Hallo miteinander!
Ich bin jetzt im dritten Teil, auf Seite 424. Mir sind leider wieder Übersetzungsarbeiten dazwischen geraten, die mich am regelmäßigen Schreiben hindern. In ein paar Stunden muss ich für zwei Wochen nach Deutschland fliegen, was ich zu Beginn der LR noch nicht wusste. Aber Ihr lest ja erfreulicherweise mit bedächtigem Genuss, so dass ich vielleicht noch rechtzeitig vor Ende der LR wieder zurück bin.
die Schlangenthematik ist mir auch aufgefallen und auch, dass die Schlange immer ein Auslöser für Reflexionen ist, sowohl bei Melzer als auch bei Rene.
Die Begegnung mit der Schlange scheint in der Tat bei beiden eine Art Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen, Renè spricht in einem Brief an Geyernhoff später vom „Beginn von etwas Neuem“. Ein wenig irritieren mich diese Schlangen schon. Sie sind doch sehr … symbolisch. Eine kleine Schlange für Melzer, eine große für René Stangeler. Hat Stangeler es nötiger? Oder entwickelt er das höhere oder tiefere Bewusstsein? Ich bin kein großer Freund solcher Bedeutsamkeiten.
Nach wie vor lese ich den Roman mit Erstaunen und Vergnügen. Abgesehen vom Erzähltempo der „Stiege“, das im Vergleich zur „Recherche“ geradezu rasant zu nennen ist, erinnert auch mich einiges an Proust. Die Bedeutung der Nebensächlichkeiten zum Beispiel. Kurze Sinneseindrücke, ein Bild, ein Geruch, ein Geschmack, können Assoziationsketten auslösen und den Ausschlag geben für bestimmte Handlungen und Entwicklungen. Auch wie Doderer das Wesen der Liebe beschreibt, ist Prousts Auffassung sehr ähnlich.
Was ich sehr bewundere, ist die scharfsinnige Beschreibung psychologischer Vorgänge. Die Szene mit Ingrid Schmeller und Semski auf der Strudlhoftreppe zum Beispiel. Wie Asta Stangeler da plötzlich dämmert, dass das ihr Verhalten und das ihrer Geschwister, dieses Aufbäumen gegen den Vater, die Lügen und Heimlichkeiten eigentlich eine Schwäche sind, während Ingrid Schmeller, die wie eine „geknickte Pflanze“ ihrem Vater folgt, die Stärkere ist. In herkömmliche Romanen würde das genau umgekehrt gewertet werden. Oder das Gespräch zwischen dem kleinen E.P. und Melzer in der Kneipe (S. 333 f.) Dieses Aneinandervorbeireden, das falsche Einschätzen des Anderen, den man innerlich für geordneter hält als sich selbst, das Herzausschütten als reine Ablenkung vom wunden Punkt bei sich selbst, das ist wirklich ganz genau beobachtet und großartig beschrieben. Ich stelle immer wieder fest, dass gute Schriftsteller nicht nur präzise Beobachter sind, sie sind vor allem bewusste Beobachter. Die Fähigkeit, sich literarisch ausdrücken zu können, beeinflusst offenbar die Intensität und die Bewusstheit des Schauens.
Der ganze Roman scheint in verschiedenen Ebenen zu spielen, in innen und außen, Wahrnehmungen und Wirklichkeit. Am Ende des zweiten Teil löst sich m. M. n. auch dieses ganze Bruchstückhafte auf, dieser ganze Scherbenhaufen verteilt sich mehr in zwei Säulen :smile: (Oder aber zum Ende eines Teils lässt Doderer den Leser bewusst aufatmen :zwinker:
Bei Doderer sind Innen- und Außenwelt untrennbar, eine geht in die andere über, daher auch der schnelle Perspektivenwechsel zwischen Innen und Außen. Er zeigt eine unglaubliche Könnerschaft darin, innere Vorgänge mit Hilfe von Metaphern und Vergleichen sprachlich zu fassen. Die Metaphern sind zum Teil sehr breit ausgeführt, oft folgt Bild auf Bild, manche sind sehr stimmungsvoll, andere wieder humoristisch oder flapsig, aber immer sind sie originell, ungewöhnlich und treffend. Einprägsam sind sie auch. Wenn mir in Zukunft irgendwelche romantische Vorstellungen durch den Kopf gehen, werde ich wahrscheinlich sofort an ranzige Leberwurst denken (S.287), aber das ist für eine unvoreingenommene Sicht der Welt – und ich glaube, das meint Apperzeption – nicht das Schlechteste.
