Re: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

  • Auch von mir Dank für die Stelle, sandhofer! Wieder etwas dazu gelernt.


    Eine mehr von seinen Marotten und Idiosynkrasien, wie die mir wohl sympathischere Abneigung gegenüber dem Tabakrauch, die Goethe allerdings doch auch als Menschen erscheinen und zeitweise von seinem Olymp herabsteigen lassen? :zwinker:

  • Privat ist mir Goethe nach der Aussage echt unsympathisch. Schreiben allerdings kann er :breitgrins:


    Arno Schmidt, auch so ein Kotzbrocken vor dem Herrn (und damit verschwinde ich dann wieder), hat mal sinngemäss gesagt: "Ein Autor hat keine Energien, die er dafür verschwenden könnte, 'sympathisch' zu sein. Er braucht seine Energie fürs Schreiben." :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Karamzin: die Diskussion mit den Büchern über die industrielle Revolution habe ich verfolgt. Und im ersten Buch Kapitel 10 ist mir auch das erste mal ein Hinweis darauf aufgefallen. Da wird von Maschinenwesen gesprochen die man nicht mehr aus der Welt bannen kann.


    Ich habe übrigens die Novelle "ein Mann von fünfzig Jahren" beendet. Diese hat mich allerdings ratlos zurück gelassen. Ich habe keine Ahnung was Goethe mir sagen will. Ich fand sie auch nicht witzig oder traurig. Daher bin ich gespannt was ihr dazu sagt.


    Katrin

  • Hallo!


    Leider hinke ich etwas hinterher und bin gerade erst beim zweiten Kapitel des zweiten Buchs. Ich benutze eine alte Bertelsmann-Ausgabe "Goethe - Werke in acht Bänden", die vom Winkler Verlag autorisiert ist. Der knappe Kommentar stammt von Bernt von Heiseler.



    Jarno ist in den "Lehrjahren" eine wichtige Figur.


    Er scheint sich aber gewandelt zu haben. In den "Lehrjahren" trat er als eine Art Generalsekretär der Turmgesellschaft auf, weltmännisch, umtriebig, wirkte auch nüchterner und rationaler als die anderen Figuren. Jetzt hat er sich offenbar aus der Welt zurückgezogen und führt ein kontemplatives Leben.



    Nachdem ich den Thread in den Buchvorschlägen gelesen habe, war ich schon darauf gefasst eine Abhandlung über Steine und dergleichen zu lesen, aber dem ist ja nicht so.


    Das hatte ich auch befürchtet, aber der erste Kontakt mit der Gesteinskunde verlief Gott sei Dank glimpflich. Die Gefahr ist jedoch nicht vorüber, Jarno lauert noch irgendwo. :breitgrins:



    Insgesamt finde ich den Roman bisher viel besser lesbar als angenommen, aber so richtig springt der Funke nicht über. Alles wirkt so behäbig-lehrhaft.



    [...]die Menschen in diesem Roman sind mir bisher zu modellhaft-steif, haben kaum Eigenleben[...]


    Ähnlich ist es mir schon mit den "Lehrjahren" ergangen. Sie waren zunächst unterhaltsamer, als ich erwartet hatte, zumindest der Teil mit der Schauspielertruppe, aber dann empfand ich den Text als zunehmend gleichförmiger. In den "Wanderjahren" ist es schon von Anfang an so: Alle Personen sprechen gleich, denken und agieren im Grunde auch gleich, die Örtlichkeiten mit ihren fruchtbaren Gärten und lieblichen Wegen ähneln sich ebenso wie die Häuser mit ihren Gemäldegalerien. Man hat das Gefühl, Wilhelm kehrt immer wieder bei den selben Leuten ein. :zwinker: Mir scheint, für Goethe ist hier das Erzählerische weniger wichtig als die Darlegung seiner Themen und Ansichten.


    Was die eingeschobenen Novellen und Episoden angeht, so hat mir die Erzählung von der "Pilgernden Törin" bis jetzt am besten gefallen. Mit dem Romangeschehen verbunden ist sie durch die Idee des Wanderns und der Enthaltsamkeit. Man kann in der Protagonistin durchaus eine moderne, selbstbestimmte Frau sehen, wie Karamzin angedeutet hat. Zumindest im "Wilhelm Meister" treten die Frauen doch schon einigermaßen selbstbewusst auf und fordern das "Recht auf Klugheit" (Natalie) für sich ein. Spritziger als die Männer sind sie allemal (Philine im ersten Teil, Julie und vor allem Hersilie im zweiten). Eine Törin ist sie aber dennoch, weil ihre Verhalten als Reaktion auf die Untreue ihres Geliebten übertrieben ist.


