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  • Die Städtetrilogie von Zola habe ich komplett gelesen, wobei ich den Band über Rom ein wenig langatmig fand. Zola lässt seinen Protagonisten lang und breit über eine Art katholischen Staat theoretisieren, was vom heutigen Standpunkt aus ziemlich bizarr wirkt, und nach einiger Zeit wird es redundant. "Paris" und "Lourdes" hat mich dagegen gut unterhalten. "Lourdes" habe ich sogar zweimal gelesen, beim zweiten Mal parallel mit Werfels "Bernadette"-Roman.


    Mit den Rougon-Macquart-Romanen bin ich immer noch nicht komplett durch, vor allem die beiden letzten kenne ich nicht. Das sollte ich bald mal nachholen.


    Übrigens habe ich auch die drei vollendeten Romane des "Evangelien"-Zyklus gelesen - ist schon länger her. Ich fand sie recht kurios, vor allem "Fruchtbarkeit" ist mehr als bizarr.

  • Ich sehe gerade, dass "Der Bauch von Paris" nur ein Einzelband von den "Rougon-Marquart" ist. Irgendwie hatte ich im Gedächtnis, dass der ganze Zyklus so genannt wird. Sorry! :S

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich sehe gerade, dass "Der Bauch von Paris" nur ein Einzelband von den "Rougon-Marquart" ist. Irgendwie hatte ich im Gedächtnis, dass der ganze Zyklus so genannt wird. Sorry! :S

    Die Romane des Zyklus spielen keineswegs alle in Paris, die Schauplätze sind über ganz Frankreich verteilt . Als ich von Zola total fasziniert war (in den 80ern/90ern) habe ich mir ein dickes Buch über seine Recherchearbeit gekauft. Wahnsinn! Da waren ellenlange Notizen mit dazugehörigen Zeichnungen drin, wie etwa eine Büglerin eine Haube stärkt und bügelt, was für Eisen sie verwendet (es gibt spezielle Haubeneisen), wie sie heißgemacht werden usw. usf. Auf ähnliche Weise hat er auch den Gebrauch einer Sämaschine oder den Vorgang des Blutwurstkochens studiert.

  • Das merkt man seinen Büchern ja auch an. Gehört zum Naturalismus wohl auch dazu, wenn man's ernst meint. Und da fällt mir ein, dass ich zwei aus dem Zyklus gelesen habe, die nicht in Paris spielen, "Germinal" und "Die Erde". Manchmal macht diese Genauigkeit, gerade wenn es um die Schilderung von Armut geht, die Lektüre schwierig, aber gut

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Pirmin Meier, "Paracelsus - Arzt und Prophet", Zürich 1993, 470 Seiten;

    eine der aus meiner Sicht umfassendsten, großartigsten Biografien des berühmtesten Arztes ,und Naturforschers des Mittelalters - und "nebenbei" Begründer der eigentlichen Homöopathie, die erst im 18. Jahrhundert durch Dr. Samuel Hahnemann optimiert wurde...

    "Nichts ist schwieriger im Leben,

    und nichts erfordert mehr Charakter,

    als im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu stehen

    und laut zu sagen: 'NEIN !' "

    (Kurt Tucholsky)

  • ........schön, wie hier die feedbacks zu Beiträgen unterschiedlicher Art nur so entgegenfliegen.....

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  • Ich kann mich erinnern, dass mein Bruder mal ein für Jugendliche geschriebenes Buch über Paracelsus hatte. Weil ich als Kind nie genug Bücher um mich hatte, um meine Lesesucht zu befriedigen, las ich natürlich auch die Bücher meines Bruders, darunter auch dieses. Ich kann mich nur dumpf erinnern, es ist über 50 Jahre her, aber ich weiß noch, wie Theophrastus gegen die damals üblichen Praktiken - Aderlass und "Theriak" wurden gegen praktisch alle Leiden eingesetzt - sowie gegen die Viersäftelehre vorging und sich dabei eine Menge Feinde machte.
    In dem Buch hieß es noch, dass der Name Paracelsus quasi eine Kampfansage gegen den Römer Celsus, der die Säftelehre begründete, gewesen sein soll. Aber das scheint ein überholter Schluss zu sein.

  • Von oder über Paracelsus habe ich bisher nichts gelesen, aber vor kurzen einen Bericht im Fernsehen gesehen der sich mit den alten medizinischen Methoden aus Antike und Mittelalter beschäftigte. Dieser Bericht war sehr interessant und aufschlußreich, Tenor war, das heute viele Sachen wieder entdeckt werden und Anwendung finden, sogar der Aderlaß. Man hat sogar eine Anleitung gefunden, wie man ein bestimmtes Antibiotika herstellt, das heutzutage gegen den gefürchteten Krankenhauskeim hilft.


    Gruß, Lauterbach

  • Paracelsus (= Theophrastus Bombastus von Hohenheim (!) ) war nicht nur ein medizinischer, sondern generell naturwissenschaftlicher sowie philosophischer Revolutionär, der auf Grund seiner "Ketzer"-Reflexionen mehrfach aus seiner Heimat fliehen musste.

