Beiträge von Anna Magdalena

    Hallo miteinander!


    Ich bin jetzt im dritten Teil, auf Seite 424. Mir sind leider wieder Übersetzungsarbeiten dazwischen geraten, die mich am regelmäßigen Schreiben hindern. In ein paar Stunden muss ich für zwei Wochen nach Deutschland fliegen, was ich zu Beginn der LR noch nicht wusste. Aber Ihr lest ja erfreulicherweise mit bedächtigem Genuss, so dass ich vielleicht noch rechtzeitig vor Ende der LR wieder zurück bin.


    die Schlangenthematik ist mir auch aufgefallen und auch, dass die Schlange immer ein Auslöser für Reflexionen ist, sowohl bei Melzer als auch bei Rene.


    Die Begegnung mit der Schlange scheint in der Tat bei beiden eine Art Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen, Renè spricht in einem Brief an Geyernhoff später vom „Beginn von etwas Neuem“. Ein wenig irritieren mich diese Schlangen schon. Sie sind doch sehr … symbolisch. Eine kleine Schlange für Melzer, eine große für René Stangeler. Hat Stangeler es nötiger? Oder entwickelt er das höhere oder tiefere Bewusstsein? Ich bin kein großer Freund solcher Bedeutsamkeiten.


    Nach wie vor lese ich den Roman mit Erstaunen und Vergnügen. Abgesehen vom Erzähltempo der „Stiege“, das im Vergleich zur „Recherche“ geradezu rasant zu nennen ist, erinnert auch mich einiges an Proust. Die Bedeutung der Nebensächlichkeiten zum Beispiel. Kurze Sinneseindrücke, ein Bild, ein Geruch, ein Geschmack, können Assoziationsketten auslösen und den Ausschlag geben für bestimmte Handlungen und Entwicklungen. Auch wie Doderer das Wesen der Liebe beschreibt, ist Prousts Auffassung sehr ähnlich.
    Was ich sehr bewundere, ist die scharfsinnige Beschreibung psychologischer Vorgänge. Die Szene mit Ingrid Schmeller und Semski auf der Strudlhoftreppe zum Beispiel. Wie Asta Stangeler da plötzlich dämmert, dass das ihr Verhalten und das ihrer Geschwister, dieses Aufbäumen gegen den Vater, die Lügen und Heimlichkeiten eigentlich eine Schwäche sind, während Ingrid Schmeller, die wie eine „geknickte Pflanze“ ihrem Vater folgt, die Stärkere ist. In herkömmliche Romanen würde das genau umgekehrt gewertet werden. Oder das Gespräch zwischen dem kleinen E.P. und Melzer in der Kneipe (S. 333 f.) Dieses Aneinandervorbeireden, das falsche Einschätzen des Anderen, den man innerlich für geordneter hält als sich selbst, das Herzausschütten als reine Ablenkung vom wunden Punkt bei sich selbst, das ist wirklich ganz genau beobachtet und großartig beschrieben. Ich stelle immer wieder fest, dass gute Schriftsteller nicht nur präzise Beobachter sind, sie sind vor allem bewusste Beobachter. Die Fähigkeit, sich literarisch ausdrücken zu können, beeinflusst offenbar die Intensität und die Bewusstheit des Schauens.


    Der ganze Roman scheint in verschiedenen Ebenen zu spielen, in innen und außen, Wahrnehmungen und Wirklichkeit. Am Ende des zweiten Teil löst sich m. M. n. auch dieses ganze Bruchstückhafte auf, dieser ganze Scherbenhaufen verteilt sich mehr in zwei Säulen :smile: (Oder aber zum Ende eines Teils lässt Doderer den Leser bewusst aufatmen :zwinker:


    Bei Doderer sind Innen- und Außenwelt untrennbar, eine geht in die andere über, daher auch der schnelle Perspektivenwechsel zwischen Innen und Außen. Er zeigt eine unglaubliche Könnerschaft darin, innere Vorgänge mit Hilfe von Metaphern und Vergleichen sprachlich zu fassen. Die Metaphern sind zum Teil sehr breit ausgeführt, oft folgt Bild auf Bild, manche sind sehr stimmungsvoll, andere wieder humoristisch oder flapsig, aber immer sind sie originell, ungewöhnlich und treffend. Einprägsam sind sie auch. Wenn mir in Zukunft irgendwelche romantische Vorstellungen durch den Kopf gehen, werde ich wahrscheinlich sofort an ranzige Leberwurst denken (S.287), aber das ist für eine unvoreingenommene Sicht der Welt – und ich glaube, das meint Apperzeption – nicht das Schlechteste.


