, im 25sten Jahre ausgelebt und ausgestorben haben – vielleicht sind deswegen die Könige in manchen Ländern schon im 14ten Jahre mündig ... :breitgrins:


    Köstlich auch Eymanns Nervosität bei dem hohen Besuch. Er befürchtet, dass der Fürst vielleicht durch das Schlafzimmerfenster die auf dem Bett liegende beschmutzte Halsbinde gesehen haben könnte:


    »Durch die Vorhänge muß Seine Durchlaucht unfehlbar den Fetzen gesehen haben«, versetzte er. Endlich bereisete er alle Plätze, wo Jenner gestanden hatte, und visierte nach der Lumpenbinde und untersuchte ihre Parallaxe.


    Komischer geht's nicht. :smile:


    Klaus

    Ich lese jetzt sehr langsam und halte mich schon lange mit dem 8.HPT auf. Hat noch niemand aufgeholt? In dem Tempo wird der Hesperus wohl noch Weihnachten auf mein müdes Haupt strahlen ...



    Zwei Texte sind von modernen Autoren, von Doderer(Dämonen) und Nabokov(Ada), einer von Jean Paul(Hesperus, 3.Hundposttag). Welcher? :zwinker:


    Von JP ist das mittlere Zitat, dazu paßt auch das folgende aus dem 7. HPT:
    »Herr Emanuel sagte einmal, man sollte den Kindern in jedem Jahre ihre vergangnen erzählen, damit sie einmal durch alle Jahre durchblicken könnten bis ins zweite neblichte hinein.« Bei den anderen kann ich nur raten: Doderer Nr.1, Nabokov Nr.2 ? Aber die Ähnlichkeit der Bilder ist schon frappierend.


    Bzgl. der sentimentalen Schwärmerei bzw. dem Freundschaftskult: ich hab's auch anfangs wie Finsbury für sehr übertrieben gehalten, es macht aber bestimmt auch Sinn, sie für Satire zu nehmen, da kenn ich zu wenig den Zeitgeist dieser Jahre.


    Und immer wieder herrliche Passagen, z.B. über Viktors Sabbatwochen, da möchte ich eine ganze Seite zitieren und sie am liebsten jedem streßgeplagten Zeitgenossen vorlesen:


    ...denn in diese Wochen fielen gerade seine stillen oder Sabbatwochen ein...
    Ich weiß nicht, ob sie der Leser schon kennt: sie stehen nicht im verbesserten Kalender; aber sie fallen regelmäßig (bei einigen Menschen) entweder gleich nach der Frühling-Tag- und Nachtgleiche oder in den Nachsommer.
    Bei Viktor war das erste, gerade mitten im Frühling. Ich brauch' es nicht auszumitteln, ob der Körper, das Wetter, oder wer diesen Gottesfrieden in unserer Brust einläute: sondern schreiben soll ichs, wie sie aussehen, die Sabbatwochen. Ihre Gestalt ist genau diese: in einer stillen oder Sabbatwoche (manche, z. B. ich, werden gar nur mit Sabbattagen oder -stunden abgefertigt) schlummert man erstlich leicht wie auf gewiegten Wolken – Man erwacht wie ein heiterer Tag – Man hatte sich abends vorher gewiß vorgenommen und es deswegen in Chiffern an die Türe geschrieben, sich zu bessern und das Jätemesser alle Tage wenigstens an ein Unkraut-Beet anzusetzen – Beim Erwachen will mans noch und setzet es wirklich durch – Die Galle, dieser aufbrausende Spiritus, der sonst, wenn er, statt in den Zwölffingerdarm, in das Herz oder Herzblut gegossen wird, mit Wolken aufsiedet und zischt, wird in wenigen Sekunden eingezogen oder niedergeschlagen, und der erhöhte Geist fühlt ruhig das körperliche Aufwallen ohne seines – In dieser Windstille unserer Lungenflügel spricht man nur sanfte, leise Worte, man fasset liebend die Hand eines jeden, mit dem man spricht, und man denkt mit zerfließendem Herzen: ach ich gönnte euchs allen wohl, wenn ihr noch glücklicher wäret als ich – Am reinen gesunden stillen Herzen schließen sich, wie an den homerischen Göttern, leichte Wunden sogleich zu – »Nein!« (sagst du immerfort in der Sabbatwoche) »ich muß mich noch einige Tage so ruhig erhalten.« – Du verlangst zum Stoff der Freude fast nichts als Dasein, ja der Sonnenstich einer Entzückung würde diesen kühlen magischen durchsichtigen Morgen-Nebel in ein Gewitter verdichten – Du siehst immerfort hinauf ins Blaue, als möchtest du danken und weinen, und umher auf der Erde, als wolltest du sagen: »Wo ich auch heute wäre, da wäre ich glücklich!« und das Herz voll schlafender Stürme trägst du, wie die Mutter das entschlummerte Kind, scheu und behutsam über die weichen Blumen der Freude.