    Sein Ruhm beruht nach wie vor darauf, dass er (mit zahlreichen Selbstversuchen) Begründer der HOMÖOPATHIE war: "alle ding sind gift und nichts on gift. alein die dosis macht das ein ding kein gift ist."

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    (Kurt Tucholsky)

  • Im Rahmen meines 20. Jahrhundert-Projekt versuche ich auch ein paar Klassiker der Unterhaltungsliteratur dieses Jahrhunderts kennen zu lernen und habe mir dafür einige "klassische" amerikanische Krimis aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts ausgewählt. Begonnen habe ich mit Dashiell Hammet: Rote Ernte.
    Ich hatte zuvor gedacht, dass das sehr hard boiled sei, aber nein, sehr kühl und dennoch spannend erzählt, auch nicht chauvinistisch bisher. Mal sehen, was noch weiter kommt.

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  • Mir wurde im letzten Jahr "Das Gleichgewicht der Welt" von Rohinton Mistry empfohlen, ein Wälzer von über 800 Seiten, der in den Siebzigern in Indien spielt. In der bescheidenen Wohnung einer Witwe - die sich ihr selbstständiges Leben hart erkämpfen musste - treffen vier Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus zusammen, deren Lebensweg Stück für Stück erzählt wird. Das Buch ist leicht und angenehm zu lesen, was nicht darüber hinwegtäuscht, dass die geschilderten Vorkommnisse und Zustände z.T. ungeheuerlich sind, vor allem was die Auswüchse des Kastenwesens und die Korruption angeht. "Man muss ein feines Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung einhalten", dieser zufällige Ausspruch eines Ex-Anwalts ist wohl der Anlass für den Titel. Ich stehe irgendwo in der Mitte und lese mit Begeisterung.

  • Im Rahmen meines 20. Jahrhundert-Projekt versuche ich auch ein paar Klassiker der Unterhaltungsliteratur dieses Jahrhunderts kennen zu lernen und habe mir dafür einige "klassische" amerikanische Krimis aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts ausgewählt. Begonnen habe ich mit Dashiell Hammet: Rote Ernte.
    Ich hatte zuvor gedacht, dass das sehr hard boiled sei, aber nein, sehr kühl und dennoch spannend erzählt, auch nicht chauvinistisch bisher. Mal sehen, was noch weiter kommt.

    Hammett ist unbedingt empfehlenswert, meine ich, weit über das Genre Kriminalliteratur hinaus. Lag mir mehr als Chandler. Sam Spade ist DER hardboiled Detective, nicht Phil Marlowe.


    Ich hatte die Romane von Hammett seinerzeit alle gelesen, teilweise mehrfach. Der hier mein Favorit. Eigentlich ein Western-Motiv: der einsame Cowboy landet im Landkaff und spielt die konkurrierenden Banden gegeneinander aus. Womit das Abschlachten beginnt.


    Auch empfehlenswert: William Faulkner, "Die Freistatt". Knallharter Stoff. Und schon lange zur Wiederlektüre vorgesehen. Ebenso wie der Storyband "Der Springer greift an. Kriminalgeschichten".


    Ja, sehr vieles. Hast du schon mal was von Margaret Millar gelesen? Eigentlich so Vorstadtliteratur, und hinter den Fassaden brodelt's ...


    Preisfrage: warum ist Hammett Unterhaltungsliteratur und Faulkner "Hochliteratur"? Weil der den Nobelpreis gekriegt hat ;)

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • David Graeber (gest. 2021) / David Wengrow, "Anfänge - eine neue Geschichte der Menschheit"; diese 670 Seiten des selbsternannten "Anarchisten" David Graeber werden das zementierte Weltbild vieler Menschen, so sie denn den Autor überhaupt kennen, erheblich ins Wanken bringen. (Zitat HA)


    David Graeber, "bullshit jobs" (nomen est omen)


    Zwei hervorragende Werke, außergewöhnlich, provokativ !!

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  • Leibgeber, diese Grenze zwischen Unterhaltungs- und Hochliteratur ist ja hier bei uns in Europa auch viel stärker verankert als in den USA. Vielleicht hat es im Falle Hammetts auch damit zu tun, dass er damit begonnen hatte, seine Storys in dem pulp fiction-Magazin "The black mask" zu veröffentlichen. Ich weiß ja nicht, wo Faulkner angefangen hat, aber könnte mir vorstellen, dass hochnäsige Literaturkritiker aus diesen Anfängen bestimmten Autoren für immer einen Strick drehen. Außerdem ist es wohl schwierig, zu belletristischen Ehren zu kommen, wenn man ein Genre bedient, das zur Unterhaltungsliteratur gehört.
    Ich weiß nicht, ob ich deine anderen Vorschläge so mögen würde, eigentlich liegen mir amerikanische Krimis nicht so. Aber wahrscheinlich ist das auch nur ein Vorurteil. An Hammett gefällt mir besonders das Lakonische und die - ich nenne sie mal Nebenher-Charakterzeichnung - die er den anderen Gestalten im Roman angedeihen lässt: oft nur wenige Wörter über Aussehen und Verhalten und du hast den ganzen Typus vor Augen. Auch wie diese Stadt - Peaceville/Pissville geschildert wird, ist großes Kino.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • In den Dreißigern bin ich ja auch gerade mit meiner Hammett-Lektüre.

    Mir ist dabei wieder einmal aufgefallen, wie anders doch das /Er)leben in den USA zu dieser Zeit (Endzwanzigern und Dreißigern) war als hier in Europa oder sich zumindest in der Literatur spiegelt. Die Massenarbeitslosigkeit zu Beginn der Dreißiger Jahre als Folge der Weltwirtschaftskrise betraf zwar die Länder diesseits und jenseits des Atlantiks, aber während hier die Weltwirtschaftskrise und auch schon die Folgen des 1. Weltkriegs zu massiven politischen Auseinandersetzungen bis hin zu Straßenschlachten und dem Aufkommen faschistischer Systeme führte, sind es in den USA in den Zwanziger Jahren als Folgen des Kriegsgewinns ohne materielle Einbußen durch Zerstörungen ein zunächst beispielloser Aufschwung und Vermögensbildung für viele mit entsprechender hedonistischer Lebensführung, ehe es infolge der Prohibition und später des Börsencrashs zum Verfall des Rechtssystems (falls es vorher überhaupt schon gefestigt war) mit korrupten kommunalen Strukturen und einer weitgehenden Verbreitung von Wirtschaftsverbrechen in Form von organisierter Kriminalität kam. Dies zeigt sich in den Hammett-Krimis und auch in seiner Biografie . Aber das ist natürlich ein ganz kleiner Ausschnitt.

    Dennoch wird mir in letzter Zeit durch einige Autoren und Sachbücher immer klarer, dass auch die sogenannte westliche Welt viel unterschiedlicher in ihrem historischen Erleben und Gedächtnis ist, als ich mir bis dato klar gemacht habe.
    b.a.t., bin also durchaus interessiert daran zu erfahren, welche englischen Erfahrungen sich in Waughs Werk widerspiegeln. Ich kenne bisher nur "Wiedersehen mit Brideshead", dessen Lektüre aber auch zu lange her ist, als dass ich mich an Einzelheiten erinnern könnte.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich kenne Evelyn Waugh noch gar nicht, auch Brideshead nur als Film - aber "Eine Handvoll Staub" habe ich mir jetzt mal runtergeladen und werde demnächst hineinschauen - im Moment lese ich gerade in einer Leserunde zum zweiten Mal "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel. Großartiges Buch; vor allem fiel mir diesmal so richtig auf, wie sich die erzählerischen Mittel gewandelt haben, weil ich parallel gerade Karen Duves Regenroman gelesen habe: Werfel spricht auf jeder Seite des Buches auch von sich selbst, ob absichtlich oder nicht, während die Autorin des Regenromans sich geradezu hinter ihrem Buch versteckt. (Kann man natürlich auch nur bedingt vergleichen, die Erzählabsicht ist doch sehr verschieden.)

  • finsbury ich werde berichten :) bis jetzt fällt mir vor allem auf, mit welchem Biss er schreibt, wie er die englische High Society auf die Schippe nimmt.


    Den Werfel habe ich auch hier liegen. Ich habe mich ja letztes oder war es schon vorletztes Jahr viel mit den Exilliteraten beschäftigt und auch mit der guten Alma - die Schöne und das Biest in einer Person :)


    Im Rahmen dessen habe ich mir auch Bücher von Feuchtwanger gekauft, von dem ich bisher noch gar nichts gelesen habe.

  • b.a.t. : Dass Werfel eine Antisemitin geheiratet hat, spielte vielleicht eine Rolle bei seinem Zugriff auf das Thema Genozid an den Armeniern. Denn obwohl das Buch ja als rassismuskritisch gemeint ist, kommen in Werfels Schilderung immer wieder Rassismen durch, vor allem wenn er den "Typus" des Armeniers dem türkischen "Typus" gegenüberstellt. Auch in die Ehe zwischen der Hauptfigur Bagradian und seiner Frau Juliette ist vielleicht etwas von der Ehe Mahler-Werfel eingeflossen. Bagradian lebte lange Zeit in Europa ein bequemes Leben ohne finanzielle Sorgen, widmete sich seinen Studien und war stolz auf die Ehe mit einer Französin. Das fällt ihm aber alles mächtig auf die Füße, als er sich bei einem Besuch in der alten Heimat Armenien plötzlich in einer Zwangslage wiederfindet.


    Ich kann das Buch nur empfehlen. Es ist unglaublich gedankenreich und hat keine einzige langweilige Seite; man muss natürlich für das Lesen Zeit einplanen.