    Im Kommentar ist zwar festgehalten worden, dass sich die junge Frau in diesem Gedicht "loser" gibt als sie ist, sie ist eine ernst zu nehmende Frau.
    Aber der Kommentar gibt an dieser Stelle nichts zur Funktion des Gedichts her!


    Wenn ich die Novelle nicht völlig falsch verstanden habe, dann spricht die "Törin" in dem Gedicht von ihrem eigenen Schicksal und von dem Grund ihrer Pilgerschaft. Sie schildert das Geschehen aus der Sicht des Mannes und was "lose" wirkt, entpuppt sich dann als reine Ironie, denn in der letzten Strophe wird klar, dass sie das "edle Liebchen" ist, das vom Geliebten mit der Müllerstochter betrogen wurde und seine Untreue nun mit ihrer Pilgerschaft "abbüßt".


    Nicht besonders gefallen hat mir die Novelle "Wer ist der Verräter". Das Zaudern und Zagen Lucidors zog sich etwas hin und die glückliche Auflösung durch das Belauschen seiner Monologe war lahm. Die Episode mit dem "nussbraunen Mädchen" fand ich ziemlich überflüssig. Sie entfaltet nur, was der Leser ohnehin schon lange weiß, dass nämlich eine Namensverwechslung vorliegt. Interessant wird erst der zweite Teil der Geschichte.


    Gruß
    Anna

  • Mittlerweile habe ich Goethes übertragene Gedanken (?) zu einer zeitgemäßen Pädagogik und die Geschichte fünfigjährigen Mannes hinter mir und tendiere dazu die Lektüre abzubrechen. So gut muss ich Goethe nicht mehr kennenlernen und die bisher erzählten Geschichten erzählen mir nichts. Noch ist es nicht sicher, nur wahrscheinlich.

  • Willkommen


    Anna Magdalena !
    Ich freue mich, dass Du jetzt hier mitmachst und gleich eine ganze Reihe sehr bedenkenswerte Dinge angesprochen hast. Es dürfte gut sein, wenn man immer noch mal auf die Kapitel zurückkommen kann, die von den meisten inzwischen schon gelesen worden sind.


    Jaqui
    Da ich mich nicht jeden Tag melden kann und auch nur zu bestimmten Zeiten an einem für das Forum geeigneten Computer sitze, soll dann später etwas von mir zum "Mann von fünfzig Jahren" und vielleicht noch zu anderen Themen kommen.


    Schließlich verstehe ich auch, wenn die Schreibweise und die behandelten Themen nicht jedem liegen, man sollte sich wirklich nur in seiner Freizeit mit den Autoren beschäftigen, die einem liegen, und sich nicht gezwungen fühlen, wenn man die Lust verliert. Ich habe nun viel mit dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu tun,


    besonders mit dem nur schwer zu erkennenden Mann auf dem Avatar, der unter dem 21. Juli 1789 schrieb: "Goethe habe ich nur gestern im Vorbeigehen am Fenster gesehen; ich blieb stehen und betrachtete ihn einige Minuten. Ein wahres griechisches Gesicht!" Nikolai Karamsin: Briefe eines russischen Reisenden. Berlin 1977, S. 164.


    aber mir würde es ebenso gehen, wenn ich an große Teile der Literatur des 20. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwartsliteratur denke, zu der ich kaum einen Zugang finde.

  • Hallo!



    [...] Hersilie (ist das nicht ein herrlicher Name: Ich will immer Petersilie schreiben!). [...]


    Hier in Italien ist "Ersilia" zwar auch ein eher altmodischer Name, taucht aber hin und wieder noch auf. Eine jüngere Kusine meines Mannes heißt so, und ich habe ihr gegenüber immer steif und fest behauptet, dass es im Deutschen keine Entsprechung für diesen Namen gäbe. Nun hat Goethe mich eines Besseren belehrt. Irgendeinen Nutzen kann man doch immer aus den Klassikern ziehen. :smile:



    Momentan stecke ich im 6. Kapitel und bin auch mit Hersilie und Juliette bekannt geworden, von denen mir besonders Hersilie mit ihrer praktisch-ironischen Umkehrung der Weisheiten, die überall auf dem Gelände angebracht sind, gefällt.


