Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundposttage

  • Der zweite Hundposttag bringt die Vorgeschichte: Wir lernen den seinen Samen über Westeuropa verstreuenden Fürsten Januar kennen und das Verhältnis der Protagonisten zu ihm. Wie in vielen anderen Romanen JPs sind bei der Herkunft und dem Verhältnis der jungen Männer Möglichkeiten für Verwechslungen angelegt, und es wird auch sicherlich noch der eine oder andere uneheliche Sohn später eine Rolle spielen. Auch die laxe Moral, das Ämterhaschen und Ränkespiel bei Hofe ist ein Lieblingsthema JPs, der es hier an Seitenhieben nicht fehlen lässt. Wie sich nun der gehorsame, aber innerlich widerstrebende Viktor in der Residenz einfügen wird, scheint spannend zu werden.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Der zweite Hundposttag bringt die Vorgeschichte: [...]


    Aber so verworren, dass der Leser kaum daraus schlau werden kann. Wenn man bedenkt, dass Jean Paul dieses Kapitel extra verlängert hat, um die verworrene Vorgeschichte zu erklären...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • mein tablet bekomme ich erst in der naechsten Woche, aber Eure Texte mit den Zitaten sind schon allein lesenswert! Danke dafuer. Vielleicht kaufe ich mir zu guter letzt doch noch ein papierenes Buch, dass ich es so machen kann wie Klaus und Sachen anstreichen und Anmerkungen machen...

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Meine Ausgabe mit Anmerkungen ist da, aber ich komme leider nur wenig zum Lesen. Amüsiere mich dennoch im dritten Kapitel über die schwärmerische Jünglingsfreundschaft und die zahlreichen Tränen der Rührung. Man merkt, dass das ein früher Jean Paul ist, auch die späteren sind streckenweise sentimental, aber ich meine, dass nicht ganz so viele Tränen die sich umarmenden Freunde benetzen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Gestern konnte ich meinen Hesperus in Buchform (Tredition Classics) abholen. Das Lesen am PC ist einfach nicht mein Ding.
    Mit den ersten drei Hundposttagen bin ich durch.
    Mir geht es wie klaus: Ich finde die Lektüre amusant und witzig. Ständig möchte ich etwas unterstreichen, weil es so treffend, originell, skurril oder komisch ist: der Pralltriller eines Fluches, das Waldwasser des ersten Jubels, das so schnell versiegt, Liebe - die allmächtige und doch leise Harmonika des Herzens, der Ehe- und Säemann, der mit dem Schnarrwerk seines Hustens immer mehr in den Sphärengesang der Nacht einfällt usw.
    Ich habe im Rahmen der Horen-Leserunde nicht wenige Texte der Zeit um 1795 gelesen und finde nach all dem Schwulst, der Biederkeit, dem moralisch sittlich Wertvollen der deutschen Klassik JP einfach erfrischend ! Die verworrene, triviale Handlung stört mich nicht, sie ist nur ein Vorwand, ein Aufhäger für diverse Betrachtungen ironischer und satirischer Art - die Exkurse und Digressionen sind das eigentlich Interessante.
    Manches mutet „modern“ an. Die Beschreibung der Erinnerung an die Kindheit etwa:


    […]Wenn wir uns an unser früheres Ich erinnern, gibt es da immer jene kleine Gestalt mit langem Schatten, die wie ein ungewisser verspäteter Besucher auf der erleuchteten Schwelle am hinteren Ende eines unfehlbar sich verengenden Korridors stehenbleibt[…]


    […] -diese Knabenjahre hatten einen dunklen Spiegel in Händen, in dem die dämmernde Perspektive seiner Kinderjahre zurücklief - und[…] stand schimmernd[…]


    […] öffnete eine Tür nach rückwärts. Wie eine lange Flucht von Zimmern tat es sich auf , an deren Ende oder eigentlich Anfang ein großes Spielzimmer mit weißlackierten Möbeln lag, worin man eben noch den Umriß […]

