Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege

  • Hallo ihr! :winken:


    Als ich gestern Abend in Wien nach erfolgreicher Parkplatzsuche aus dem Auto stieg, stand ich auf einmal nur ein paar Meter von der Strudlhofstiege entfernt.
    In meinem Hinterstübchen hat es sofort wie verrückt zu bimmeln und zu klingeln angefangen, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären warum. Irgendwie habe ich nach einigem Grübeln zwar Literatur mit dem Namen assoziiert ("Gab es da nicht mal ein Buch? Oder ein Theaterstück?" :?: ), aber der große Aha-Effekt kam erst vor ein paar Minuten, als ich die letzte Antwort auf Carlas Unfall-Frage im Pflichtlektürenforum gelesen habe. Heimito von Doderer, na klar! :idea: *an die stirn klatsch*


    Langer Rede, kurzer Sinn: ich bin immer auf der Suche nach für mich regional interessantem Lesestoff. Hat jemand von euch die Strudlhofstiege schon gelesen? Wie hat euch der Roman gefallen? Denkt ihr, es macht einen Unterschied, ob man als Leser ein Wiener/Österreicher oder von anderer Nationalität ist?


    Mich interessiert eure Meinung zu dem Buch, also tut euch keinen Zwang an und erzählt! :breitgrins:


    Herzliche Grüße,
    Bluebell

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Bluebell,


    das Buch und seine Fortsetzung "Die Dämonen" lagern schon seit einigen Jahren auf meinem SUB ab. Deshalb kann ich nichts dazu sagen, wäre aber eventuell an einer Leserunde interessiert, z.B. falls die zum Feuchtwanger nicht zustande kommt.


    Hättest du Interesse und vielleicht noch andere?
    Gruß
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Bluebell !


    Leider kenne ich das Buch nicht, aber ich finde es immer besonders spannend und einprägsam, wenn man die Schauplätze der Bücher kennt. Das reißt mich immer besonders mit und man hat einen viel besseren Zugang zum Buch und oft gibt es besondere Anspielungen, die man ohne Ortskenntnis gar nicht wahrnimmt !


    Ich wünsch dir viel Vergnügen !


    Gruß von Steffi

  • Hallo Bluebell!


    Leider kenne auch ich das Buch nicht, aber auch ich bin der Meinung, dass es einen Unterschied macht, ob man die Schauplätze eines Romans kennt. Vor ein paar Wochen habe ich z.B. die Buddenbrooks gelesen und freue mich jetzt schon auf meine Lübeckreise in einigen Wochen (v.a. natürlich auf das Buddenbrookhaus und auf Travemünde). :klatschen:


    Grüße von marin

  • Hallo Bluebell!


    Ich beschäftige mich zur Zeit mit Doderer, kenne allerdings die Strudlhoftstiege nicht. Ist mir auch etwas viel für eine schnelle Lektüre, aber lesen würde ich es schon gerne, wenn nicht in nächster Zeit.


    Naja, es ist halt ein Wiener-Roman, wenn man die Stadt kennt, öffnen sich natürlich viele Dinge - genauso wie Döblins "Berlin Alexanderplatz". Ach ja, und bitte sich nicht zu sehr von der Nazivergangenheit des Autors abschrecken lassen.


    Grüße
    markizy

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Bluebell"

    Hat jemand von euch die Strudlhofstiege schon gelesen? [...] Denkt ihr, es macht einen Unterschied, ob man als Leser ein Wiener/Österreicher oder von anderer Nationalität ist?


    Deine erste Frage muss ich verneinen. Ich habe bisher um Doderer immer einen Bogen gemacht. Wer freiwillig der NSDAP beitritt, auch wenn er es kurze Zeit später rückgängig macht und katholisch wird, ist nicht unbedingt ein Kandidat für meine 'Muss-ich-lesen'-Liste ...


    Zu Deiner zweiten Frage: Es gibt ja Leute, die behaupten, dass man den Österreicher und v.a. den Wiener nur ganz (oder wenigstens halbwegs) verstehen könne, wenn man vor Ort gelebt hat. Das hat durchaus etwas. Andererseits kann es wohl auch den Blick trüben.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo sandhofer!


    Die Nazivergangenheit Doderers ist problematisch.
    Ja, er ist sogar 1933, als NSDAP in Österreich verboten war, der Partei beigetreten, hat allerdings nichts parteipolitisches veröffentlicht. Keine öffentliche (sieht man von der Mitgliedschaft ab) Werbung oder so. Blöderweise war der Mann auch 1936-38 in Dachau, ist aber trotzdem nicht ausgetreten. Eigentlich findet sich auch keins Austrittsersuch, er hat sich von der NSADAP distanziert.


    Wenn man die Tagebücher liest, dann erkennt man, dass Doderer den Fehler einsieht, den er begangen hat. Eine öffentliche Entschuldigung hält er wohl aber für unwichtig.


    Man muss aber festhalten, dass er nichts pronazistisches veröffentlicht hat, er war eher ein "unpolitischer" (schwierige Bezeichnung bei einem willentlichen Parteieintritt) Nazi, hatte auch viele jüdische Freunde, was für ihn aber kein Grund war, aus der Partei auszutreten.
    Nach dem Krieg erschien für ihn die Entschuldigung als ein Bussgang nach Canossa, den er nicht tun wollte und auch nicht für wichtig hielt. Ob er sich gewandelt hat, ist unter diesen Umständen strittig, es gibt auch die Meinung, dass er sich den Siegern angepasst hat. Ich nehme ihm die Entschuldigung aber ab, die er wohlgemerkt nur in den Tagebüchern (und auch nicht explizit!) eingestanden hat.


    Grüße
    markizy

  • Zitat von "sandhofer"

    Ich habe bisher um Doderer immer einen Bogen gemacht. Wer freiwillig der NSDAP beitritt, auch wenn er es kurze Zeit später rückgängig macht und katholisch wird, ist nicht unbedingt ein Kandidat für meine 'Muss-ich-lesen'-Liste ...


    Hallo sandhofer,


    das ist aber schade. Da entgehen dir zum Beispiel bei Benn einige der schönsten Gedichte der deutschen Literatur.
    Ich will hier unter diesem Link jetzt keine Diskussion breittreten, aber ich denke, eine offensive Auseinandersetzung mit Autoren, die sich später distanziert und ihren Fehler eingesehen habe, in welcher Form auch immer, ist schon wichtig. Das bedeutet, dass man sie kritisieren, aber nicht pauschal verurteilen sollte, sondern schauen muss, inwiefern sich die Einstellung in ihrem Werk widerspiegelt: Was davon kann man stehen lassen, und was muss man auf den Nazi-Misthaufen werfen?
    Gruß
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    [...]ich denke, eine offensive Auseinandersetzung mit Autoren, die sich später distanziert und ihren Fehler eingesehen habe, in welcher Form auch immer, ist schon wichtig.


    Ich verurteile ihn nicht; ich mache einen Bogen um ihn. Und von Benn habe ich auch nur ein schmales Bändchen früher Gedichte und das eine oder andere in Sammlungen.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Danke für eure Antworten! :klatschen:
    Ich denke schon, dass ich das Buch einmal lesen möchte.


    Zur Nazi-Vergangenheit von Doderer: das alleine ist für mich eigentlich kein Grund, einen Bogen um ihn zu machen - eher macht es mich noch neugieriger, ob seine politischen Ansichten irgendwie erkennbar in sein Werk (im konkreten Fall eben die Strudlhofstiege) eingeflossen sind.


    btw: Hat zufällig jemand die Zeiträume im Kopf, was das Entstehen der Strudlhofstiege und Doderers NSDAP-Sympathisierung betrifft?


    Nicht zuletzt kann man sich (bzw. kann ich mich :zwinker: ) ja auch für etwas interessieren, mit dem man sich absolut nicht identifiziert oder dem man sogar ablehnend gegenübersteht - ob es sich dabei nun um Ideologien, Menschen oder Sonstiges handelt.


    Schönen Abend noch,
    wünscht Bluebell :winken:

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Bluebell!


    01.04.1933: Eintritt in die NSDAP. Bei einem so frühen Eintritt muss Doderer schon Gründe gehabt haben, die Massenhysterie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhanden. Nun, seine Frau war jüdischer Herkunft. Er hat sie 1921 nach seiner Ankunft in Wien aus der russischen Kriegsgefangenschaft kennengelernt und 1930 geheiratet. Es war eine Hass-Liebe, 1931 folgt die Scheidung und dann ein Jahr später die endültige Trennung von seiner Frau.


    Nun hasst er alle Juden und schreibt so etwas in Briefen:
    "Was hab ich in Wien? Kaum eine Redaktion, kaum einen Verleger mehr. Fast alles jüdisch und daher jetzt zergehend wie Eis in der Hand. "


    Deshalb fährt er auch nach Deutschland (1936-38), zumal nun auch nur Autoren die in der Reichsschriftumskammer aufgenommen sind, veröffentlichen dürfen. Blöderweise sucht er sich ausgerechnet Dachau als Wohnort aus (München ist zu teuer).


    1940 tritt er der katholischen Kirche bei (1930 ist er aus der evangelischen ausgetreten und bezeichnete sich seitdem als konfessionslos), der Priester, der ihn begleitet hat, wird später von den Nazis verhaftet.
    Aber bevor er sich entscheiden muss, wird er glücklicherweise einberufen, zwei Tage nach seiner Taufe. Man muss auch sagen, dass er ein Offizier war, also kein normaler Gefreiter.


    Aus der Partei ist er niemals ausgetreten, aber ich glaube auch, dass dies ab Herbst 1939 wohl nicht mehr so leicht war. Abgesehen von einem Visaersuch für eine Auslandsreise hat Doderer nichts vorzuweisen.


    Erste Studien zur Strudlhofstiege finden sich ab 1941, so richtig damit begonnen hat er aber nach dem Krieg. Die Nazithematik würdest Du, Bluebell, eher in den Dämonen finden, an denen Doderer seit den 30ern gearbeitet hat und die er für die Nazis mit folgenden Worten schmackhaft zu machen versuchte:
    "Ich glaube, dass die jüdische Welt im Osten deutschen Lebensraumes von einem rein deutschen Autor in den Versuchsbereich der Gestaltung gezogen wurde. Denn die bisher darüber schrieben (Schnitzler, Wassermann etc. etc.) waren selbst Juden und ihre Hervorbringungen können wohl seit langem schon nicht mehr ernsthaft gelesen werden. Ich versuchte, dieses Theatrum Judaicum sozusagen in drei Stockwerken vorzuführen: auf der Ebene des familiären und erotischen Lebens, auf der Ebene der Presse und der Oeffentlichkeit, und endlich auf der Eben der Wirtschaft in der Welt der grossen Banken."
    Der Roman hieß auch früher "Die Dämonen der Ostmark", nach dem Krieg hat Doderer eifrigst Einschübe geschrieben, um dieses Werk zu retten.


    Sehr gut zur Einführung ist die Homepage der Doderer Gesellschaft http://www.doderer-gesellschaft.org und als Buchform die rororo-monographie.



    Grüße
    markizy

  • Wow, markizy, vielen lieben Dank für diese ausführliche Antwort! :blume:


    Dieser ganze Werdegang ist ja wirklich hochinteressant. Doderer scheint tatsächlich ein seltsamer Mensch gewesen zu sein - einerseits mit einer Jüdin verheiratet (naja, später geschieden), und er bewegte sich auch in einem jüdischen Freundeskreis, andererseits ein NSDAP-Mitglied der ersten Stunde ...
    Wie kann es denn zu so einer seltsamen Lebenssituation kommen? Spontan fällt mir als einzige (halbwegs) plausible Erklärung ein, dass er ein eher charakterschwacher Mensch war, der gar nicht das Bedürfnis hatte, sich klar auf eine Seite zu schlagen, sondern sich je nach Lust & Laune einmal hier, einmal dort "einweinberln" wollte.


    Mir die HP genauer anzuschauen, habe ich im Moment leider keine Zeit, aber das werde ich sicher noch nachholen - spätestens, wenn ich die Strudlhofstiege lese! :zwinker:


    Gruß,
    Bluebell

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Bluebell!