    Als bruchstückhaft oder als Scherbenhaufen empfinde ich den Roman nicht, ich würde die Darstellungsweise eher als kaleidoskopartig bezeichnen. Es ist ja nicht so, dass Doderer aus vielen Einzelteilen ein Ganzes zusammensetzen will. Das Ganze – die Welt und ihr fragwürdiger Bestand – ist bereits vorgegeben. Doderer breitet die vielen Einzelheiten vor uns aus, das weite Spektrum an inneren und äußeren Lebenserscheinungen. Es geht ihm augenscheinlich nicht um zielgerichtete Linearität, nicht um kontinuierliche Lebensläufe oder um Handlungen, die auf einen dramatischen Höhepunkt zustreben, was notwendigerweise immer auch eine Verengung des Blickwinkels auf das Geschehen hin nach sich zieht. Er schildert den epischen Fluss des Lebens mit seinen unzähligen Variationen, Nebensächlichkeiten und Abschweifungen. Diese Lebensfülle kommt nicht nur im Inhalt, sondern auch in der ebenso abwechslungsreichen wie präzisen Sprache und ín der Form des Romans zum Ausdruck. Eine stringente Handlung oder dramatische Entwicklungen vermisse ich gar nicht. Für meinen Geschmack ist in der „Strudlhofstiege“ genug los.


    Da Anita uns ermahnt hat, ein wenig kritischer zu sein, will ich ein leises Unbehagen eingestehen bei einer Stelle, die wohl eine zentrale Passage des Romans bildet. Es geht um den Abschnitt S. 295 bis 333. Ihr seid noch nicht soweit, deshalb nur einige Stichpunkte. Melzer erlebt einen „Vorbeisturz“ an sich selbst, er erkennt, dass die innere Mechanik eines Menschen ganz unabhängig von seinen Absichten funktioniert, später wird das Thema in René Stangelers Worten von der Selbstbiographie wieder aufgenommen, schließlich kommt Doderer auf die Bedeutung der Strudlhofstiege zu sprechen. So ganz von fern erinnert mich diese Stelle an das „Schnee“-Kapitel im „Zauberberg“, wo Thomas Mann auf furchtbar pädagogisch-didaktische Weise und in aller Deutlichkeit dem Leser vor Augen führt, worum es ihm in seinem Roman geht. Bei Doderer ist das viel subtiler gemacht, nicht so holzhammermäßig wie bei Thomas Mann. Und doch – auch Doderer gibt dem Leser hier einige kräftige Deutungshilfen. Aber das ist nur eine vorläufige Einschätzung, die Szene wird man erst im Gesammtzusammenhang des Romans richtig beurteilen können. Außerdem ist das natürlich auch eine Geschmackssache. Mag sein, dass einem anderen Leser gerade diese Stelle besonders gut gefällt.


    Diese sehr oberflächliche, dekadente Gesellschaftsschicht,


    Ist unsere Gesellschaft heute wirklich so viel tiefgründiger, so viel vitaler, so viel moralischer?


    "Verschmocktheit" (tolles Wort)


    Stimmt! Ein anderes tolles Wort: uterale Räson. :finger:


    So, jetzt habe ich für zwei Wochen im Voraus geschrieben. Nun hoffe ich, dass mich die Lektüre der „Strudelhofstiege“ von den merkwürdig rumpelnden Geräuschen in den Triebwerken des Flugzeugs ablenken wird. Ich wünsche Euch schöne Pfingsttage!


    Gruß
    Anna


    Genau das war der Grund, warum ich die Zweitlektüre vor einem Jahr abgebrochen habe. Ich finde es einfach nicht lustig, wenn seitenweise beschrieben wird, wie Sancho Pansa in die Scheiße fällt, verprügelt wird und sonst dergleichen passiert.


    Lies einfach Mal einen Asterix Comic unter dem Gesichtspunkt, den du hier vertrittst, oder Harry Potter, irgendeinen Fantasieroman, oder eine Kriegssatire, udu findest auch in der Gegenwartsliteratur Beispiele, wie sich Humor und Grausamkeit nicht ausschließen.


