Wilhelm Raabe: Stopfkuchen


  • Leider habe ich nach mehr als einmonatiger Abwesenheit so viel um die Ohren, dass ich mich noch nicht an der begonnenen Lesung beteiligen kann.
    Ich wünsche allen viel Lesevergnügen und neue Erkenntnisse!


    Viele Grüße


    Karamzin

  • Inzwischen habe ich die ersten Seiten gelesen. Mein erster Eindruck ist, dass der Erzähler sehr ausführlich berichtet, das Ganze wirkt auf mich, im Vergleich mit Fontane, alles andere als modern. Das ist aber noch keine diskussionswürdige Aussage, sondern nur ein erster Eindruck, der sich auf den nächsten Seiten noch sehr ändern kann.


    Mein zweiter Eindruck ist, dass sich Raabes Realismus weniger dem Poetischen Realismus, als vielmehr dem Naturalismus verpflichtet fühlt. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.


    Im übrigen lese ich das Reclambüchlein, das aber einen ordentlichen Anhang mit Anmerkungen und Nachwort enthält. Die Anmerkungen sind für mich ausreichend, jedenfalls habe ich bis jetzt noch nichts googlen müssen.


    Grüsse
    montaigne

  • Hallo zusammen!

    Wenn ich kurz darf:

    Mein erster Eindruck ist, dass der Erzähler sehr ausführlich berichtet, das Ganze wirkt auf mich, im Vergleich mit Fontane, alles andere als modern.



    Raabe ist, wenn ich das so sagen darf, wohl eher "postmodern". Ein Umberto Eco steht Raabes Romanen näher als denen Fontanes.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Inzwischen habe ich die ersten Seiten gelesen. Mein erster Eindruck ist, dass der Erzähler sehr ausführlich berichtet, das Ganze wirkt auf mich, im Vergleich mit Fontane, alles andere als modern.


    Wo hätte Fontane (oder ein anderer Zeitgenosse Raabes) einen Ich-Erzähler eingesetzt, dessen Ich sich bereits im ersten Satz als in den Grundfesten erschüttert präsentiert? Der sich selbst erzählen muss, um zu beweisen (wem eigentlich? doch nur sich selbst), dass er noch "zu den Gebildeteten [sich] zählen darf"? Also im Prozess des Erzählens nicht nur versucht, sich das "objektiv" Erlebte in Erinnerung zu rufen, um es im Akt des Erzählens sich strukturierend anzueignen bzw. den eigene Verstehensstrukturen anzupassen, sondern das sich selbst im Erzählen überhaupt erst wieder konstruiert?


    Dieses erzählende Ich im Stopfkuchen ist ganz entschieden modern. Und moderner als 99% dessen, was heutige Autoren in Buchform bringen - die fallen allesamt noch hinter Fontane zurück.


    Zitat

    als vielmehr dem Naturalismus verpflichtet fühlt. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.


    aber ich ;-). Also nicht gegen den Naturalismus, aber gegen den Eindruck, Stopfkuchen wäre ein naturalistischer Roman ;-). Das ist ein hoch komplexes Spiel mit Perspektiven und verschiedenen individuellen Weltwahrnehmungen - dem Ich Eduards wird das Ich Schaumanns gegenüber gestellt, wobei wir Schaumanns Ich nur in der Brechung der Erzählung Eduards kennen lernen, und zwar als das für Eduard schlechthin Inkomensurable. Oder so 8-).

  • Hallo!


    @ Gontscharow, schön, dass Du mitmachst. Ich habe eben die ersten vierzig Seiten des Romans gelesen und ärgere mich, dass ich Raabe erst jetzt kennengelernt habe. Dabei stamme ich wie er aus Niedersachsen. Aber an den Schulen ist sein Name nicht mal erwähnt worden, jedenfalls nicht zu meiner Zeit, und auch während meines Germanistikstudiums in Würzburg habe ich nie etwas von seinen Werken gehört. Ich habe immer geglaubt, dass er ein verzopfter niedersächsischer Heimatdichter sei, so etwas wie der Heidedichter Hermann Löns. Man gut, dass es das Klassikerforum gibt, das einem hilft, die gröbsten Bildungslücken zu schließen. :zwinker: Morgen dann mehr zu dem Roman, jetzt bin ich leider zu müde.


    Gruß
    Anna

  • Hallo Anna, hallo Gontscharow,


    es freut mich sehr, dass ihr zwei bei der gemeinsamen Leserunde zu Raabe dabei seid, das scheint mir noch eine ganz interessante Runde zu werden. Es ist schon erstaunlich, dass dieser Autor gerade dabei ist vergessen zu werden. Ein erster Hinweis dazu ist ja, dass seine Werke im Moment nur bei Reclam zu haben sind. Andererseits scheint er ja wieder beim Germanistikstudium gelesen zu werden (siehe Fräulein_Bürstner).


    Grüße


    montaigne


  • Raabe ist, wenn ich das so sagen darf, wohl eher "postmodern". Ein Umberto Eco steht Raabes Romanen näher als denen Fontanes.


    Hallo sandhofer,


    ich will dir da gar nicht widersprechen. Trotzdem, im Zusammenhang mit anderen Statements von dir, erschließen sich deine Argumentationsreihen sich mir oft nur schwer, wenn überhaupt.


    Ich habe es, glaube ich, schon ein paarmal hier gesagt, dass ich den Semiotiker Eco sehr schätze, den Romancier hingegen gar nicht.



    Stopfkuchen ist für mich eines der grossen Leseerlebnisse überhaupt. Vielleicht sogar der beste deutschsprachige Roman. :zwinker: Jedenfalls habe ich selten einen Roman gelesen, der so präzise und ins Detail konstruiert worden ist, ohne dass man ihm diese Mühe anmerkt.


  • Das ist ein hoch komplexes Spiel mit Perspektiven und verschiedenen individuellen Weltwahrnehmungen - dem Ich Eduards wird das Ich Schaumanns gegenüber gestellt, wobei wir Schaumanns Ich nur in der Brechung der Erzählung Eduards kennen lernen, und zwar als das für Eduard schlechthin Inkomensurable. Oder so 8-).


    Hallo Giesbert,


    hast du dir dieses Urteil gebildet nachdem du den ganzen Roman gelesen hattest, oder nach den ersten 7 Seiten? . Soviel hatte ich gerade gelesen, als ich meinen Beitrag schrieb und auch darauf hingewiesen (erster Eindruck nach den allerersten Seiten!)


    Gruß
    montaigne

  • Hallo sandhofer,


    ich will dir da gar nicht widersprechen. Trotzdem, im Zusammenhang mit anderen Statements von dir, erschließen sich deine Argumentationsreihen sich mir oft nur schwer, wenn überhaupt.



    Ich mag Eco nicht, weil man ihm die Mühe seiner Konstruktion anmerkt. Man sieht, wo der Zirkel des Romankonstrukteurs seine Löcher hinterlassen hat. Ähnlich positives Lob ist schon bei "Bleak House" geäussert worden. Wenn kein Wort, keine Geste zu viel ist, und alles später wieder verwendet wird vom Autor - ohne dass der Autor mir das jedesmal unter die Nase reibt.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Ich habe eben .... und ärgere mich, dass ich Raabe erst jetzt kennengelernt habe.


    So geht es mir auch.



    ...an den Schulen ist sein Name nicht mal erwähnt worden, jedenfalls nicht zu meiner Zeit, . Ich habe immer geglaubt, dass er ein verzopfter niedersächsischer Heimatdichter sei, so etwas wie der Heidedichter Hermann Löns.


    Ja, so in etwa war es auch bei mir. "Stopfkuchen" stand als dünnes farbloses rororo- Bändchen in der Bibliothek meines Vaters (wo ist es jetzt?) und machte so gar nicht Lust aufs Lesen. Allein der Titel! Bei uns war Stopfkuchen der schmuck-und geschmacklose Blechkuchen, mit dem die Mäuler allzu vieler Gäste und Mitesser gestopft wurden, auch "Beerdigungskuchen"genannt. Und so ungefähr stellte ich mir auch den Genuss bei der Raabe-Lektüre vor.
    Wie der schlichte Blechkuchen heute mein Gefallen findet, so hat auch die Lektüre von Stopfkuchen natürlich alle negativen Erwartungen von damals zerstreut.
    Ich sage es lieber gleich: Ich habe den Roman schon zuende gelesen. Er ist ja man kurz(nordd.) und war einfach zu spannend. Ich verrate glaube ich nichts, wenn ich darauf hinweise, dass es im Stopfkuchen auch um einen Kriminalfall geht. Warum habe ich mich zwischendurch nicht mit einem Statement gemeldet? Ich hätte nur widerkäuen können, was Gisbert schon so unvergleichlich elegant formuliert und sandhofer angedeutet hat. Nämlich dass hier ein scheinbar mühelos, aber raffiniert konstruierter mit verschiedenen Perspektiven spielender Text vorliegt, dass hier ein Ich-Erzähler schreibend um Verstehen ringt... Vielleicht sollte über Dinge, die andere an einem Text noch entdecken wollen, doch nicht so detailliert und dezidiert im vorhinein geschrieben werden.
    Um nicht in denselben Fehler zu verfallen, halte ich mich erstmal mit weiteren Äußerungen zurück. Nur einiges wenige, das ich mir nicht verkneifen kann: Da gleich zu Anfang das Stichwort 'Naturalismus' fiel: Ich finde, im Stopfkuchen gibt es märchen- bzw. parabelhafte Züge...Und: Ich bin begeistert von der Sprache, von der Skurrilität, dem Humor, dem Satirischen (z. B. wenn Schule als „Bildungspferch“bezeichnet wird) ...

  • Hallo Gontscharow und montaigne!


    Ich habe erst gut hundert Seiten gelesen, aber ich bin ja auch kein Stopfkuchen, sondern eine Genießerin, die die guten literarischen Bissen langsam und mit Bedacht kaut und verdaut :zwinker: (wobei unser Stopfkuchen auch wieder Recht hat, wenn er sich das Beste nicht mehr bis zum Schluss aufhebt, weil er sich nicht darauf verlassen kann, noch Zeit zu haben). Dass sich die Geschichte trotz ihrer komplexen, wahrscheinlich erst nach mehrmaligen Lesen ganz durchschaubaren Erzählstruktur so leicht und unterhaltsam liest, zeigt das Können Raabes und lässt wieder mal erahnen, wie viel Arbeit hinter solch scheinbarer Mühelosigkeit steckt.


    Raffiniert ist schon, dass der Roman zwei Erzähler hat, auf verschiedenen Erzählebenen, da die Person Stopfkuchens dem Leser nur durch die Erinnerung Eduards vermittelt wird. Schlägt schon Eduard ein langsames Erzähltempo an, übertrifft Stopfkuchen ihn an Gemächlichkeit bei weitem. Diese Weitschweifigkeit, das behagliche Ausholen und Nicht-zur-Sache-Kommen mag ich sehr. Gerade in der scheinbaren Umständlichkeit des Erzählens stecken die Details, all die kleinen Beobachtungen, Gedanken und Einsichten, die für mich den eigentlichen Reiz des Romans ausmachen. Der behagliche Plauderton, der humane Blick auf die Welt und der Humor erinnern mich an Fontane, nur scheint mir Raabes Ironie etwas schärfer zu sein. Es finden sich immer wieder kleine Seitenhiebe auf den deutschen Bürger (samt seiner „germanischen Verwandtschaft“), der, so gebildet und weitgereist er auch ist, nicht unbedingt weniger provinziell und beschränkt erscheint als die Kaffern und Buren im finsteren Afrika.


    Ebenfalls gut gemacht ist die Einführung der Hauptperson in die Handlung. Zunächst erfährt man von Stopfkuchen nicht viel, außer dass er ein fauler, gefräßiger, von allen belächelter Schulversager und Außenseiter ist. Als er in den Jugenderinnerungen Eduards dann zum ersten Mal persönlich in Erscheinung tritt, bietet er jedoch ein ganz anderes Bild, nämlich das eines klugen, ironischen Menschenkenners, der weitaus erwachsener und souveräner wirkt als Eduard. Es ist gerade der Moment, in dem Eduard zum ersten Mal dämmert, dass er den Schulfreund nicht wirklich kennt oder besser gesagt, dass er ihn bisher verkannt hat, er und mit ihm die ganze Welt, sprich Lehrer, Mitschüler und Einwohner der Stadt Maiholzen.


    „Stopfkuchen“ funktioniert auch als Kriminalroman, denn Raabe erzeugt durch die ständigen Hinweise auf Kienbaum durchaus Spannung und Neugierde. Man fragt sich natürlich, was es mit dem Mann auf sich hat, wer sein Mörder ist und warum er umgebracht wurde. Andererseits hat man es mit Aufklärung des Falles genau so wenig eilig wie Stopfkuchen, so amüsant, ironisch und tiefsinnig sind dessen Ausführungen. Ach, wären doch nur alle Krimis so! :smile:




    Bei uns war Stopfkuchen der schmuck-und geschmacklose Blechkuchen, mit dem die Mäuler allzu vieler Gäste und Mitesser gestopft wurden, auch "Beerdigungskuchen"genannt. Und so ungefähr stellte ich mir auch den Genuss bei der Raabe-Lektüre vor.
    Wie der schlichte Blechkuchen heute mein Gefallen findet, so hat auch die Lektüre von Stopfkuchen natürlich alle negativen Erwartungen von damals zerstreut.


    Den Begriff "Stopfkuchen" kenne ich gar nicht, aber natürlich den Blechkuchen. Es geht mir wie Dir: Als Kind fand ich ihn langweilig, heute schätze ich ihn sehr. Leider ist er aus der Mode gekommen, und man muss tatsächlich auf die nächste Beerdigung warten, um mal wieder in seinen Genuss zu gelangen.


    Gruß
    Anna

  • Ach ja, anna, schön, Deine Ausführungen zum Stopfkuchen. Wie wir das von dir gewohnt sind: treffend, fundiert , aber mit leichter Feder!


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    ….erst nach mehrmaligen Lesen ganz durchschaubare(n) Erzählstruktur…


    Wenn du die ersten hundert Seiten gelesen hast, und du ja wahrscheinlich auch, montaigne, greife ich nicht vor, wenn ich folgende selbstreferentielle Äußerung Eduards zitiere:


    Zitat von Raabe: Stopfkuchen

    Da sitzt ein sonderbarer Herr auf dem guten Schiff „Hagebucher“ und sonderbar ist’s von ihm im hohen Grade, grade auf dem hohen Meer den Versuch zu wiederholen, das Leben mit einem Fingerhut ausschöpfen zu wollen!...


    Das umreißt ziemlich genau die Erzählsituation: Eduard versucht auf seiner Heimreise nach Südafrika das aufzuschreiben und zu verstehen, was er bei seinem Besuch in seiner Heimatstadt erlebt und erfahren hat, um zu Hause, wie er an anderer Stelle sagt, in Ruhe weiter darüber nachdenken zu können. In erster Linie ist es natürlich das, was er im Laufe eines Tages beim Schulkameraden Stopfkuchen erlebt und was dieser von sich, seiner Frau, seinem Schwiegervater und der roten Schanze etc erzählt hat, wobei dem Leser allmählich schwant, welche Bedeutung das ganze für ihn, den Ich-Erzähler, hat und was es ihm über das Leben allgemein sagt, denn nicht ohne Grund kommt Eduard das Niederschreiben des Erlebten wie ein erneutes „Leben- ausschöpfen- wollen“ vor.


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    … dass der Roman zwei Erzähler hat…


    Wenn schon die erzählenden Personen innerhalb der Ich-Erzählung als Erzähler mitgezählt werden :zwinker:, dann sind es vier und nicht zwei, denn neben Stopfkuchen kommt auch seine Frau zu Wort und erzählt aus ihrer Sicht und später noch ein vierter wichtiger Beteiligter an der Geschichte, dessen ausführliche Erzählung allerdings wiederum von Stopfkuchen referiert wird (also eine Erzählung in der Erzählung in der Erzählung). Diese in einander verschachtelten Erzählungen werden von der Rahmenerzählung (Heimreise Eduards nach Südafrika) wie von einer Nussschale umschlossen. Es wird quasi gleichzeitig in zwei Richtungen erzählt: In der Rahmenerzählung vom zentralen Geschehen und seinem Ort weg, wenn auch im Reiseverlauf immer wieder Entsprechungen (ein Brand, ein Unwetter etc ) Verbindung zur eigentlichen Erzählung herstellen, und in der Binnenerzählung wird quasi in konzentrischen Kreisen zum Kern hin erzählt… Im ganzen eine wunderbar mit dem Inhalt harmonierende in sich geschlossene Form.


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    …der humane Blick auf die Welt und der Humor erinnern mich an Fontane, nur scheint mir Raabes Ironie etwas schärfer zu sein….


    Ja, Raabes Ironie und Humor gefallen mir auch sehr. Sein „humaner Blick auf die Welt“ drückt sich mMn besonders darin aus, dass der ehemals ausgegrenzte, tolpatschige Schulversager sich als umsichtig, selbstbewußt und tatkräftig entpuppt und an seinem Wirkungsort an Fähigkeiten dem Erfolgsmenschen Eduard, der sich in der weiten Welt bewährt und ein Vermögen erworben hat, zu dessen großer Verwunderung in nichts nachsteht…. So ähnlich wie die Verwandlung, die sein Aschenputtel Valentine durchgemacht hat …


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    „Stopfkuchen“ funktioniert auch als Kriminalroman


    Wobei Raabe auch hier souverän und ironisch mit dem Genre spielt, indem er suspense nicht durch krampfhafte pseudowahrscheinliche Zufälle herstellt, die die Auflösung verzögern, sondern indem er Stopfkuchen, als er gedrängt wird, nun endlich mit dem Täter rauszurücken, ganz direkt mehrere Male sinngemäß sagen lässt: Lasst uns erstmal mit der Idylle fortfahren! Was er dann auch tut.


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    Den Begriff "Stopfkuchen" kenne ich gar nicht, aber natürlich den Blechkuchen.


    Neige inzwischen zu der Ansicht, dass das doch eher ein familienspezifischer Begriff ist. Bin zwar im tiefsten Niedersachsen aufgewachsen, aber der soundtrack meiner Kinheit und frühen Jugend war durchsetzt vom ostpreußischen bzw. Danziger Idiom meiner Großmutter und meiner Eltern. Es kann gut sein, dass das ein osteuropäischer Ausdruck für besagten Kuchen ist. Oder aber es hat mit Raabe zu tun und war ein Scherzwort meiner Eltern. Meine Schwester hab ich mal ganz unvoreingenommen nach ihren Assoziationen befragt. Ihr fiel auch gleich der Backblechkuchen ein. An das Buch konnte sie sich nicht erinnern. Sie meinte aber auch, es sei ein nur in unserer Familie gängiger Begriff. :elch:

  • Neige inzwischen zu der Ansicht, dass das doch eher ein familienspezifischer Begriff ist. Bin zwar im tiefsten Niedersachsen aufgewachsen, aber der soundtrack meiner Kinheit und frühen Jugend war durchsetzt vom ostpreußischen bzw. Danziger Idiom meiner Großmutter und meiner Eltern. Es kann gut sein, dass das ein osteuropäischer Ausdruck für besagten Kuchen ist. Oder aber es hat mit Raabe zu tun und war ein Scherzwort meiner Eltern. Meine Schwester hab ich mal ganz unvoreingenommen nach ihren Assoziationen befragt. Ihr fiel auch gleich der Backblechkuchen ein. An das Buch konnte sie sich nicht erinnern. Sie meinte aber auch, es sei ein nur in unserer Familie gängiger Begriff. :elch:


    Einerseits gibt es den klassischen Wiener Stopfkuchen, wie er auch heute noch in dem einen oder anderen Wiener Kaffeehaus zu bekommen ist. Laut Originalrezept von 1873 braucht man 3 Tassen Mehl, 2 Tassen Zucker, 1 Tasse Öl, 1 Tasse Milch, 3 Eier, Backpulver, Vanillezucker und Obst nach Belieben. Backofen auf 180 Grad vorheizen, Teig in die Form stopfen, also nicht rühren, sondern in die Form kneten. Es soll der Lieblingskuchen von Kaiser Franz Joseph I. gewesen sein.
    Raabe spielt aber bei Schaumanns Spitznamen auf eine andere Art von Stopfkuchen an: vgl. Grimm: Band 19, S.331. Reststück vom Kuchenteig, in welches die übrig gebliebenen Rosinen, die übrig gebliebene Butter und der restliche Zucker gestopft werden. Dies korrespondiert auch mit der Romanzeile: „Eduard, solltest du das dir als den besten Bissen vom Kuchen bis zuletzt aufgehoben haben?“

  • Wow! Klingt verlockend. Das Rezept für den Wiener Stopfkuchen werde ich vielleicht mal ausprobieren. Natürlich meinte ich nicht, dass meine Version für den Spitznamen Pate gestanden hat; ich wollte nur meine negativen Assoziationen schildern, die der Titel bei mir als Kind/ Jugendliche ausgelöst hat. Bin völlig mit dir einer Meinung, dass Raabe auf den Teil des Kuchens anspielt, in den die überschüssigen Zutaten gestopft werden. Das passt ja einfach herrlich: Der eher pejorative Name für etwas, was sich als bestes Stück herausstellt. Wie bei Schaumann, dessen „innere Werte“ zunächst nicht erkannt werden und der dann seine Umwelt in Staunen versetzt…

  • Wenn schon die erzählenden Personen innerhalb der Ich-Erzählung als Erzähler mitgezählt werden :zwinker:, dann sind es vier und nicht zwei, denn neben Stopfkuchen kommt auch seine Frau zu Wort und erzählt aus ihrer Sicht und später noch ein vierter wichtiger Beteiligter an der Geschichte, dessen ausführliche Erzählung allerdings wiederum von Stopfkuchen referiert wird (also eine Erzählung in der Erzählung in der Erzählung). Diese in einander verschachtelten Erzählungen werden von der Rahmenerzählung (Heimreise Eduards nach Südafrika) wie von einer Nussschale umschlossen. Es wird quasi gleichzeitig in zwei Richtungen erzählt: In der Rahmenerzählung vom zentralen Geschehen und seinem Ort weg, wenn auch im Reiseverlauf immer wieder Entsprechungen (ein Brand, ein Unwetter etc ) Verbindung zur eigentlichen Erzählung herstellen, und in der Binnenerzählung wird quasi in konzentrischen Kreisen zum Kern hin erzählt… Im ganzen eine wunderbar mit dem Inhalt harmonierende in sich geschlossene Form.


    Genau so ist es. Vier Erzähler auf drei Erzählebenen. Man könnte das grob vereinfacht so darstellen:



    1. Erzählebene:2. Erzählebene: 3. Erzählebene:
    Seegeschichte Eduard
    Kindheit Heinrichs Eduard Heinrich
    Kindheit Tines Eduard Tine
    Mordgeschichte Eduard Heinrich Täter lt. Heinrich



    Mir ist aufgefallen, dass das die gleiche Erzählstruktur ist, wie in dem 40 Jahre früher erschienenen Roman Wuthering Heights von Emily Brontë:


    http://www.klassikerforum.de/i…21.msg49395.html#msg49395

  • Hallo zusammen,


    ein Grund, warum ich den Stopfkuchen jetzt gelesen habe, war ja, weil ich sehen wollte, was so ca. zeitgleich mit Fontanes Roman Stine veröffentlicht wurde. Wenn ich jetzt mal die beiden Frauen vergleiche, so haben wir auf der einen Seite bei Raabe, Tine, die zusammen mit ihrem Mann, auf den ersten Blick eine glückliche Ehe führt. Bei genauerem Hinsehen merkt man aber, dass Tine von ihrem Heinrich, dem Eroberer der roten Schanze ziemlich unterdrückt wird. Viele Beispiele könnte man dafür anführen. Ich will es bei einem belassen:
    Tine will mit Heinrich und Eduard in die Stadt: „Nicht wahr, du nimmst mich mit dir in die Stadt?“
    Heinrich: „ Hm, hm, wenn deine Küche ......
    Tine: „Ich bleibe zu Hause und warte wieder auf dich, Heinrich.“


    Auf der anderen Seite haben wir bei Fontane, Stine: eine selbstbewusste junge Frau, die es sogar wagt, dem jungen Grafen von Haldern ihre Zusage zur Hochzeit zu verwehren.


    Ich frage mich gerade, wer von den beiden, Raabe oder Fontane, das modernere Frauenbild zeichnet? Was meint ihr?


    Gruß


    montaigne


  • Ich fürchte, dazu kann ich nichts beitragen. Die Lektüre von Stine liegt zu weit zurück, als dass ich in Details gehen könnte. Zudem scheint mir ein Vergleich schwierig, weil die beiden Frauen sich in völlig unterschiedlichen Situationen befinden. In der Beziehung der kleinbürgerlich/proletarischen Stine mit dem Grafen Soundso geht der Riss der Gesellschaft, wie gern bei Fontane, mitten durch die Beziehung, warum sie dann ja auch letztlich scheitert. Während die ehemaligen underdogsTine und ihr Stopf eine ver-und eingeschworene Gemeinschaft gegen die (Dorf)gesellschaft bilden, der sie auf wunderbare Weise Achtung abgeringen und an der sie schließlich teilhaben können, so daß sie sich nicht länger im schützenden "Kasten"der Arche verschanzen müssen. Sie haben sich gegenseitig gerettet, erlöst. Die Beziehung der ehemaligen „Wildkatze“ und des "dicken Nestlings" ist getragen von gegenseitiger Liebe, Solidarität und Dankbarkeit, denn beide waren ähnlich bedürftig und haben zu gleichen Teilen das Ihre zur gemeinsamen Existenz beigetragen. Eduard sagt dann ja auch zu Valentine :


    Zitat von Raabe

    Daß ihr zwei das glücklichste Ehepaar seid, das sich je zueinander gefunden und ineinander hineingelebt hat!


    Ineinander hineingelebt ist es nicht wieder schön gesagt? Schaumann unterdrückt seine Frau nicht. Höchstens durch zuviel Fürsorge. Bei der Stelle , die du zitierst, geht es darum, dass er verhindern möchte, dass seine Frau mit in die Stadt kommt, weil er sie schützen will. Sie weiß, er hat gute Gründe, und gibt nach. Er hat nämlich vor, jetzt nachdem Störzer gestorben ist, dessen Geständnis seinem Freund Eduard mitzuteilen und gleichzeitig öffentlich zu machen. Und das tut er, mit Takt und Menschlichkeit. Die ganze Passage zeigt, aus welch gutem Holz Stopfkuchen geschnitzt ist und dass er den Täter nicht nur aus Gründen des suspense solange nicht genannt hat.