    Danke für die Blumen! Ich habe zwischenzeitlich in der tollen Biographie von Wolfgang Fleischer (Das verleugnete Leben) gelesen und habe einige interessante Sachen erfahren.


    So hat Doderer in der Zeit seines Ruhms für Satanisten (!) mittelalterliche Texte, die sich um die Thematik drehen, übersetzt. Er war ja studierter Historiker und des Mittelhochdeutschen mächtig. Doderer hatte einen starken Hang zur Mystik - Hexen, Drachen, Zauberei, Schicksalseinflüsse, dies alles hat ihn ungemein fasziniert. Wie sich aber für einen gläubigen Katholiken, der Doderer ja war (er trat der katholischen Kirche bewusst bei) eine "Zusammenarbeit" mit Satanisten erklärt, weiß ich nicht.


    Soviel zum charkaterschwachen und entscheidungsunfreudigen Menschen.


    Interessant ist auch, dass Fleischer, der Doderer in seiner letzten Lebensphase gekannt hat, er war sozusagen sein Assistent, für Doderer auf dessen Anweisung die gesamte Post erledigte, Briefe in seinem Namen und seinem Stil selbstständig geschrieben hat.


    Die Persönlichkeit Doderers ist meiner Meinung schwer zu deuten, eigentlich weiß ich nicht, wie ich über ihn denken soll.


    Gruß
    markizy

  • Hallo zusammen,


    seit einiger Zeit lese ich Doderers „Strudlhofstiege“ und bin doch recht angetan. Der Roman schildert Beziehungen und „gesellschaftliche Ereignisse“ in Wien zwischen 1911 und 1925. Dabei geschieht nur wenig äußerlich Entscheidendes, aber viel Atmosphärisches. Dieser Roman lässt in sehr dichter, oft lyrischer Schreibweise den Umbruch der KuK-Gesellschaft in die zerrissenen Strukturen der 20er und 30er Jahre aufleuchten, ohne politisch zu sein. Es geht immer nur um private Verwicklungen und Verirrungen, aber darin sichtbar wird die Unsicherheit der Menschen dieser Zeit, die sich dann z.B.– wie auch Doderer selbst zeitweise – der faschistischen Ideologie zuwenden bzw. in ihrem Leben scheitern.
    Das Buch ist – wie wohl die meisten Werke Doderers – intensiv autobiografisch: Die Figuren verbergen nur notdürftig den Autor (René Stangeler), seine Familie, Geliebten und Freunde.
    Dies alles hat sich mir nur ganz erschlossen, seitdem ich eine Biografie von Lutz- D. Wolff über Doderer (romo) begleitend lese.
    Danach ist Doderers politischer Werdegang wohl als ziemlich problematisch zu bezeichnen:
    Sowohl seine innere Zerrissenheit als auch eine problematische Vaterbeziehung und dadurch verursachte Hinwendung zu autoritären Strukturen sowie offener Opportunismus haben ihn schon im April 1933 der NSDAP beitreten lassen. Er hat sich dann schnell wieder in sein Privatleben zurückgezogen, aber wohl nicht wirklich sein politisches Denken reflektiert. Zu diesem Thema hat aber Maritzky auch schon ausführlich Stellung genommen.
    Dennoch hat dieser 1947 erschienene Roman seine Qualitäten: Er wirkt bisher – wie gesagt sehr unpolitisch und zeigt gerade dadurch mehr über die gesellschaftlichen Strukturen auf, als Doderer wohl selbst beabsichtigte. Außerdem ist er sprachlich ganz wunderschön geschrieben und außerdem teilweise sehr humoristisch, ja satirisch. Darin erinnert er mich an Jean Paul und Wilhelm Raabe.
    „Die Dämonen“ sind die Fortsetzung dieses Romans und Doderers Hauptwerk, sie schließen zeitlich an und gehen wohl bis zum „Anschluss“ Österreichs.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Im Grunde genommen sind das doch lauter Gemeinheiten.