    Die Prügelorgien im „Don Quijote“ erinnern in der Tat an die Cartoons, in denen Unglücksraben wie Kater Jerry oder Ente Donald immer wieder kräftig durchgebläut werden und dann doch unverdrossen weitermachen, als wären sie aus Gummi. Lustig fand ich die Szenen mit Don Quijote und Sancho Pansa auch weniger wegen ihrer „Grausamkeit“, sondern wegen der Kommentare der beiden Helden. Was die da zusammenreden, ihre Deutung der Wirklichkeit, Sancho Pansa, der immer von seinen „Insuln“ redet, das ist schon ziemlich komisch. Die altertümelnde Übersetzung von Ludwig Braunfels passt meiner Meinung nach gut und macht die Dialoge noch witziger. Allerdings kenne ich auch nur diese Übersetzung.
    Mein Problem waren die vielen Geschichten über die Irrungen und Wirrungen verschiedener Liebespaare, die weitgehend ohne Spannung oder Humor erzählt werden und sich zudem stark ähneln. Die haben mich so gelangweilt, dass ich kurz vor Ende des ersten Bandes den Roman nicht eigentlich abgebrochen, aber bis jetzt nicht mehr weiter gelesen habe.


    Gruß
    Anna

    Wow, Anna, das klingt nach echter Benn-Expertise! Aber er hat diese "Zuwendung" sicher verdient.


    Na ja, eine Benn-Expertin war ich mal, aber das ist lange her. Benns Prosaschriften sind schon weitgehend vergessen, und ich habe das Gefühl, nicht ganz zu Unrecht (ohne es durch erneutes Lesen überprüft zu haben). Aber wenn man einige so schöne Gedichte hinterlässt, reicht das ja auch völlig.


    Gruß
    Anna

    Hallo!


    Gottfried Benn war früher einer meiner ganz großen Lieblinge. Bis auf einige Briefwechsel habe ich alles von ihm gelesen und vieles über ihn. Besonders fasziniert hat mich damals die Studie „Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde“ von Dieter Wellershoff (der sich inzwischen von seiner Benn-Verehrung distanziert hat). Mit gefielen seinerzeit neben Benns Gedichten auch seine Prosaschriften, besonders „Doppellleben“, „Weinhaus Wolf“ und die Briefe an den Bremer Kaufmann F.W. Oelze. Mittlerweile habe ich schon Jahre nichts mehr von ihm gelesen. Im Schrank stehen noch die Biographie „Provoziertes Leben“ von Werner Rübe, einem Arztkollegen von Benn, und das von der Kritik gelobte Buch „Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit“ von Helmut Lethen, das mir aber nichts Neues zu bringen scheint. Auch zwei erst in den letzten Jahren publizierte Briefbände, „Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth“ und „Gottfried Benn – Thea Sternheim. Briefwechsel und Aufzeichnungen“ habe ich noch nicht gelesen, obwohl letzterer recht interessant sein soll.
    Die Gedichte allerdings lese ich bis heute immer wieder. Ich mag zwar auch seine expressionistische Lyrik, liebe aber vor allem die späteren Gedichte wie „Astern“, „Primäre Tage“, „Tag, der den Sommer endet“, „Valse triste“ usw.


    Gruß
    Anna


    [ich habe hier das Gefühl, wir haben alle ein wenig zu viel Ehrfurcht vor den großen Doderer, der ja auch im MRR Kanon steht (was man eben alles so gelesen haben soll und muss). Mir persönlich fehlt an dieser LR die Leichtigkeit [...] ich mache bei der ersten Lektüre nie einen Staatsakt daraus :winken:


    Ich empfinde diese Leserunde als ausgesprochen locker und angenehm. Der Roman wird nicht zügig durchgehechelt, sondern mit Muße gelesen. Jeder hat seinen eigenen Leserhythmus und berichtet von Zeit zu Zeit von seinen Eindrücken, über die man sich dann austauschen kann.


    Ehrfurcht vor Schriftstellern habe ich noch nie gehabt, aber Sprachgewalt bewundere ich und fühle herzliche Dankbarkeit, wenn ein Autor mir die Stunden mit seinem Werk verschönt. :smile: Den MRR-Kanon kenne ich nicht, doch wenn Doderer dazu gehört, umso besser. Bis jetzt habe ich an dem Roman auch noch nichts zu kritisieren, aber wir sind erst am Anfang, da kommt vielleicht noch dieser oder jener Punkt.
    Und einen Staatsakt daraus machen? Meinst Du damit die Recherchen? Ob und wie weit man Recherche betreiben will, ist doch jedem selbst überlassen Ich gehe zunächst immer ganz naiv an einen Roman heran und beginne erst im Laufe der Lektüre, mir zusätzliche Informationen zu verschaffen (Dank übrigens an Steffi und Maria für die Links). Etwas über die Hintergründe eines Werkes zu erfahren, kann das Vergnügen an der Lektüre doch nur steigern. Nicht selten führen solche Recherchen auch zu weiteren interessanten Büchern. Ich habe mir schon mal Johann Nestroy notiert, den habe ich schon lange nicht mehr gelesen.


    es ist unendlich langatmig und es steckt voller Banalitäten.