    Diese Stelle ist ein schönes Beispiel dafür, dass unser Meister durchaus zur Selbstironie fähig war. Vor allem mit folgendem Satz:


    Zitat

    Wir Frauen sind in einem besonderen Zustande. Die Maximen der Männer hören wir immerfort wiederholen, ja, wir müssen sie in goldenen Buchstaben über unsern Häuptern sehn[...]


    Goethe war ja selbst ein Sprücheklopfer vor dem Herrn und schreckte auch vor dieser und jener Allerweltsweisheit nicht zurück, wie ich in den "Lehrjahren" festgestellt habe. Einige Seiten später ist dann aber wieder Schluss mit lustig. Als Hersilie in Bezug auf die vielen sinnigen Inschriften im Haus heiter bemerkt, sie würde vieles gern vergessen, was sie wüsste, und was sie begriffen hätte, wäre auch nicht viel wert, antwortet Wilhelm "bedächtig", dass er kurzgefasste Sprüche jeder Art zu ehren vermöchte. Ich sage ja, die Frauen bei Goethe sind spritziger.



    So gut muss ich Goethe nicht mehr kennenlernen


    Keiner kann einen Gott in seiner ganzen Größe ertragen, daher ist Dein möglicher Rückzug verständlich. :breitgrins:



    aber mir würde es ebenso gehen, wenn ich an große Teile der Literatur des 20. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwartsliteratur denke, zu der ich kaum einen Zugang finde.


    Was ist denn mit Marcel Proust, Franz Kafka, Thomas Mann, Joseph Roth, Robert Musil, Heimito von Doderer, Knut Hamsun, Herman Bang, Michail Bulgakow, mit John Steinbeck, F. Scott Fitzgerald, Joseph Conrad, mit Philip Roth, John Updike, Winfried.G. Sebald oder Christoph Ransmayr? Nichts dabei, was Dich reizen könnte?


    Heute versuche ich, ein paar Kapitel weiter zu kommen, habe allerdings viel zu tun.


    Gruß
    Anna


  • Das hatte ich auch befürchtet, aber der erste Kontakt mit der Gesteinskunde verlief Gott sei Dank glimpflich. Die Gefahr ist jedoch nicht vorüber, Jarno lauert noch irgendwo. :breitgrins:


    Er kommt sicher wieder. :breitgrins: Und ich freue mich tatsächlich auf weiteren Gesteins-Unterricht.



    Mir scheint, für Goethe ist hier das Erzählerische weniger wichtig als die Darlegung seiner Themen und Ansichten.


    Der Ansicht bin ich auch, denn die Handlung an sich lässt ja sehr zu wünschen übrig. Aber die Aussagen mittendrin regen zum Nachdenken an.



    Nicht besonders gefallen hat mir die Novelle "Wer ist der Verräter". Das Zaudern und Zagen Lucidors zog sich etwas hin und die glückliche Auflösung durch das Belauschen seiner Monologe war lahm.


    Gerade die Auflösung fand ich gelungen. So was komplett banales hätte ich Goethe gar nicht zugetraut.



    Die Episode mit dem "nussbraunen Mädchen" fand ich ziemlich überflüssig. Sie entfaltet nur, was der Leser ohnehin schon lange weiß, dass nämlich eine Namensverwechslung vorliegt. Interessant wird erst der zweite Teil der Geschichte.


    Leider nicht :rollen: Hier hat mich Goethe voll enttäuscht. Man hätte aus der Suche nach dem Mädchen so viel machen können und was macht er daraus: Nichts.


    Mittlerweile bin ich übrigens mitten im achten Kapitel des zweiten Buches und der Autor hat eine kleine Zwischenrede eingefügt in der ein paar Jahre vergehen.
    Kurz vor dieser Zwischenrede reist Wilhelm noch mit Hersilie durch die Gegend, dieses Kapitel fand ich ziemlich langatmig. Aber auch im achten Kapitel, wo Wilhelm endlich seinen Sohn wieder sieht, passiert nicht viel. Er lässt sich in Ruhe erklären wie die Kinder erzogen worden sind und worauf sich sein Sohn spezialisiert hat.


    Die Hälfte des Buches ist um und wenn mich jemand fragen würde worum es in dem Buch geht, könnte man das in ein paar Sätzen zusammen fassen. Bei anderen Klassikern könnte ich nach der Hälfte immer Romane erzählen, aber hier passiert irgendwie nichts.