    Auch wenn es Zusammenhänge zwischen Dämonen und Strudlhofstiege gibt, kann man die beiden Romane durchaus auch für sich lesen. Generell würde ich die Strudlhofstiege dringend empfehlen, ein großartiger Roman. Wenn einem der gefällt, sollte man sich an die Dämonen machen. Die Bekanntschaft mit dem Sektionsrat Gyrenhoff sollte man nicht versäumen. Und die Schilderung der Julirevolte 1927 in Wien ist umwerfend. Hat mich schwer beeindruckt.


    Wem das zu dick ist und wer Spaß an Grotesken hat, der könnte einen Blick in Die Merowinger werfen. Sehr komisch, aber auch sehr abgründig (wie Doderer überhaupt ein Autor mit einem ausgeprägten Sinn für grotesken Humor ist).


    Recht geradlinig und unkompliziert, fast schon ein Krimi ist Ein Mord, den jeder begeht


    Auch Doderers Essays, hier besonders über die Wiederkehr der Drachen sind wichtig.


    Ein Kritiker meinte mal, wenn Eckhard Henscheid ein paar Jahrzehnte früher geboren und in Wien gelebt hätte, hätte er geschrieben wie Heimito von Doderer. Schief wie alle Vergleiche, aber so schief dann doch wieder nicht.

  • Hallo giesbert und alle,



    Auch Doderers Essays, hier besonders über die Wiederkehr der Drachen sind wichtig.


    Über die Symbolik der Drachen, verkörpert auch als Schlange und wohl immer positiv besetzt, habe ich auch in der Biografie gelesen. Sie spielt auch in der "Strudlhofstiege" eine große Rolle, als der junge René Stangeler in der Nähe der Sommervilla seiner Eltern einer riesigen Natter begegnet, die ihm Einblicke in sein Innneres ermöglicht.


    Was mich an dem Roman so fasziniert, ist die wunderbar dichte atmosphärische Schilderung und das völlig unverkrampfte Ineinander von Hochsprache und mundartlichen Ausdrücken.
    Falls es mal langatmig und ein bisschen zerfaselt wird, was hin und wieder zumindest in meinen Augen geschieht, wenn Doderer seinen Protagonisten "Philosophisches" und zum Teil arg Sentenziöses in den Mund legt, kommt wieder so eine dichte lyrische Passage oder humorige Seitenhiebe, dass man sofort wieder gefesselt ist.
    Übrigens einer der schönsten Romananfänge, die ich kenne. Hab ich aber wohl schon an anderer Stelle erwähnt.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo! Ja, ich lese jetzt die Strudlhofstiege. Sie ist sehr sehr anspruchsvoll. Mehr als 20 Seiten an einem Tag kann ich wirklich nicht lesen. Nach zehn Seiten bin ich schon ganz ermüdet. Aber das Buch ist so schön! Die Sprache ist wirklich so ungeheuerlich schön, und ich kann dir das Buch nur empfehlen.


    Hier eine sehr gute Kritik zum Buch!


    Und was ich hier so über den Autor lese... das ist ja fast unheimlich. Das hätt ich mir von ihm wirklich nicht erwartet.


    Wien kommt ja recht häufig vor, aber auch andere Ortschaften in Österreich. Ja, es ist wahrscheinlich besser, wenn man die Städte und Orte kennt, die vorkommen! Ich bin selbst Wiener und kenne also die Innenstadt und - ja, es ist ein schönes Gefühl, wenn man sich das ganz genau vorstellen kann, nur allzu notwendig erscheint es mir nicht.


    Übrigens fand ich die ersten 70 Seiten recht langweilig und langatmig wegen der so vielen Personen die immer nur ganz kurz erwähnt werden, und hab damals überlegt, ob ich nicht aufhören soll. Aber ab der Jagdszene ging es dann bergauf!


    Lieben Gruß.


    P.S. Die Strudlhofstiege ist wirklich sehr sehr schön ;) Gehe dort gern spaziern.

  • Hi,


    bin nun mit der Strudlhofstiege fertig und an meinen Eindrücken hat sich nichts geändert! Welche Irrwege auch immer der Autor in seinem Leben gegangen ist, da hat er uns ein ganz großes Werk hinterlassen!
    Die Qualität des Romans liegt meiner Ansicht nach weniger in seinem Inhalt und der etwas verquasten Lebensphilosphie und Romantheorie, die dahinter stecken, als in dem ganz einmaligen "Sound" dieses Buches. Ich bin sonst nicht in jeder Hinsicht für Anglizismen, aber dieser Begriff gibt am besten die sprachliche Stimmung wieder, die den Roman bestimmt.
    Man mag gar nicht wieder auftauchen, wenn das Buch ausgelesen ist.
    Im Winter will ich mich dann mit den "Dämonen " beschäftigen, die inhaltlich problematischer sein sollen, weil sich Doderers politischer Werdegang dort wohl recht deutlich spiegelt. Bin mal gespannt.


    Knabe : So anstrengend zu lesen finde ich den Roman gar nicht. Nur wenn sich René Stangeler in seinen philosophischen Reflexionen ergeht, dann griff ich zu anderen Büchern. Man sagt ja, dass der Roman schwierig zu lesen ist, kann ich für mich nicht bestätigen.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Hallo!



    Dem kann ich mich nur anschließen. Ein sorgfältig komponiertes, sprachgewaltiges Buch. Einer der besten mir bekannten Romane.


    Großer Grunzlaut. - Ein besondere Empfehlung gilt auch der Biographie von Wolfgang Fleischer, kenntnis- und detailreich, ohne das häufig Verklärende solcher Lebensbeschreibungen. Und: Eigentlich gehört zur "Strudlhofstiege" und den "Dämonen" noch ein drittes, der Chronologie entsprechend - erstes: "Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal".


    Dass man die Strudlhofstiege nur in kleinen Dosen à 20 Seiten zu sich nehmen könnte, kann ich nicht nachvollziehen. Kaum ein Buch hat mich so gefesselt; sosehr, dass ich mich manchmal bemühen musste, nicht allzu schnell zu lesen, um dem Gelesenen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.


    Zu Doderers Leben: Doderers eigentümliche Philosophie (besser Metaphysik) speist sich aus dubiosen Quellen: Weiningers "Geschlecht und Charakter", Hermann Swobodas Periodizität des menschlichen Organismus (nach dem "freisteigende" Erinnerung bei Frauen in 28, bei Männer in 23 Zeiteinheiten zu beobachten sind, was Doderer häufig als Beleg für bestimmte Assoziationen, aber auch als unschuldigen Grund des Vergessens vieler Ereignisse betrachtet - diesen war dann schlicht das periodische Auftauchen versagt), dazu noch Spenglers prophetische Geschichtskunde vom Untergang des Abendlandes und die mehr als dubiose "Welteislehre" Hörbigers, an welcher auch Hitler großen Gefallen fand. Aus dem allen entstand unter dem Einfluss des "Meisters" Gütersloh eine fatalistische Weltsicht, welche sowohl als Grundlage für seine Romane, noch wichtiger aber als - spätes - Erklärungsmodell für sein Leben diente.


    Befremdlich erscheint solches bei einem Autor mit einem derart scharfen, fast sezierenden Blick für menschliche Eigenheiten und Schwächen. Die Intensität der Beschreibungen, die Präzision der Metaphern, das Erzeugen von tief beeindruckenden Stimmungsbildern - all diese herausragenden dodererschen Fähigkeiten, die seine Romane zu einem außergewöhnlichen Genuss werden lassen, bleiben zum Glück von diesem lebens- und literaturtheoretischen Brimborium fast unberührt. Wenngleich ich nun weiß, woraus sich in manchen seiner Romane mein Unbehagen speiste: Wenn ich etwa beim "Mord, den jeder begeht" über die fast penetrant wirkenden Zufälle hinweglas und ohne der eigentlichen Handlung allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken, von Beschreibung zu Beschreibung, Metapher zu Metapher voranschritt. Was ich jedoch als Schwäche des Romans betrachtete, war ihm Theorie: Gerade die unwahrscheinlichen, mich verstörenden Zufälle (derer es auch in seinen anderen Romanen nicht wenige gibt) waren beabsichtigt und vom fatalogischem Gedankentum getragen in der Form, dass man eben seinem Schicksal nicht entkommen könne. Spengler auf einer individuellen Ebene.


    Aber das wirklich Fatale, weil die Qualität der Bücher ja kaum beeinflussende, ist eben nicht die romantheoretische Ausprägung dieser Ansichten, sondern die Tatsache, dass er seine Ideen auch auf sein Leben bezog. Und zwei Wirklichkeiten statuierte: Eine erste (die wahre und einzige, die dem des Künstlers entspricht, der nur seiner Kunst zu leben hat) - und eine zweite, außen sich befindliche, die zufällig und austauschbar ist und nur der ersten Wirklichkeit dienstbar sein sollte. Dieses Ausblenden von Faktischem nutzte er zwiefach: Zum einen log er seine eigene (nationalsozialistische) Vergangenheit um (und für einen Fatalisten stellt sich der Determination wegen ohnehin keine Schuldfrage); zum anderen war sie auch nichtig, musste hinter seinem Künstlertum zurückstehen. Diese Vorgangsweise bezog sich aber nicht nur auf politische Dummheiten, sondern wurde, nicht unerheblich zu seiner Altersverbitterung beitragend, auch zum persönlichen Lebensmotto. Nichts war von Bedeutung außer der Kunst, auch die eigenen, oftmals wohl verdrängten oder verschütteten Wünsche waren sekundär, der zweiten Wirklichkeit angehörend. Tragisch und anrührend beschreibt Fleischer eine solche Verdrängung, wenn er Doderer voll Bewunderung vor einer Auslage mit Kinderschuhen beschreibt, plötzlich dessen tränende Augen sehend.


    Ob solches sich geändert hätte, wenn er nicht bis über sein 50. Lebensjahr hinaus ein gänzlich erfolg- und mittelloser Schriftsteller geblieben wäre, lässt sich natürlich nur vermuten. Aber dieser langgehegte Groll, das Verkanntsein, das tief verwurzelte Gefühl des Verfolgtwerdens treibt ihn zum einen zu einer ungeheuren Disziplin des Schreibens (auf der Suche nach Erfolg), zum anderen in eine verbohrte Bitternis, die auch mit der ungeheuren Anerkennung der letzten 15 Jahre kaum noch von ihm abfällt. Dennoch versöhnten (wie so oft) mich die letzten, schon von Krankheit gezeichneten Lebensjahre mit dem Autor, der dann Eigenschaften wie Großzügigkeit und Loyalität auch gegenüber ungeliebten Schriftstellerkollegen an den Tag legt. Wenn auch Unbegreifliches zurückbleibt: Etwa seine Weigerung, eine Unterschrift für seine damals schon lang getrennte lebende, jüdische Frau zu leisten, die ihr die Ausreise in die U.S.A. im Jahre 1938 ermöglicht hätte - und die er durch seine Haltung (er wollte die Scheidung erzwingen) der Gefahr der Verhaftung aussetzte. Solches aber betrachtete er im Nachhinein als der zweiten Wirklichkeit zugehörig - und damit war's bedeutungslos.


    Ein verleugnetes, stilisiertes, sich selbst erfindendes Leben. Irgendwann im Laufe der Neuerfindung der eigenen Vergangenheit, der theoretischen Vorstellung von der eigenen Zukunft ohne Rücksicht darauf, dass diese Zukunft immer auch ein Mensch erleben wird, glaubt man das Erfundene, glaubt auch an die eigenen Philosophie. Zurück bleibt jemand, der sich selbst vergewaltigt, unglücklich mit sich und seiner Umwelt. Denn zu dieser lassen sich aufgrund der eigenen Position nur abhängige Beziehungen aufbauen: Man hat Bewunderer oder aber lebt distanz- und respektvoll nebeneinander her. Beziehungslos. Ein solcher, unauthentischer Mensch muss auch sich selbst überzeugen können: Nur wenn er an das eigenen Lügengebäude glaubt, entgeht er dem "großen Grimm", Fusswinkel > 120 Grad. Doderer dürfte nicht dumm genug gewesen sein an sein Selbsterfundenes zu glauben, auch wenn seine theoretischen Bemühungen diesbezüglich enorm waren.


    Grüße


    s.