    [ich lese kaum eine Äußerung zur Stiege (außerhalb), die nicht zumindest die Langatmigkeit erwähnt :zwinker:


    Ich kann nichts erwähnen, was ich nicht empfinde. Ich würde den Roman trotz seiner Komplexität als im Gegenteil sehr kurzweilig bezeichnen. Und die Banalitäten sind zumindest auf höchstem Niveau beschrieben. Ich bin eigentlich ein sehr langsamer Leser, aber in den ersten drei Tagen habe ich fast 250 Seiten gelesen, ohne es so richtig zu bemerken, so gut hat mich diese Mischung aus psychologischer Beobachtung, Humor und eindrucksvollen Stimmungsbildern unterhalten. Jetzt bremse ich bewusst wieder ab, um den Genuss ein wenig hinauszuzögern. Empfindest Du den Roman tatsächlich als so langatmig?


    Für mich stellt sich wirklich die Frage, was will dieser Autor eigentlich von mir? Soll ich mir jetzt auch mein Arbeitszimmer zu pflastern mit Bruchstücken und Puzzleteilen? Gibt es einen Grund dafür, dass Doderer mein Gedächtnis so strapaziert? Wo führt das hin? Ich bin derzeit nicht in der Stimmung mich auf ein solches Versteckspiel einzulassen.


    Die Frage ist wohl eher, was Du von dem armen Autor willst :breitgrins:, mit welchen Erwartungen Du an seinen Roman herangegangen bist. Was einer in einem Buch zu finden erhofft, muss nicht das sein, was dem Schriftsteller vorschwebte. Bis jetzt, ich hatte es schon geschrieben, entwirft Doderer ein detailliertes Lebenspanorama, und da kommt man um das Bruchstückhafte nicht herum. Aber Maria hat ja schon auf den Begriff der „Menschwerdung“ bei Doderer hingewiesen, der eine Art Entwicklung anzudeuten scheint.
    Aber wenn Dir was an dem Roman nicht passt, Anita, immer heraus damit! Eine Diskussion wird erst interessant durch kontroverse Meinungen.


    Gruß
    Anna :winken:

    muss es denn in einer Aneinanderreihung von Banalitäten ausarten :grmpf:


    Aber wie schön Doderer diese Banalitäten beschreibt! :smile: Es ist wahr, sonderlich Bedeutsames oder gar Weltbewegendes geschieht nicht. Doch diese ganzen Banalitäten, Nebensächlichkeiten, Zufälligkeiten gehören nun mal zum Leben hinzu und machen seine Vielfältigkeit aus. Außerdem glaube ich wie Maria, dass diese Bagatellszenen noch zu Überraschungen führen werden. Mich überrascht jetzt schon, dass dieser Roman mir über den Genuss an seiner Sprache und Komposition hinaus richtige Lebensfreude vermittelt.


    Ich weiß nicht, worauf Doderer hinaus möchte, und deshalb lese ich langsam um nichts zu verpassen. Nach einer guten Woche bin ich auf Seite 204 und ihr?


    Im Moment würde ich sagen, Doderer will einfach ein Panorama des Lebens im Wien jener Jahre zwischen 1911 und 1925 entwerfen. Ich bin schon auf Seite 250, werde in den nächsten Tagen aber kaum zum Lesen kommen. Lass Dir also ruhig Zeit, so ein Buch muss man genießen.


    Gruß
    Anna

    angeblich soll Doderer eine große Tapete mit zahlreichen Skizzen gefüllt haben, um den Überblick nicht zu verlieren. Das ist aber vermutlich nur eine dieser hübschen Legenden.


    Hallo Tom, das mit der Tapete kann ich mir gut vorstellen. Eine auch nur grobe Skizze dieser Figuren- und Beziehungsvielfalt würde nicht auf eine Din-A4- Seite passen. Und da Doderer zu der Zeit, als er den Roman schrieb, allein lebte (wie fast immer), wurde er auch nicht durch die kleinlichen Einwände einer Ehefrau vom Beschmieren der Tapete abgehalten.