    Katrin

  • Horrido zusammen,


    mir geht es ganz anders als Lost - ich bin nach der Lektüre der beiden einleitenden Kapitel im zweiten Buch und der Beschreibung der Pädagogischen Provinz hoch beglückt und angeregt und freue mich auf mehr. Leider musste ich gerade die Goethe-Lektüre unterbrechen, um für einen Lesekreis einen Roman von John von Düffel dazwischenzuschieben (Vom Wasser) - überraschenderweise hat mich das Buch doch die Goethe-Lektüre eher vermissen lassen. Mich stören die eingeschalteten Novellen gar nicht, ich nehme sie eher wahr wie einen 'Bilderbogen' (entsprechende Friese, Bilderfolgen oder Galerien kommen auch in der Romanhandlung ja mehrfach vor), vor denen ich verweilen oder die ich durcheilen kann.


    Ich mag's bisher.


    In ein paar Tagen dann mehr.


    LG
    JHN

  • Leider nicht :rollen: Hier hat mich Goethe voll enttäuscht. Man hätte aus der Suche nach dem Mädchen so viel machen können und was macht er daraus: Nichts.


    Das finde ich gar nicht. :zwinker:


    Mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen und - wie bereits oben geschrieben - erzeugte sie in mir auch eine nicht geringe Lesespannung. Darüber hinaus finde ich auch den Aspekt sehr interessant, dass hier ein Erlebnis in Lenardos Seele einen tiefen Eindruck hinterlässt, das er aber in einem nicht unwichtigen Detail ganz falsch erinnert (Identität des Mädchens).


  • Hallo @Anna


    In bezug auf die neuere Literatur habe ich mich missverständlich ausgedrückt: ich habe sicher etliche der von Dir genannten Autoren gelesen, auch mit Gewinn, aber wenn ich mir dieses Klassikerforum anschaue, bleiben doch noch viele Bücher übrig, zu denen ich kaum etwas sagen könnte, erst recht nicht in einer Leserunde, und ich glaube, es ist keine Schande, einzugestehen, dass ich von vielen zuvor noch nie etwas gehört habe. Das Forum bildet jedenfalls. :smile: Ich habe übrigens nicht Literatur studiert und mir alles erst im Laufe der Zeit angelesen.


    Noch einmal zur Torheit der "pilgernden Törin": ihr "Experiment", sich allein unter die Männer zu begeben, auf die Gefahr hin, dass diese mit einiger Sicherheit dann etwas von ihr "wollen", kann schon als Überreaktion angesichts der Flatterhaftigkeit des jungen Mannes von der Mühle angesehen werden.
    Aber die ganze Novelle ist ja auch ein Märchen in einer traumhaften Landschaft und hat seinen Ursprung wohl in den französischen Feenmärchen und der Überlieferung von allein reisenden Pilgerinnen, die vor allem der Phantasie entsprungen sind.

  • Schön, dass hier eine so anregende Diskussion im Gange ist und schade, dass ich kaum daran teilnehmen kann und auch die Lektüre langsam voranschreitet. Ich kann leider meine Freizeit nicht so genau planen und manchmal kommen unvermutete Arbeitsspitzen dazwischen.


    Beginne daher erst das elfte Kapitel des ersten Buches und hinke damit hoffnungslos hinterher. Meine zuvor beschriebenen Eindrücke haben sich aber nicht verändert. Ähnlich wie es auch Anna Magdalena und Lost wahrnehmen, kommt mir vieles steif und wiederholt vor. Und nun erst diese unsägliche Geschichte: Wer ist der Verräter? Ich kann nur alles unterschreiben, was du, @ Anna Magdalena, dazu geschrieben hast. Dazu kommt eine teilweise unsägliche Ausdrucksweise, die schon an die Lustigkeit von Trash grenzt:


    Er umschlang sie und warf sein Haupt hinter das ihre, hing wie am Uferfelsen ein Schiffbrüchiger ... (I,9)


    Was die Brillenstelle angeht, so spricht sie mich auch persönlich an, da ich stark kurzsichtig bin. Ob Goethe, der wohl recht gute Augen hatte, wusste, was er Menschen, die auf solche Hilfsmittel angewiesen sind, damit unterstellte? Aber gut, unsere Schrullen haben wir wohl alle :zwinker:.