    Zwei Texte sind von modernen Autoren, von Doderer(Dämonen) und Nabokov(Ada), einer von Jean Paul(Hesperus, 3.Hundposttag). Welcher? :zwinker:



    [...] Amüsiere mich dennoch im dritten Kapitel über die schwärmerische Jünglingsfreundschaft und die zahlreichen Tränen der Rührung. Man merkt, dass das ein früher Jean Paul ist, auch die späteren sind streckenweise sentimental, aber ich meine, dass nicht ganz so viele Tränen die sich umarmenden Freunde benetzen.


    Hm. Ich hatte das als Ironie aufgefasst, als Satire auf den Freundschaftskult jener Jahre.

  • Ich lese jetzt sehr langsam und halte mich schon lange mit dem 8.HPT auf. Hat noch niemand aufgeholt? In dem Tempo wird der Hesperus wohl noch Weihnachten auf mein müdes Haupt strahlen ...



    Zwei Texte sind von modernen Autoren, von Doderer(Dämonen) und Nabokov(Ada), einer von Jean Paul(Hesperus, 3.Hundposttag). Welcher? :zwinker:


    Von JP ist das mittlere Zitat, dazu paßt auch das folgende aus dem 7. HPT:
    »Herr Emanuel sagte einmal, man sollte den Kindern in jedem Jahre ihre vergangnen erzählen, damit sie einmal durch alle Jahre durchblicken könnten bis ins zweite neblichte hinein.« Bei den anderen kann ich nur raten: Doderer Nr.1, Nabokov Nr.2 ? Aber die Ähnlichkeit der Bilder ist schon frappierend.


    Bzgl. der sentimentalen Schwärmerei bzw. dem Freundschaftskult: ich hab's auch anfangs wie Finsbury für sehr übertrieben gehalten, es macht aber bestimmt auch Sinn, sie für Satire zu nehmen, da kenn ich zu wenig den Zeitgeist dieser Jahre.


    Und immer wieder herrliche Passagen, z.B. über Viktors Sabbatwochen, da möchte ich eine ganze Seite zitieren und sie am liebsten jedem streßgeplagten Zeitgenossen vorlesen:


    ...denn in diese Wochen fielen gerade seine stillen oder Sabbatwochen ein...
    Ich weiß nicht, ob sie der Leser schon kennt: sie stehen nicht im verbesserten Kalender; aber sie fallen regelmäßig (bei einigen Menschen) entweder gleich nach der Frühling-Tag- und Nachtgleiche oder in den Nachsommer.
    Bei Viktor war das erste, gerade mitten im Frühling. Ich brauch' es nicht auszumitteln, ob der Körper, das Wetter, oder wer diesen Gottesfrieden in unserer Brust einläute: sondern schreiben soll ichs, wie sie aussehen, die Sabbatwochen. Ihre Gestalt ist genau diese: in einer stillen oder Sabbatwoche (manche, z. B. ich, werden gar nur mit Sabbattagen oder -stunden abgefertigt) schlummert man erstlich leicht wie auf gewiegten Wolken – Man erwacht wie ein heiterer Tag – Man hatte sich abends vorher gewiß vorgenommen und es deswegen in Chiffern an die Türe geschrieben, sich zu bessern und das Jätemesser alle Tage wenigstens an ein Unkraut-Beet anzusetzen – Beim Erwachen will mans noch und setzet es wirklich durch – Die Galle, dieser aufbrausende Spiritus, der sonst, wenn er, statt in den Zwölffingerdarm, in das Herz oder Herzblut gegossen wird, mit Wolken aufsiedet und zischt, wird in wenigen Sekunden eingezogen oder niedergeschlagen, und der erhöhte Geist fühlt ruhig das körperliche Aufwallen ohne seines – In dieser Windstille unserer Lungenflügel spricht man nur sanfte, leise Worte, man fasset liebend die Hand eines jeden, mit dem man spricht, und man denkt mit zerfließendem Herzen: ach ich gönnte euchs allen wohl, wenn ihr noch glücklicher wäret als ich – Am reinen gesunden stillen Herzen schließen sich, wie an den homerischen Göttern, leichte Wunden sogleich zu – »Nein!« (sagst du immerfort in der Sabbatwoche) »ich muß mich noch einige Tage so ruhig erhalten.« – Du verlangst zum Stoff der Freude fast nichts als Dasein, ja der Sonnenstich einer Entzückung würde diesen kühlen magischen durchsichtigen Morgen-Nebel in ein Gewitter verdichten – Du siehst immerfort hinauf ins Blaue, als möchtest du danken und weinen, und umher auf der Erde, als wolltest du sagen: »Wo ich auch heute wäre, da wäre ich glücklich!« und das Herz voll schlafender Stürme trägst du, wie die Mutter das entschlummerte Kind, scheu und behutsam über die weichen Blumen der Freude.