    So einfach ist diese Frage für mich nicht


    Aber nein, über diese Stelle wird sicherlich noch zu diskutieren sein. Es war nur eine erste, vorläufige Antwort von mir nach 250 Seiten Romanlektüre. :zwinker: Zur höheren Ebene im „Glasperlenspiel“ kann ich nichts sagen, ich habe das Buch nicht gelesen. Habe ich da was verpasst?


    Die Sprache passt sich dem Charakter der Figuren an,


    Ich störe mich so ein bisschen an dem Wort „Charakter“, aber wir meinen, glaube ich, beide dasselbe: Die Sprache passt sich der jeweiligen Seelenlage und Situation an. Beim alten Stangler allerdings drückt sich seine tyrannische, unduldsame Art wirklich in einer aggressiven, autoritären Art zu sprechen aus.


    Gruß
    Anna :winken:

    Hallo zusammen!


    Ich lese den Roman mit wachsender Begeisterung und kann mich nur schwer von ihm losreißen. Mich verblüfft, wie meisterhaft er komponiert ist, mit welcher Souveränität Doderer die enorme Stofffülle handhabt und die verschiedenen Handlungsstränge, die Zeitsprünge, die vielfältigen Beziehungen zwischen seinen zahlreichen Figuren zu einem dichten Gebilde verwebt. Zum einen ist er ein unglaublich witziger und ironischer Fabulierer, der in einer üppigen, überbordenden, vor Metaphern nur so strotzenden Sprache erzählt, zum anderen erweist er sich als ein scharfer, analytischer Beobachter menschlicher Eigenarten und Verhaltensweisen. Seine psychologischen Bilder, diese detaillierten Darstellungen der „Seelenmischungen“ seiner Figuren machen für mich seine größte Stärke aus.
    Zum Beispiel Mary K: Eine ehrbare Frau, die auf ihre Ehrbarkeit stolz ist, sitzt eines Tages zwischen ihren Möbeln, die hübsch und poliert wie Mary selbst sind und plötzlich tut sich vor ihr ein Vakuum an Zeit auf. Sie spürt die „Sprödigkeit des Lebens“, Leutnant Melzer spukt ihr im Kopf herum, sie spielt mit dem Gedanken, die Einladung Negrias zu einer Bootspartie anzunehmen, sie weiß natürlich, was er von ihr will. Mit der Wahl des Tennisdress lässt sie sich die Option Negria oder Ehemann noch offen, das Ausweichen vor der Straßenbahn bringt ihren Mut zum Erliegen, gibt den Ausschlag für den Ehemann, dann ihre Unzufriedenheit und ihr Ärger, den sie nach dem verpatzten Spiel an ihrem Mann auslässt, der, den Grund dafür nicht ahnend, seiner Frau durch das alte, lange nicht mehr gespielte „Streitspiel“ sozusagen in das Gleis der Ehrbarkeit zurück hilft und ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellt, wofür sie ihm dankbar ist. Das ist so tiefblickend und nachvollziehbar, einfach großartig beschrieben.
    Dazu kommt noch Doderers Fähigkeit, sehr intensive Stimmungsbilder und atmosphärische Dichte erzeugen zu können, die stark auf den Leser wirken. Man denke nur an die Eisenbahnfahrt Melzers und die eigenartige Stimmung, die ihn im Coupé umfängt.
    Der Roman ist beeindruckend und fesselnd, dabei zugleich ungeheuer unterhaltsam und amüsant, ich habe schon lange keinen so großen Spaß mehr beim Lesen gehabt.


    Die wechselnde Sprache, die hat mit den Figuren zu tun, oder? Für mich charakterisiert die Sprache die Figuren, also wie sie sich geben oder evtl. innerlich denken. Und bei der Fülle von Charakteren hat Doderer einiges zu tun :breitgrins:


    @ Anita, mir ist nicht ganz klar, was Du mit „wechselnder Sprache“ meinst. Dass die Figuren durch eine bestimmte Art zu sprechen charakterisiert wären, kann ich nicht erkennen. Sie stammen bis jetzt ja auch alle aus dem gleichen Milieu. Charakterisiert werden sie durch die Darstellung ihrer jeweiligen Psychologie.



    Kein Kommentar wegen Mangel der Zeit, nur ein Zitat aus S. 85-86, Biederstein Ausgabe:


    @ wanderer, die Antwort liegt schon in der Frage „gehört es wirklich zu uns?“ Doderer will ganz klar von uns ein „nein“ hören. :breitgrins: Das Handeln seiner Personen ist kein bewusster, kontrollierter, freier Willensakt, sondern wird von ihrer besonderen Seelenlage und der Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt bestimmt.