  • Ob Goethe, der wohl recht gute Augen hatte, wusste, was er Menschen, die auf solche Hilfsmittel angewiesen sind, damit unterstellte?


    Ich meine, irgendwo gelesen zu haben, dass Goethe auf dem einen Auge kurz-, auf dem andern weitsichtig war. Er brauchte also keine Brille, weil ein Auge immer was sah. (Dafür ist das das stereoskopische Sehen dadurch stark eingeschränkt.)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich meine, irgendwo gelesen zu haben, dass Goethe auf dem einen Auge kurz-, auf dem andern weitsichtig war. Er brauchte also keine Brille, weil ein Auge immer was sah. (Dafür ist das das stereoskopische Sehen dadurch stark eingeschränkt.)


    Ich habe mal gelernt es war Schiller.


  • Karamzin: die Diskussion mit den Büchern über die industrielle Revolution habe ich verfolgt. Und im ersten Buch Kapitel 10 ist mir auch das erste mal ein Hinweis darauf aufgefallen. Da wird von Maschinenwesen gesprochen die man nicht mehr aus der Welt bannen kann.


    Ich habe übrigens die Novelle "ein Mann von fünfzig Jahren" beendet. Diese hat mich allerdings ratlos zurück gelassen. Ich habe keine Ahnung was Goethe mir sagen will. Ich fand sie auch nicht witzig oder traurig. Daher bin ich gespannt was ihr dazu sagt.


    Katrin


    Hallo Katrin,


    zu der Novelle "Der Mann von funfzig Jahren", an der Goethe länger als an den anderen gearbeitet hat. Ich respektiere natürlich, wenn Du mit ihr wenig anfangen konntest. Ich war sehr ergriffen, sie nach vielen Jahren wieder gelesen zu haben.


    Will einmal einige Themen anschneiden:


    Verunsicherung in der Partnerwahl - "Unsicherheit seiner selbst" bemerkt der Major (S. 185).
    Ursprüngliche Vorstellungen darüber, wer wen heiraten soll, werden im Verlauf der Handlung über den Haufen geworfen.
    Dass sich eine Nichte (Hersilie) in ihren Onkel (Major) verliebt haben soll, muss doch schon bei den Zeitgenossen Verwunderung erzeugt haben. Dabei zeigt sich ihre Ungleichheit nicht nur in den Lebensjahren, sondern schon in der Anrede: der Major nennt Hersilie "Du", die Nichte "Siezt" ihn.


    Bis heute gibt es gesetzliche Bestimmungen über geschlechtliche Verbindungen zwischen Verwandten, hier wird auch auf die österreichische Gesetzgebung verwiesen:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Inzest


    Die nötige Distanz zu den Romanfiguren wahrend, möchte ich sagen, dass für mich Liebesverhältnisse zwischen nahen Verwandten kein Problem darstellen, ihr Glücksanspruch soll gewahrt sein, wenn es nicht wirklich ernsthafte Gründe geben sollte (Erbkrankheiten), die gegen eine Verbindung sprechen. Gerichtliche Strafandrohungen gehören für mich der Vergangenheit an. Die Gesetzgebung scheint mir noch stark von christlicher Tradition geprägt zu sein.


    Es ist denn auch darauf verwiesen worden, dass Hersilie ihren Onkel nicht wirklich bis zu der Konsequenz geliebt hat, ihr Leben mit ihm teilen zu wollen, sondern in ihm einen väterlichen Freund erblickte.


    Ökonomische Interessen
    Dass der Sohn seine Cousine Hilarie heiraten soll, wie es der Major und seine Schwester, die Baronin, vorsehen, entspricht knallharten ökonomischen Interessen, die trotz aller Gefühlsregungen durchgesetzt werden sollen: die Familiengüter sollen zusammengehalten werden.


    Das Militär
    Der Major und sein Sohn, der Leutnant, der auf einen Aufstieg im Militär hofft, entsprechen dem, was Goethe in seinen "Maximen und Reflexionen" einen "gebildeten Soldaten" nennt. Er, der nicht beim Militär gedient hat und die Champagne von 1792 als Reisender in Zivil miterlebte, traute diesem Berufsstand zu, mehr als die Zivilisten (gab es damals schon Ärmelschoner?) über die nötigen Kenntnisse und Umgangsformen zu verfügen, um in jeder Gesellschaft eine gute Figur abzugeben.

