Hallo miteinander!
Ich bin noch nicht ganz soweit wie Ihr und hoffe, es stört Euch nicht, wenn ich meine Leseeindrücke nachreiche.
Nach dem etwas ernsthafteren dritten Teil tritt im vierten Abschnitt zunächst das Humoristische wieder stark in den Vordergrund. Doderer kann beides: psychologische Vorgänge sehr subtil und geduldig nachzeichnen, aber auch auf kurze, knappe und ironische Weise, sozusagen schlaglichtartig, das Wesen einer Person oder die Art von Beziehung, die zwischen zwei Menschen besteht, erhellen (wie zum Beispiel das Verhältnis der Schwestern Pastré zueinander oder das von Mimi zu Eulenfeld). Ich bewundere auch immer wieder, wie geschickt er die Bilder wählt, mit denen er schwer zu fassende psychologische Abläufe beschreibt. Es ist fast so, als gäbe es zu jeder inneren Regung ein Pendant in der Außenwelt, als wäre jedem inneren Vorgang ein äußerer zugeordnet. Deswegen wirken Doderers Metaphern auf mich immer sehr passend und trotz ihrer Ungewöhnlichkeit fast selbstverständlich, als könne nur dieses Bild und kein anderes an dieser Stelle stehen.
Wenn man sich Doderers Kenntnis der menschlichen Natur vor Augen führt und seine Fähigkeit, das, was in Menschen vorgeht, bis in die kleinste Nuance beschreiben zu können, wenn man sieht, dass er seine Figuren zwar mit Ironie, aber auch mit Sympathie behandelt (ich habe das Gefühl, dass Doderer mit seinem 1951 erschienen Buch geradezu zur Ehrenrettung des Menschen - vielleicht auch zu seiner eigenen? - angetreten ist), dann frage ich mich, wieso jemand wie er Mitglied der NSDAP und Antisemit, wenn auch kein ausgeprägter, sein konnte. Das gleiche gilt für Knut Hamsun. Dessen Romanfiguren haben zwar fast alle schon etwas Amoralisches an sich, aber auch er konnte Seelenregungen sehr sensibel und präzise darstellen, auch er hatte einen genauen und verständnisvollen Blick für die Schwächen und Eigenarten der Menschen. Natürlich muss ein guter Schriftsteller nicht automatisch auch ein guter Mensch sein, aber mir bleibt es trotzdem ein Rätsel. Doderer würde sich vermutlich auf die „innere Mechanik“ herausreden.
Doderer kommt nicht zum Punkt und erzählt von allem anderen (über die Hausmeister musste ich lachen!) nur nicht über das, was man erwarten würde. Dieses Hin und Her finde ich außerordentlich interessant und ja, irgendwann kommt es bestimmt noch raus, und wenns bloß in einem Halbsatz ist.
Dieses „Nicht auf den Punkt Kommen“ ist bei Doderer Programm und gefällt mir ganz besonders gut. Das Leben kommt schließlich auch nie auf den Punkt. :breitgrins: Man ahnt zwar, dass diese Tabakschmuggelgeschichte noch Folgen hat, schließlich sind neben den Pastrè-Zwillingen auch noch Melzer und Thea Rokitzer darin verwickelt, aber bis dahin lässt Doderer sich Zeit, macht einige Bemerkungen zum Thema Fotografie und Künstlertum, spricht über das Rauchen und Trinken und beschreibt den Zihalismus in der Tabakregie. Diese Abschweifungen auf Nebengeleise, die Verzettelung mit scheinbaren Bagatellen bereichern die Lektüre sehr.
Jetzt fällt mir auch auf, dass direkt vom 1. Weltkrieg nicht gesprochen wird, überhaupt das Politische weitgehend ausgeklammert bleibt. Nur indirekt nimmt man als Leser die Zeit wahr, z.B. durch die Tabakaktion.
Obwohl sie von den beiden Erzählzeiträumen des Romans eingerahmt werden, sind diese beiden einschneidenden Ereignisse 1.Weltkrieg und Zusammenbruch der Monarchie tatsächlich kein Thema und werden immer nur beiläufig erwähnt. Sie haben auch keinen nennenswerten Einfluss auf das Leben der Romanfiguren, das nach dem Krieg mehr oder weniger genauso weiter geht wie vorher. Dass Doderer die Kriegsereignisse und den politisch-gesellschaftlichen Wandel ausspart, liegt vermutlich daran, dass er das Leben als überwiegend episch, nicht als dramatisch darstellen wollte. Der tägliche Lebensfluss mit all seinem Kleinkram, seinen Banalitäten und Unwägbarkeiten interessierte ihn, der das Dasein der Menschen bestimmende Alltag, nicht die Kriegserlebnisse Melzers und René Stangelers, die zu starke dramatische Akzente gesetzt hätten, wenn er sie beschrieben hätte.
Wahre Liebe und Etelka. Eigentlich hier das gleiche Bild bei Etelka wie bei Melzer --> man muss einen Grad der Reife mit sich bringen um den eigenen Weg zu finden.
Reife im Sinne Doderers als Menschwerdung durch Apperzeption. Die Wirklichkeit zu erfassen, wie sie ist, und zu ihrem eigenem Leben zu finden, ist Etelka Stangeler nie gelungen. Sie hat ihre Trópoi nicht befahren, sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt, sie war übrigens auch nie auf der Strudlhofstiege. Von Anfang an hat sie in einer Scheinwelt gelebt. Aus einer Art inneren Leere heraus, aus Lebenslangeweile, auch als Reaktion auf den Vater, unter dem sie mehr noch als ihre Geschwister litt, hat sie immer nur nach der Sensation gesucht, nach dem Erlebnis einer großen, einzigartigen, absoluten Liebe, die es nicht gibt. Es ging immer nur um ihre Liebesaffären, sie hat nie zu ihrer eigenen Person, zu ihren Qualitäten gefunden. Ihre Liebe zu Imre von G. scheitert auch nicht an den Konventionen, sondern an Imres Schwäche. Aber selbst wenn es ein „Happy End“ für die beiden gegeben hätte, wie hätte diese Liebe den hohen Anforderungen Etelkas an sie jemals im Alltag standhalten können?
In den nächsten Tagen werde ich das Buch auch durchgelesen haben. Schade!
Gruß
Anna