    Gruß
    Anna

    Hallo zusammen!


    Ich lese zwar eine ältere dtv-Ausgabe, aber die bei den Zitaten angegebenen Seiten werden wohl in etwa mit der neueren Ausgabe übereinstimmen.


    ich habe im Wikipedia gerade gelesen, dass Heimito von Doderer der Urgroßneffe des Dichters Nikolaus Lenau war.


    Eine talentierte Familie! Lenaus Gedicht von den "drei Zigeunern" mochte ich sehr: Dreifach haben sie mir gezeigt, wenn das Leben uns nachtet, wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt, und es dreimal verachtet.


    Ich habe „Die Strudlhofstiege“ vor etlichen Jahren schon einmal gelesen, den Inhalt aber inzwischen komplett vergessen. Nur der erste Satz mit dem „abgefahrenen Bein“ ist mir in Erinnerung geblieben. Nicht weil er so schockierend ist, sondern weil ich mich gefragt habe – und es heute wieder tue -, ob dieser so beiläufig in Klammern erwähnte künftige Unfall Marys noch im Roman selbst stattfindet oder auf ihr Schicksal nach Romanschluss verweist.
    Den Roman fand ich schon damals gut, aber wie gut er ist, erkenne ich erst jetzt. Nach nur wenigen Seiten bin ich schon völlig begeistert von Doderers Sprache und Humor, seinen eigenwilligen Bildern, seinen ironischen Formulierungen, der Präzision und Feinfühligkeit seiner Beschreibungen. Man könnte dauernd nur zitieren: die „glaszart und gespannt wartende Dämonie der ruhenden Umgebung“ (S.22), der „vor ihr in tendenziöser Weise zurückweichende Tag“ (S. 21), die „Sprödigkeit des Lebens…dies Heikle, diese Bologneser-Fläschchen-Natur jeder guten Stunde, die da fällt und zu Staub wird“ (S.22) (was Bologneser Fläschchen sind, wusste ich natürlich nicht, hier die Definition http://de.wikipedia.org/wiki/Bologneser_Tr%C3%A4ne).
    Die ausufernde Sprache, die Zeitsprünge und das große Romanpersonal erfordern zwar ein konzentriertes Lesen, aber da ich mir bisher selbst bei den russischen Romanen alle Personen und Orte merken konnte, hoffe ich auch diesmal, dass auf mein Gedächtnis Verlass ist. :zwinker:
    Ein Satz ist mir noch aufgefallen: Von Mary heißt es, „(…)als Frau besaß sie genug Tiefe, wenn schon nicht des Geistes, so doch des Geweids (…)“ (S.22). Ist das Doderers Frauenbild im Jahre 1951, die instinktgesteuerte Frau (im Gegensatz zum geistbestimmten Mann)? Oder nur eine individuelle Charakterisierung Mary Ks?


    Gruß
    Anna

    Hallo Lauterbach,


    Ich kann Dir den Roman "L’Éducation sentimentale" empfehlen, den ich für weitaus besser halte als "Madame Bovary", obwohl er sehr handlungsarm ist. Auf Deutsch ist er unter den Titeln "Lehrjahre des Gefühls", "Die Erziehung des Herzens", oder - bei älteren Ausgaben - "Erziehung der Gefühle" erschienen.


    Gruß
    Anna

    Ciao,


    ich lese schon lange im Forum mit und habe mich nun angemeldet, um hier und da auch meinen Senf dazu zu geben. Ich lebe seit achtzehn Jahren in einem kleinen Ort am Tyrrhenischen Meer, eine Stunde südlich von Rom. Nach einer Krankenpflegeausbildung und einem Germanistik- und Philosophiestudium in Würzburg leite ich nun ein nicht immer erfolgreiches kleines Familieunternehmen. :breitgrins: Auf Anfrage und gegen Bares erteile ich außerdem Unterricht in Deutsch, Englisch und Latein und mache Übersetzungen verschiedenster Art.
    Die Italiener treibt es nicht gerade in Scharen in die Buchhandlungen, so dass mir für Anregungen und Austausch nur das Internet bleibt. In letzter Zeit zieht es mich wieder verstärkt zu den Klassikern, ich lese aber auch gern zeitgenössische Literatur und Krimis, manchmal sogar blutigen Serienkillertrash (ich spüre da gewisse Abgründe in mir).


    Gruß
    Anna