  • Das finde ich gar nicht. :zwinker:


    Mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen und - wie bereits oben geschrieben - erzeugte sie in mir auch eine nicht geringe Lesespannung. Darüber hinaus finde ich auch den Aspekt sehr interessant, dass hier ein Erlebnis in Lenardos Seele einen tiefen Eindruck hinterlässt, das er aber in einem nicht unwichtigen Detail ganz falsch erinnert (Identität des Mädchens).


    Die Geschichte an sich hat mir auch gefallen, aber dann die Auflösung des Ganzen im Brief an Leonardo: Habe sie gefunden. Da hätte ich erwartet dass uns Goethe die Suche beschreibt und wie Wilhelm auf das Mädchen trifft, aber so bin ich einfach nur enttäuscht.




    Beginne daher erst das elfte Kapitel des ersten Buches und hinke damit hoffnungslos hinterher.


    Dennoch bin ich auf deine Eindrücke sehr gespannt. :winken:



    Was die Brillenstelle angeht, so spricht sie mich auch persönlich an, da ich stark kurzsichtig bin. Ob Goethe, der wohl recht gute Augen hatte, wusste, was er Menschen, die auf solche Hilfsmittel angewiesen sind, damit unterstellte? Aber gut, unsere Schrullen haben wir wohl alle :zwinker:.


    Diese Stelle nehme ich Goethe nach wie vor übel. Ohne Brille sehe ich sehr wenig. Er konnte wahrscheinlich gar nicht nachempfinden wie es für Menschen ist die wenig sehen.




    Ich respektiere natürlich, wenn Du mit ihr wenig anfangen konntest. Ich war sehr ergriffen, sie nach vielen Jahren wieder gelesen zu haben.


    Die Themen die du ansprichst finde ich sehr interessant, aber ich muss leider zugeben dass ich irgendwie nicht begriffen habe wie die Sache nun ausgeht :redface: Wer heiratet nun wen und heiratet überhaupt irgendwer? Heiratet Hersilie nun den Sohn oder nicht? Und was ist mit der Witwe? Irgendwie hat der Schluss für mich keinen Sinn ergeben. Sorry wenn sich das lächerlich anhört.




    Dass sich eine Nichte (Hersilie) in ihren Onkel (Major) verliebt haben soll, muss doch schon bei den Zeitgenossen Verwunderung erzeugt haben. Dabei zeigt sich ihre Ungleichheit nicht nur in den Lebensjahren, sondern schon in der Anrede: der Major nennt Hersilie "Du", die Nichte "Siezt" ihn.


    Beim Altersunterschied schütteln heute ja noch viele den Kopf, damals wird es nicht anders gewesen sein. Bei der Verwandtschaft gab es damals aber sicher weniger Getuschel, war das damals nicht üblich in den eigenen Kreisen zu heiraten?



    Habe wieder etwas weiter gelesen und bin nun mitten im neunten Kapitel. Über die Erziehungsmethoden sind wir ja nun bestens unterrichtet. Dass man die Poesie verteufelt und auch sonst mit den Künsten die als unwürdig angsehen werden nichts zu tun haben will finde ich schade.
    Dafür freue ich mich Montan wieder zu sehen. Die Diskussion über die Entstehung der Erde fand ich sehr interessant. Da klaffen die Meinungen ja sehr auseinander.


    Katrin

  • Haltet Euch jetzt fest, es kommt knüppeldick; sandhofer hat zwar vor Jahren Absolution erteilt, das Thema anzuschneiden, aber ich weiß nicht, wie mir jetzt ergeht, wenn ich in dem Forum eine "Verschwörungstheorie" verbreite.
    Es ist auch wirklich die einzige, der ich anhänge, und schuld sind die mich beeindruckende, warmherzige (!), verführerische Schreibweise und der juristische Scharfsinn von Ettore Ghibellino::sonne: :zwinker:


    http://de.wikipedia.org/wiki/G…0%93_Eine_verbotene_Liebe


    Die Französische Revolution wurde nicht von den Freimaurern verursacht, die Amerikaner waren auf dem Mond, Bin Laden ordnete den Terror in New York an,


    und Goethe liebte nicht Charlotte von Stein, sondern die zehn Jahre ältere Herzoginwitwe Anna Amalia (1739-1807), nach deren Tod er mit der endgültigen Arbeit an den "Wanderjahren" begann. Aber ich will hier keine eigene, vom Roman fortführende Diskussion lostreten, sie kann unterbunden werden, :grmpf: nur:


    - die "schöne Witwe" unterhielt einen Salon, wie Anna Amalia, sie beschäftigte sich beim Zuhören wie diese mit Handarbeiten und liebte es nicht, wenn nach Fortgang der Gäste das Licht gelöscht wurde;
    - Goethe verleiht dem Major wie dem Sohn seine eigenen Züge, nur eben in verschiedenen Lebensaltern und dann wieder verfremdet (von der Jagd hielt der Dichter nichts, indes gibt es jetzt ein Jagdgedicht);
    - Goethe musste mit Antritt seiner Italienreise 1786 aus Staatsräson der Liebe "entsagen" (Ghibellinos historische Argumentation überzeugt mich hier nicht); er darf wegen des Standesunterschieds die schöne Witwe, eine Reichsfürstin, nicht heiraten, um nicht das Wohl Sachsen-Weimars zu gefährden. In den "Wanderjahren" grüßt er sie jetzt, als wären sie doch im Leben verbunden worden, ein letztes Mal in den "Marienbader Elegien" (1823).


    Beide lieben die Dichtkunst, der Major kommt der Witwe mit den antiken römischen Dichtern, wie Goethe Anna Amalia, die berühmten Liebesbriefe an Charlotte (Goethe: "mir verhasster Name") enthalten italienische und lateinische Passagen. Die Witwe Anna Amalia beherrschte vorzüglich diese beiden Sprachen, Charlotte von Stein eben nicht, wie müsste sie sich gefühlt haben, wenn sie die Adressatin dieser Briefe gewesen wäre.


    Meine Empfehlung aber: *Lasst dem Karamzin seine Liebhaberei/Spinnerei; es lohnt sich nicht, sich hier in die haltlosen Hypothesen von Ghibellino zu vertiefen, die ihm schon von der Weimarer Klassikerstiftung schriftlich zerlegt wurden, der wollte nur mal zeigen, wie ihn "Der Mann von funfzig Jahren' wieder auf diese seltsamen Ergüsse dieses Italieners brachten. Und damit weiter im Text, als wenn nichts gewesen wäre* :breitgrins:


  • .....


    Die Themen die du ansprichst finde ich sehr interessant, aber ich muss leider zugeben dass ich irgendwie nicht begriffen habe wie die Sache nun ausgeht :redface: Wer heiratet nun wen und heiratet überhaupt irgendwer? Heiratet Hersilie nun den Sohn oder nicht? Und was ist mit der Witwe? Irgendwie hat der Schluss für mich keinen Sinn ergeben. Sorry wenn sich das lächerlich anhört.


    .....
    Katrin


    Goethe hält den Ausgang seiner Novelle "Der Mann von funfzig Jahren" offen. Hersilie erkennt, dass ihre Neigung zu ihrem Oheim nicht die große Liebe gewesen sein kann, die ein gemeinsames Leben begründet. Sie fühlt sich nunmehr zu dessen Sohn Flavio hingezogen, der erstmals am Beginn des 5. Kapitels mit seinem Vornamen erscheint. Aber sie stößt auch zu den "Entsagenden", indem sie zunächst auf eine Verbindung mit Flavio verzichtet. Beide werden zu den Auswanderern gehören, jedoch auch weiterhin getrennte Wege beschreiten.


    Der Major erkennt, dass er trotz äußerlicher Verjüngungskünste nicht der Geliebte seiner um vieles jüngeren Nichte sein kann. Als Mann von fünfzig Jahren stößt er ebenfalls zu den "Entsagenden". Als Goethe selbst um die fünfzig war - das hat Nicholas Boyle im zweiten Band seiner Biographie (1999) sehr schön beschrieben - erkannte er, dass ihn nicht nur die französischen Revolutionsarmeen an der Überquerung der Alpen und einer nochmaligen Reise nach Italien hinderten. Diese Phase seiner Biographie war abgelaufen. Zu Hause in Weimar warteten auf ihn seine Gefährtin Christiane und sein Sohn August sowie das gemeinsam mit Schiller begonnene Werk der Durchsetzung der klassischen Literatur.


    Als ich 1978 zum ersten Mal den Roman las, dachte ich: wie werde ich erst sein, wenn ich das 50. Lebensjahr erreicht habe. Auch dieser Zeitpunkt liegt inzwischen lange hinter mir. Ich lese die "Wanderjahre" mit ihren Grundmotiven des Entsagens und der Auswanderung durchaus auch bei Betrachtungen über das eigene Leben.