Als bruchstückhaft oder als Scherbenhaufen empfinde ich den Roman nicht, ich würde die Darstellungsweise eher als kaleidoskopartig bezeichnen. Es ist ja nicht so, dass Doderer aus vielen Einzelteilen ein Ganzes zusammensetzen will. Das Ganze – die Welt und ihr fragwürdiger Bestand – ist bereits vorgegeben. Doderer breitet die vielen Einzelheiten vor uns aus, das weite Spektrum an inneren und äußeren Lebenserscheinungen. Es geht ihm augenscheinlich nicht um zielgerichtete Linearität, nicht um kontinuierliche Lebensläufe oder um Handlungen, die auf einen dramatischen Höhepunkt zustreben, was notwendigerweise immer auch eine Verengung des Blickwinkels auf das Geschehen hin nach sich zieht. Er schildert den epischen Fluss des Lebens mit seinen unzähligen Variationen, Nebensächlichkeiten und Abschweifungen. Diese Lebensfülle kommt nicht nur im Inhalt, sondern auch in der ebenso abwechslungsreichen wie präzisen Sprache und ín der Form des Romans zum Ausdruck. Eine stringente Handlung oder dramatische Entwicklungen vermisse ich gar nicht. Für meinen Geschmack ist in der „Strudlhofstiege“ genug los.
Da Anita uns ermahnt hat, ein wenig kritischer zu sein, will ich ein leises Unbehagen eingestehen bei einer Stelle, die wohl eine zentrale Passage des Romans bildet. Es geht um den Abschnitt S. 295 bis 333. Ihr seid noch nicht soweit, deshalb nur einige Stichpunkte. Melzer erlebt einen „Vorbeisturz“ an sich selbst, er erkennt, dass die innere Mechanik eines Menschen ganz unabhängig von seinen Absichten funktioniert, später wird das Thema in René Stangelers Worten von der Selbstbiographie wieder aufgenommen, schließlich kommt Doderer auf die Bedeutung der Strudlhofstiege zu sprechen. So ganz von fern erinnert mich diese Stelle an das „Schnee“-Kapitel im „Zauberberg“, wo Thomas Mann auf furchtbar pädagogisch-didaktische Weise und in aller Deutlichkeit dem Leser vor Augen führt, worum es ihm in seinem Roman geht. Bei Doderer ist das viel subtiler gemacht, nicht so holzhammermäßig wie bei Thomas Mann. Und doch – auch Doderer gibt dem Leser hier einige kräftige Deutungshilfen. Aber das ist nur eine vorläufige Einschätzung, die Szene wird man erst im Gesammtzusammenhang des Romans richtig beurteilen können. Außerdem ist das natürlich auch eine Geschmackssache. Mag sein, dass einem anderen Leser gerade diese Stelle besonders gut gefällt.
Diese sehr oberflächliche, dekadente Gesellschaftsschicht,
Ist unsere Gesellschaft heute wirklich so viel tiefgründiger, so viel vitaler, so viel moralischer?
"Verschmocktheit" (tolles Wort)
Stimmt! Ein anderes tolles Wort: uterale Räson.
So, jetzt habe ich für zwei Wochen im Voraus geschrieben. Nun hoffe ich, dass mich die Lektüre der „Strudelhofstiege“ von den merkwürdig rumpelnden Geräuschen in den Triebwerken des Flugzeugs ablenken wird. Ich wünsche Euch schöne Pfingsttage!
Gruß
Anna