    Solche Abschweifungen sind herrlich zu lesen, bei anderen langweilt es mich aber auch und ich bin froh, dass der Autor, nachdem er selber schon angekündigt hat, in drei Minuten wieder bei der Geschichte zu sein, in gefühlten dreißig endlich dort anlangt.


    Klaus


    An JP schätze ich auch seine wunderbaren Naturbeschreibungen:


    Besonders schön finde ich auch den Satz vor Deinem Zitat:


    Zitat

    Der Frühling, der Raffael der Norderde, stand schon draußen und überdeckte alle Gemächer unsers Vatikans mit seinen Gemälden.


    Der Hieb mit dem Nebel der vier Fakultäten geht wohl mehr gegen die mittelalterliche Wissenschaft (Quadrivium), die noch prägend war, als gegen die moderne (Natur-)Wissenschaft z.B. eines Newton. Seitenhiebe gegen Kirche und Religion gibt es später zuhauf, z.B. im 6. HPT, den ich gerade lese. Eymann sucht seine Bibel, bis ihm wieder einfällt, wo er sie gelassen hat: in seinem Rattenwahn erschlug er mit ihr eine Maus. Und nun meint er, sie solle über diesen Tod froh sein und nicht wie die portugiesischen Juden verbrannt wurde ... usw.

    Ich habe bereits in den letzten Julitagen zaghaft mit der Lektüre begonnen und am Wochenende nahm sie ein bißchen Fahrt auf, ich stehe jetzt vor dem 6. Hundposttag. Dennoch werde ich nicht in dem Tempo weiterlesen können. Ein paar subjektive Eindrücke möchte ich jetzt schonmal schildern.


    Erstmal: Jean Paul zu lesen macht Spaß! Auch wenn es vorher "zitternde Knie" und mancherlei Bedenken gab, hat man einfach gute Laune, wenn man sich dem Sprach- und Gedankenwitz dieses Autors überläßt, auch wenn das Verständnis dann und wann nicht mitkommt. Ich merkte das am Wochenende, bei sonnigem Wetter auf dem Balkon sitzend und lesend, wie mich immer wieder ein Schmunzeln oder lautes Auflachen überkam; der Bleistift war stets griffbereit, um kluge oder schöne Stellen am Rand zu markieren. Es sind so viele, dass ich im Moment erstmal keine besonders herausgreifen will. Ich hatte schon die Idee, einen Ergänzungsthread aufzumachen, wo wir unsere Stellen sammeln könnten ...


    Die Rahmenhandlung ist ja arg konstruiert, aber auch lustig. Wenn sich noch jemand fragt, wie JP auf eine ostindische Gewürzinsel geraten ist und wie ein Hund den Ozean so ohne weiteres jeden Tag überqueren kann, dann hilft vielleicht diese Stationstafel. Komisch fand ich, wie die Ratten bzw. eine davon aus Kaplan Eymanns Haus plötzlich in der Stube des "Lebensbeschreibers" auftauchen, wobei mir nicht ganz klar ist, ob er nur den kratzenden und nagenden Spitz für eine solche hält:

    Zitat

    ... Spitzius Hofmann heißet der Hund; der war die Ratte und kratzte an der Türe

    Trotzdem scheint ja hier wohl eine Übertragung eines Motivs aus der Rahmenhandlung in die Binnenhandlung vorzuliegen. Im 4. HPT erhält JP mit der Hundpost einen Schattenriss von Klotilde, den der Junker Matthieu hergestellt hatte (wir haben es vorher hautnah miterlebt). Wie kommt der Korrespondent Knef an diesen Schattenriss? Steht er mit Matthieu in Verbindung? Mir ist der Sinn dieser Rahmenhandlung noch etwas mysteriös, vielleicht hab ich aber auch etwas überlesen ... Und kann jemand mit diesem Zitat etwas anfangen:

    Zitat

    Und der [Schattenriss] soll auch unter dem Schreiben in einem fort angesehen werden, um so mehr, da er einem schönsten andern weiblichen Engel, der je aus einem unbekannten Paradies in diese Erde hereingeflogen, gleichsam aus den Augen oder vielmehr aus dem Gesicht geschnitten ist – ich meine das Fräulein von **, jetzige Hofdame in Scheerau; ich weiß nicht, ob sie alle Leser kennen.


    Wer soll diese Hofdame sein?


    Zentrale Figur ist ja wohl Viktor, JP nennt ihn öfters "seinen Helden". Er wird teilweise ambivalent geschildert. Einerseits sagt er zu seinem Vater, dem Lord, im 2. HPT:

    Zitat

    Ich verabscheue aufs heftigste den Samielwind der Hofluft

    (der Erzengel Samael gilt als Todesengel oder Fürst der Dunkelheit), andererseits bewegt er sich gern unter "feinen Leuten". Vielleicht ist hier aber auch eher "fein" im Sinne von "gebildet" und "weiblich-kokett" und nicht von "höfisch" gemeint, s. der Verweis auf Fontenelle, Crebillon, Marivaux. Seine Begegnung mit der Schloßgesellschaft fand ich sehr amüsant geschildert:

    Zitat

    Er bemerkte zwar bald die besondern Fecht- und Tanz-Stellungen des Bundes gegeneinander

    Zitat

    Vier Personen hatten jetzt auf einmal vier Sehröhre auf seine Seele gerichtet

    Zitat

    Des Evangelisten Beispiel machte, daß auch Viktor anfing zu phosphoreszieren auf allen Punkten seiner Seele – der Funke des Witzes umlief den ganzen Kreis seiner Ideen, die einander wie Grazien bei der Hand faßten, und sein elektrisches Glockenspiel übertraf des Junkers Entladungen, welche Blitze waren und nach Schwefel stanken.

    usw.


    Der "Evangelist" Matthieu erscheint in dieser Szene als Gegenspieler Viktors, falsch und zynisch. Die Kaplänin mag ihn auch nicht und möchte, dass er weniger Einfluß auf Flamin, ihren Sohn, bekommt. Dafür mag sie Viktor umso mehr. Sehr schön geschildert ist, wie sie ihn ihrem Mann für ein vertrauliches Gespräch "kapert". Die Bedeutung von Klotilde kann ich jetzt noch nicht einschätzen. Flamin und sie lieben sich, zwischen ihnen steht aber der Standesunterschied. Für Viktor als Lordsohn gälte dieser nicht und er fühlt sich zu Klotilde hingezogen. Wird er die Liebe seines Freundes respektieren? Nicht nur hier, sondern auch in der Beziehung zu Matthieu, den Flamin sehr schätzt, und im unterschiedlichen Charakter Flamins scheinen sich Konflikte zwischen den Freunden anzudeuten:

    Zitat

    er konnte nichts so wenig ausstehen als Poeten, Philosophen, Hofleute und Enthusiasten – einen ausgenommen, der alles das auf einmal war, seinen Sebastian Viktor


    Ich bin gespannt auf Eure Eindrücke.


    Klaus :winken:

    Danke Finsbury für die Links. Zwei Anmerkungen: Der Wiki-Link führt ins Leere, und der Zitate-Link führt zur gleichen URL wie der Biografie-Link. Die "Zitate von Jean Paul -Lesern, wenn man Ermutigung zum Weiterlesen braucht" würden mich wirklich sehr interessieren ... :breitgrins: