Manchmal hat man Glück. Ich war wieder mal am Offenen Schrank und sah im oberen Fach ein ziemlich abgegriffenes dünnes Buch stehen, das gar nicht verlockend aussah, der Titel auf dem Rücken war unleserlich verblasst. Ich habe es herausgezupft und die erste Seite aufgeschlagen - und siehe da, es war ein Roman von Sigrid Undset, die ich sehr schätze, "Frau Hjelde". Was für ein toller Fund!
In gewisser Weise ist es ein Emanzipationsroman, mit einer ähnlichen Ausgangssituation wie "Der Rangierbahnhof" von Helene Böhlau. Die Heldin ist Künstlerin (bei Böhlau Malerin, bei Undset Schauspielerin) und kann ihren Ehrgeiz in der Ehe nicht befriedigen. Böhlaus Heldin Olly reibt sich zwischen ihren Pflichten völlig auf und ruiniert damit ihre Gesundheit. Frau Hjelde gibt die Schauspielerei auf, nachdem ihr ein Kind gestorben ist - um sich ihren anderen Kindern uneingeschränkt zu widmen.
Undset ist Böhlau zweifellos überlegen; sie geht ihr Thema wesentlich vielschichtiger an. Aber am Ende ist natürlich die Familie, die Mutterschaft wichtiger als alles andere. Interessant ist - ich bewundere das bei Undset immer wieder - die erotische Anspruchshaltung ihrer Frauen. Undsets Heldinnen sind insoweit selbstbewusste Frauen, die ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen.