Kindlers neues Literaturlexikon:
Roman von Thomas Mann, erschienen 1909. - Nur scheinbar verläßt der Autor mit seinem zweiten Roman die sein Frühwerk beherrschende Thematik des Gegensatzes von Kunst und Leben. In der allegorischen Figur eines Fürsten gestaltet Mann erneut die Problematik des Künstlers, seine Einsamkeit, seine Verpflichtung auf die Form, sein Ausgegrenztsein vom Leben. Klaus Heinrich, die Titelfigur, wird mit einer »Hemmung« geboren; sein linker Arm ist verkümmert. Der Großherzog Johann Albrecht befürchtet eine schlimme Beeinträchtigung bei den Repräsentationspflichten des späteren Fürstenberufs. Staatsminister von Knobelsdorff jedoch erinnert an die Weissagung einer Zigeunerin, ein Fürst mit einer Hand werde dem Land »das größte Glück« bringen. Kindheit und Jugendjahre Klaus Heinrichs dienen vornehmlich der Vorbereitung auf die späteren Repräsentationsaufgaben. Goethezeitliche Motive wie Entsagung, Erziehung und Bildung werden vom Erzähler aus kritischer Distanz eingeführt. Großer Anteil an der Erziehung zum »Hohen Beruf« kommt Dr. Raoul Überbein zu, Klaus Heinrichs Lehrer, dessen erzieherische Ideen unverkennbar an Nietzsches Übermenschentum orientiert sind. Klaus Heinrich spürt bald, wie sehr seine »sinnbildliche Existenz« in Isolierung und Unwahrheit führt. Der Fürst wird reduziert zur »formalen Existenz«. Das Volk sieht sich zwar in der Figur seines Repräsentanten verklärt, aber es bestaunt seine »darstellerischen Übungen«, als wären es die der Soubrette Mizzi Meyer im Singspieltheater. Die Einheit zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem, zwischen Fürst und Volk, ist zerfallen. Schein und theatralische Unwirklichkeit bestimmen das fürstliche Dasein. Diese Scheinwelt wird in der Begegnung mit Imma Spoelmann schonungslos bloßgelegt: Klaus Heinrich sieht sogar die Glaubwürdigkeit seiner Liebe in Zweifel gestellt. Gemeinsam mit Imma studiert er Wirtschaftswissenschaften. Mit diesen »wirklichen Studien über die öffentliche Wohlfahrt« gewinnt er ihr Vertrauen. Das Attrappendasein weicht der Wirklichkeit. Das Volk, für das Imma eine »Prinzessin in des Wortes sonderbarster Bedeutung« ist, nimmt regen Anteil an der »Annäherung zwischen den Häusern Grimmburg und Spoelmann«. Durch die Heirat Klaus Heinrichs mit Imma wird aus »zwei Sonderfällen so etwas wie ein Allerweltsfall«. Die Einheit zwischen Volk und Fürst stellt sich wieder her - und den Staatsfinanzen kommt der Reichtum von Immas Vater zugute. Die Weissagung der Zigeunerin hat sich erfüllt. Märchenhafte und komödienhafte Elemente verbinden sich in diesem Roman mit autobiographischem Hintergrund. Thomas Manns Heirat mit Katja Pringsheim (1905) fällt in die Entstehungszeit dieses »Lustspiels in Romanform«. Züge und Requisiten des Wilhelminischen Zeitalters prägen das Ambiente, das seinen Charakter einer Theaterwirklichkeit nie verliert. Es sei, so vermerkt Thomas Mann gegenüber K. Martens, sicherlich »mißverständlich«, in dem Roman ein »sozialkritisches Buch zu sehen«, und an E. Bertram schreibt der Autor über den Schluß des Romans: »Ein bißchen demagogisch, ein bißchen populär verlogen« (Brief vom 28. 10. 1910). Dies gilt weniger deshalb, weil das Volk auf die Rolle von »Statisten« beschränkt bleibt (Heinrich Mann in seinem Briefentwurf vom 5. 1. 191 und die aristokratische wie die ökonomische Sphäre lediglich als schöne Fassaden erscheinen; vielmehr ist der Versuch des Fürsten, sich aus seiner isolierten Existenz ins Leben zu flüchten und den Zwang zur repräsentativen Haltung, zur Form, mit individuellem Glück und einem unverfälschten, authentischen Gefühl verbinden zu können, für den Autor selbst offensichtlich wenig überzeugend. Die von Nietzsche (in seiner Kritik an Richard Wagner) konstatierte Entfremdungssituation des modernen Künstlers, dem die von ihm gestalteten Lebensäußerungen und -schicksale nur noch zum Material für Effekte und dramaturgische Kunstgriffe werden und der allein an der Wirkung, nicht an den Inhalten interessiert ist, umreißt zugleich die Grundproblematik des Mannschen Frühwerks; so wenig seine Helden zurück ins Leben finden, so wenig kommt er selbst über die Befangenheiten und Grenzen dieser Künstlerrolle hinaus. Erst das Ereignis des Ersten Weltkriegs führt letztlich zur Überwindung dieses, Ästhetizismus und Décadence prägenden Themenkomplexes. Prof. Dr. Gunter Reiss/KLL