Hallo Gontscharow und montaigne!
Ich habe erst gut hundert Seiten gelesen, aber ich bin ja auch kein Stopfkuchen, sondern eine Genießerin, die die guten literarischen Bissen langsam und mit Bedacht kaut und verdaut :zwinker: (wobei unser Stopfkuchen auch wieder Recht hat, wenn er sich das Beste nicht mehr bis zum Schluss aufhebt, weil er sich nicht darauf verlassen kann, noch Zeit zu haben). Dass sich die Geschichte trotz ihrer komplexen, wahrscheinlich erst nach mehrmaligen Lesen ganz durchschaubaren Erzählstruktur so leicht und unterhaltsam liest, zeigt das Können Raabes und lässt wieder mal erahnen, wie viel Arbeit hinter solch scheinbarer Mühelosigkeit steckt.
Raffiniert ist schon, dass der Roman zwei Erzähler hat, auf verschiedenen Erzählebenen, da die Person Stopfkuchens dem Leser nur durch die Erinnerung Eduards vermittelt wird. Schlägt schon Eduard ein langsames Erzähltempo an, übertrifft Stopfkuchen ihn an Gemächlichkeit bei weitem. Diese Weitschweifigkeit, das behagliche Ausholen und Nicht-zur-Sache-Kommen mag ich sehr. Gerade in der scheinbaren Umständlichkeit des Erzählens stecken die Details, all die kleinen Beobachtungen, Gedanken und Einsichten, die für mich den eigentlichen Reiz des Romans ausmachen. Der behagliche Plauderton, der humane Blick auf die Welt und der Humor erinnern mich an Fontane, nur scheint mir Raabes Ironie etwas schärfer zu sein. Es finden sich immer wieder kleine Seitenhiebe auf den deutschen Bürger (samt seiner „germanischen Verwandtschaft“), der, so gebildet und weitgereist er auch ist, nicht unbedingt weniger provinziell und beschränkt erscheint als die Kaffern und Buren im finsteren Afrika.
Ebenfalls gut gemacht ist die Einführung der Hauptperson in die Handlung. Zunächst erfährt man von Stopfkuchen nicht viel, außer dass er ein fauler, gefräßiger, von allen belächelter Schulversager und Außenseiter ist. Als er in den Jugenderinnerungen Eduards dann zum ersten Mal persönlich in Erscheinung tritt, bietet er jedoch ein ganz anderes Bild, nämlich das eines klugen, ironischen Menschenkenners, der weitaus erwachsener und souveräner wirkt als Eduard. Es ist gerade der Moment, in dem Eduard zum ersten Mal dämmert, dass er den Schulfreund nicht wirklich kennt oder besser gesagt, dass er ihn bisher verkannt hat, er und mit ihm die ganze Welt, sprich Lehrer, Mitschüler und Einwohner der Stadt Maiholzen.
„Stopfkuchen“ funktioniert auch als Kriminalroman, denn Raabe erzeugt durch die ständigen Hinweise auf Kienbaum durchaus Spannung und Neugierde. Man fragt sich natürlich, was es mit dem Mann auf sich hat, wer sein Mörder ist und warum er umgebracht wurde. Andererseits hat man es mit Aufklärung des Falles genau so wenig eilig wie Stopfkuchen, so amüsant, ironisch und tiefsinnig sind dessen Ausführungen. Ach, wären doch nur alle Krimis so! :smile:
Bei uns war Stopfkuchen der schmuck-und geschmacklose Blechkuchen, mit dem die Mäuler allzu vieler Gäste und Mitesser gestopft wurden, auch "Beerdigungskuchen"genannt. Und so ungefähr stellte ich mir auch den Genuss bei der Raabe-Lektüre vor.
Wie der schlichte Blechkuchen heute mein Gefallen findet, so hat auch die Lektüre von Stopfkuchen natürlich alle negativen Erwartungen von damals zerstreut.
Den Begriff "Stopfkuchen" kenne ich gar nicht, aber natürlich den Blechkuchen. Es geht mir wie Dir: Als Kind fand ich ihn langweilig, heute schätze ich ihn sehr. Leider ist er aus der Mode gekommen, und man muss tatsächlich auf die nächste Beerdigung warten, um mal wieder in seinen Genuss zu gelangen.
Gruß
Anna