    Solche Abschweifungen sind herrlich zu lesen, bei anderen langweilt es mich aber auch und ich bin froh, dass der Autor, nachdem er selber schon angekündigt hat, in drei Minuten wieder bei der Geschichte zu sein, in gefühlten dreißig endlich dort anlangt.


    Klaus

  • Gontscharow:
    Zu der Freundschaftspassage in Kapitel 3. Ich habe einen ganz interessanten, wenn auch grausig geschriebenen Text im Materialientrhread verlinkt, der sowohl Gontscharows Auffassung, die sentimentalen Freundschaftsergüsse seien ironisch, als auch meine, sie seien zum Teil ernst gemeint, unterstützt. Im Gesamtkonzept werden danach die sentimentalen Passagen durch die Ironie der anderen Teile ebenfalls relativiert und gebrochen; Sie dienen aber auch dazu, die Überhöhung des Gefühls als Zeichen der Unsterblichkeit der Seele wahrzunehmen.
    Dazu passt auch folgende Passage:

    Auf diese Erde sind Menschen gelegt und an dem Fußboden befestigt, die sich nie aufrichten zum Anblick einer Freundschaft, welche um zwei Seelen nicht erdige, metallene und schmutzige Bande legt, sondern die geistigen, die selber diese Welt mit einer anderen und den Menschen mit Gott verweben.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Von JP ist das mittlere Zitat, dazu paßt auch das folgende aus dem 7. HPT:
    »Herr Emanuel sagte einmal, man sollte den Kindern in jedem Jahre ihre vergangnen erzählen, damit sie einmal durch alle Jahre durchblicken könnten bis ins zweite neblichte hinein.« Bei den anderen kann ich nur raten: [... ]Aber die Ähnlichkeit der Bilder ist schon frappierend.


    Bingo! Das erste Zitat ist von Nabokov, das dritte von Doderer.


    Solche Abschweifungen sind herrlich zu lesen, bei anderen langweilt es mich aber auch und ich bin froh, dass der Autor, nachdem er selber schon angekündigt hat, in drei Minuten wieder bei der Geschichte zu sein, in gefühlten dreißig endlich dort anlangt.


    :breitgrins:


    Bei mir ist es (noch) umgekehrt. Die Abschweifungen finde ich kurzweilig, bin eher von der Geschichte genervt.



    Gontscharow:
    Zu der Freundschaftspassage in Kapitel 3. Ich habe einen ganz interessanten, wenn auch grausig geschriebenen Text im Materialientrhread verlinkt, der sowohl Gontscharows Auffassung, die sentimentalen Freundschaftsergüsse seien ironisch, als auch meine, sie seien zum Teil ernst gemeint, unterstützt. Im Gesamtkonzept werden danach die sentimentalen Passagen durch die Ironie der anderen Teile ebenfalls relativiert und gebrochen; Sie dienen aber auch dazu, die Überhöhung des Gefühls als Zeichen der Unsterblichkeit der Seele wahrzunehmen.
    Dazu passt auch folgende Passage:


    Danke für den Link und für Deine Antwort, finsbury. Alles sehr einleuchtend!


  • :breitgrins:
    Bei mir ist es (noch) umgekehrt. Die Abschweifungen finde ich kurzweilig, bin eher von der Geschichte genervt.


    Als wenn es davon nicht schon genug gäbe, hat JP am Ende des 6. Hundposttages mit dem Leser einen Vertrag geschlossen, der des Autors Recht auf Abschweifung juristisch absichert. Seinen überbordenden Witz und Scharfsinn darf er nun in zusätzlichen "Schalttagen" unterbringen, die mit der Geschichte nichts zu tun haben müssen. Den ersten Schalttag habe ich nun gelesen: es geht darum, ob Verträge denn auch zu halten sind. Köstlich. :smile:


    Mein Empfinden bzgl. Abschweifungen, Handlung und Langeweile möchte ich noch präzisieren: ich stelle fest, die Abschweifungen an sich sind nicht das Problem, sondern die besagten schwärmerischen Passagen. Ich langweile mich sehr, wenn ich den Brief von Emanuel an Viktor lese; da ertappe ich mich dabei drüber wegzuhuschen. Die Gefühle zwischen den beiden empfinde ich sowieso als unmotiviert. Viktor kennt von ihm nur einen Brief, der noch nicht mal an ihn gerichtet ist und schon bricht bei ihm eine schwärmerische Liebe zu diesem Lehrer aus, die auch noch - ebenfalls unbekannterweise - erwidert wird. Da fehlt's mir an Verständnis. :sauer: Was ich an den Handlungspassgen so gut finde, sind die Personenbeschreibungen: wenn der Kutscher bzw. Blasebalg-Treter auftaucht, weiß ich jetzt wird's wieder lustig. Oder die Beschreibung des Fürsten Jenner im 8. Hundposttag. Hier ein paar Kostproben von JP's satirischer Schärfe:


    Das fürstliche Gesicht setzte den Helden in Verlegenheit, nicht weil es imponierte, sondern weil es dieses bleiben ließ. Es war ein Wochentags- und Kurrentgesicht ...


    ... so nahm Jenner unsern Viktor durch verschiedene Funken von Religion [...] ein; wiewohl er einsah, daß für einen Fürsten die Religion zwar ihr Gutes, aber auch ihr Schlimmes habe, da nur ein gekrönter Atheist, aber kein Theist das unschätzbare privilegium de non appellando besitzt, das darin besteht, daß die beschwerte Partei nicht [...] an die höchste Instanz außerhalb der Erde appellieren darf.


    Viktor stellte an den Fürsten die gewöhnlichen medizinischen Fragstücke, nicht bloß als Leibarzt, sondern auch als Mensch, um ihn zu lieben. Obgleich Leute aus der großen und größten Welt, wie der Unter-Mensch, der Urangutang, im 25sten Jahre ausgelebt und ausgestorben haben – vielleicht sind deswegen die Könige in manchen Ländern schon im 14ten Jahre mündig ... :breitgrins:


    Köstlich auch Eymanns Nervosität bei dem hohen Besuch. Er befürchtet, dass der Fürst vielleicht durch das Schlafzimmerfenster die auf dem Bett liegende beschmutzte Halsbinde gesehen haben könnte:


    »Durch die Vorhänge muß Seine Durchlaucht unfehlbar den Fetzen gesehen haben«, versetzte er. Endlich bereisete er alle Plätze, wo Jenner gestanden hatte, und visierte nach der Lumpenbinde und untersuchte ihre Parallaxe.


    Komischer geht's nicht. :smile:


    Klaus

  • Mittlerweile bin ich im 9. Hundpoststück (habe anderes für Jean Paul zurückgelegt, weil er mich wie immer fasziniert). Jean Paul ist wie kein zweiter zugleich zynisch und zum-geht-nicht-mehr-romantisch und ich weiss nie, soll ich nun über die Zynismen Jean Pauls lachen, die er zum Amüsement des Lesers eingebaut hat oder über seine Sentimentalität, die genuin ist und gerade deshalb für uns Heutige komisch wirkt...

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  • Mir geht es ähnlich wie dir, klaus: Satirische Schärfe und überbordender Einfallsreichtum, das ist das, was JP auch heute noch unbedingt lesenswert macht, auch der tiefe idealische Skeptizismus, wenn ich das mal so nennen darf, aber der empfindsame Ton mutet heute doch komisch an. Das passt auch zu dem, was du gerade eben geschrieben hast, sandhofer.


    Bin nun im 7.Hundposttag: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Das liegt aber nicht am Roman, der macht Spaß, sondern an der unerwarteten beruflichen Belastung.


    Im vierten Hundposttag ist mir wieder aufgefallen, wie JP das Lächerlich-Niedrige mit dem Idealisch-Unendlichen kontrastiert, auch in der Personenkonstellation: Auf der einen Seite der adelsstolze und aalglatte Kammerherr und dessen verblühte, aber dennoch kokette Gattin sowie der intrigante Matthieu, andererseits Viktor, der scharfen Witz und Idealismus gleichzeitig besitzt, die ernsthafte und tugendhafte Klotilde sowie der abwesende, aber in seinem Brief und in den Gedanken der beiden sehr präsente Emanuel, der sich später als Viktors geliebter indischer Erzieher herausstellen wird, deshalb, klaus, bereitet wohl der Autor uns hier schon darauf vor, indem sich Viktor so schwärmerisch für den noch nie Gesehenen begeistert.
    Viktor sieht diesen Kontrast dann wiederum selbst und reflektiert ihn im übertragenen Sinne:


    [...]ein Jahrmarkt machte durch alle diese Erinnerungen an die große frostige Neujahrsmesse des Lebens Viktors edlen Busen schwer und voll; er versank süßbetäubt in das Getöse, und die Menschen-Reihen um ihn schlossen seine Seele in ihre stillern Phantasien ein.


    Sehr hübsch finde ich auch den Vertrag zwischen Autor und Leser über die Schalttage, wobei er hier, wie in vielen anderen Erzählerkommentaren aufs Kunstvollste Fiktion und ebenfalls fiktiv gestaltete Autorenrealität verwebt. Zwischen all diesen gebrochenen Erzählebenen bzw. Blickwinkeln fühlt man sich wie auf einer schwankenden Hängebrücke über einem Abgrund, dessen Tiefe man nur erahnt.

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  • Der dritte Schalttag bringt "echte" Aphorismen Jean Pauls (der auch oft Sätze schreibt, die man gern aus dem Zusammenhang reisst und als Quasi-Aphorismen zitiert).


    Zwei Dinge vergisset ein Mädchen am leichtesten, erstlich wie sie aussieht – daher die Spiegel erfunden wurden –, und zweitens, worin sich das von daß unterscheidet. Ich besorg' aber, daß sie den Unterschied, bloß um meinen Satz umzustoßen, von heute an behalten werden. Und dann geht mir einer von den beiden Probiersteinen verloren, an die ich bisher gelehrte Frauenzimmer strich – der zweite, den ich behalte, ist ihr linker Daumennagel, welchen das Federmesser zuweilen voll Narben geschnitten, aber selten, weil sie die Feder leichter führen als schneiden.


    Das und dass war also schon damals ein Problem...

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  • ... und das ganz gewiß zu gleichen Anteilen bei beiden Geschlechtern - wenn nicht noch schlimmer :cool:


    Das ist nur eine vergleichsweise harmlose misogyne Frotzelei, von denen es in den Hundposttagen nur so wimmelt. Seltsamerweise hatte der Hesperus aber gerade bei Frauen ganz besonderen Erfolg!


    Eine weitere Kostprobe?


    [quote= JP, Hesperus, 3.Hundposttag]Ein Bonmot ist ihnen [ den jungen Frauen] ein dictum probans, ein Pasquino ein magister sententiarum, und die kritische Lästergeschichte ist ihnen Kants Kritik der reinen Vernunft, die verbesserte Auflage.[/quote]

  • Das ist nur eine vergleichsweise harmlose misogyne Frotzelei, von denen es in den Hundposttagen nur so wimmelt. Seltsamerweise hatte der Hesperus aber gerade bei Frauen ganz besonderen Erfolg!


    Eine weitere Kostprobe?


    [quote= JP, Hesperus, 3.Hundposttag]Ein Bonmot ist ihnen [ den jungen Frauen] ein dictum probans, ein Pasquino ein magister sententiarum, und die kritische Lästergeschichte ist ihnen Kants Kritik der reinen Vernunft, die verbesserte Auflage.


    [/quote]


    Nun, das wundert mich auch. Mir stieß diese Stelle auf:



    Und vollends mit euch armen Weibern! Wüßtet ihr oder ich denn in eurem vernähten, verkochten, verwaschnen Leben oft, daß ihr eine Seele hättet, wenn ihr euch nicht damit verliebtet? Manche von euch brachte in langen Tränenjahren ihr Haupt nie empor als am sonnenhellen kurzen Tage der Liebe, und nach ihm sank das beraubte Herz wieder in die kühle Tiefe: so liegen die Wasserpflanzen das ganze Jahr ersäuft im Wasser, bloß zur Zeit ihrer Blüte und Liebe sitzen ihre heraufgestiegenen Blätter auf dem Wasser und sonnen sich herrlich und – fallen dann wieder hinab.


    Wenn das echtes Mitleid ist und nicht überhebliche Ironie, sollte es mich wundern.


    Überheblich ist JP nicht nur gegenüber den Frauen, sondern auch gegenüber den Philosophen, wohl gerade weil seine Romane und Erzählungen oft philosophisch orientiert sind:



    – Unsere innern Zustände können wir nicht philosophischer und klarer nachzeichnen als durch Metaphern, d. h. durch die Farben verwandter Zustände. Die engen Injurianten der Metaphern, die uns statt des Pinsels lieber die Reißkohle gäben, schreiben der Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeichnung zu; sie solltens aber bloß ihrer Unbekanntschaft mit dem Urbilde schuldgeben. Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens leichter in den geräumigen abgezognen Kunstwörtern der Philosophen – da die Worte, wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Unsichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren – als in den engen grünen Hülsen der Dichter. Von der Stoa und dem Portikus des Denkens muß man eine Aussicht haben in die epikurischen Gärten des Dichtens.


    Stecke jetzt mitten im 8. Hundposttag, hinke also hoffnungslos hinterher. Ich hoffe aber, morgen etwas mehr Lesezeit zu haben.

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  • Das ist nur eine vergleichsweise harmlose misogyne Frotzelei, von denen es in den Hundposttagen nur so wimmelt.


    Einerseits ist es das - Jean Paul weist des öftern nicht mehr als gewöhnliches Stammtisch-Niveau auf. Andererseits karikiert er hier einen Trend, eine Modeströmung seiner Zeit: Die zunehmende Zahl (Romane) schreibender Frauen, die gerade um jene Jahrhundertwende explosionsartig zunahm. Einige davon waren gar nicht schlecht, aber der rapide Zuwachs musste Staunen erregen: Ausser der Karschin und der Gottschedin gab es soo viele anerkannte Autorinnen vorher nicht, und auch unmittelbar nachher nicht. Da war Droste-Hülshoff schon ein Wundertier. Erst der in vielem mit der Romantik verwandte Expressionismus brachte wieder Frauen in die Literatur. (In England waren die Verhältnisse andere, in Frankreich ebenso.)


    Stecke jetzt mitten im 8. Hundposttag, hinke also hoffnungslos hinterher. Ich hoffe aber, morgen etwas mehr Lesezeit zu haben.


    Ich werde jetzt dann wieder bremsen und anderes lesen, keine Sorge. :winken:

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  • Nun bin ich immerhin in den elften Hundposttag vorgedrungen: Die Prinzessin ist angekommen, und aus diesem festlichen Anlass inszeniert der Erzähler eine Benefiz-Komödie, natürlich ausschließlich zu seinem eigenen Nutzen :zwinker::
    Wunderbar der erste Akt: Auftreten die feinen Möbel des Empfangs- und Übergabezimmers und wirken dem Anlass entsprechend gravitätisch.
    Unglaublich, dieser Einfallsreichtum, die ständigen Anbindungen an irgend etwas, was JP gelesen, gehört oder gesehen hat. Anscheinend landet fast alles, was er in seinen Zettelkästen aufbewahrt, auch irgendwann in seinen Werken. Dabei ist es wirklich nicht einfach, seinen Gedankensprüngen zu folgen, aber es lohnt sich: Dadurch bekommt man einen guten Blick auf das soziokulturelle Panorama seiner Zeit.

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  • Unglaublich, dieser Einfallsreichtum, die ständigen Anbindungen an irgend etwas, was JP gelesen, gehört oder gesehen hat. Anscheinend landet fast alles, was er in seinen Zettelkästen aufbewahrt, auch irgendwann in seinen Werken.


    Für mich ist JP wie eine Assoziationsmaschine. Nichts ist einfach was es ist, es gibt immer zu Vergleichen, Symbolisierungen und Assoziieren Anlaß. JP war ein wandelndes Internet, in dem es tausende Verknüpfungen (Links) gab, zwischen scheinbar Unverknüpftem. Ein schönes Beispiel ist der Anfang des 12. Hundposttages. Viktor ist unterwegs zur "Insel der Vereinigung", der Himmel ist bewölkt und Viktor hat seine "Polar-Phantasien": es gab die Vorstellung, dass am Pol das Wort im Winter gefriere und erst im Sommer wieder auftaue. Was JP daraus auf einer ganzen Seite folgert, gehört zum Witzigsten meiner bisherigen Lektüre. Da gibt es z.B. - an die schon erwähnte Misogynie anknüpfend - folgende herrliche Phantasie:


    – Aber, o ihr Heiligen, wenn ich am Pol – indes die Sonne im Steinbock wäre und mein Herz im Krebs – niederfiele vor der schönsten Frau und ihr die längste Nacht hindurch die heißesten Lieberklärungen täte, die aber in einer Drittels-Terzie Eis ansetzten und ihr gefroren, d.h. gar nicht zu Ohren kämen: was würd' ich im Sommer machen, wo ich schon kalt wäre und sie schon hätte, wenn gerade in der Stunde, wo ich mich tüchtig mit ihr zu zanken verhoffte, nun mitten unter dem Keifen meine Steinbocks-Lieberklärungen aufzutauen und zu reden anfingen? Ich würde gelassen nichts machen als die Regel: man sei zärtlich am Pol, aber erst im Widder oder Krebs.


    Also, ich bin jetzt mit dem ersten Heftlein(!) fertig, stehe also vor dem 16. Hundposttag und bin hin- und hergerissen: zwischen Bewunderung und Freude beim Lesen solcher Stellen, und arger Langeweile bei langen gefühlsbetonten Passagen, in deren Überschwang ich mich nicht hineinzuversetzen vermag. Ich werde langsam weiterlesen ...

  • Ich ertappe mich, offen gesagt, dabei, dass mich die Story gar nicht interessiert, sondern nur Jean Paul Satzbau und seine Digressionen...


    (Die Stories sind, m.M.n., bei Jean Paul sowieso immer recht hanebüchen und die Story-Line inkonsequent...)

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