Was lest ihr gerade?

  • Unser Bäcker hat ein kleines "Offenes Regal" mit Spendenbox, aus dem ich neulich ein Buch von Elena Ferrante mitgenommen habe, "Lästige Liebe". Offenbar ein Frühwerk. Ich hatte noch nie etwas von Ferrante gelesen, aber dieses kurze Buch hat mich sehr beeindruckt. Kennt jemand hier die Neapel-Serie, mit der sie bekannt wurde?

  • Elena Ferrante hat eine eigene Website, die ich mir vorhin angeguckt habe. "Lästige Liebe" hat realphantastische Momente, die gegen Ende immer dichter werden, und ich hätte gern gewusst, ob die Autorin diese Erzählweise auch in dem Vierteiler aus Neapel so einhält. Das Buch beginnt mit einer Beerdigung, in der einige sehr groteske Szenen vorkommen, wie Kafka sie ersonnen haben könnte. In der zweiten Hälfte fühlte ich mich aber zunehmend an Phantasten wie Aickman oder Wolfkind erinnert.


    Vor allem zeichnet sich aber Ferrante durch etwas aus, was ich für mich privat den Ohrmuschel-Effekt nenne. In einer Anekdote über einen bekannten Schriftsteller - es kann sein, dass es Kafka war - habe ich gelesen, er habe beim Schreiben eines Tagebuchs oder Briefs sein Ohr betastet und genau beschrieben, wie sich das anfühlte. Nun hat wohl jeder schon mal sein Ohr betastet, aber normalerweise schreibt man nicht nieder, was man dabei empfindet. Das, so hieß es in der genannten Tagebuch- oder Briefaufzeichnung, sei Aufgabe des Schriftstellers - in Worte zu gießen (und damit zu definieren, gleichsam zu ordnen - ich weiß nicht mehr, wie es formuliert war), was der Leser/die Leserin "irgendwie" weiß oder kennt. Speziell was die Erlebniswelt von Frauen betrifft, habe ich diesen "Ohrmuscheleffekt" bei Siri Hustvedt angetroffen und nun auch bei Elena Ferrante. Ich möchte unbedingt mehr von ihr lesen; ich schreibe mir das mal fürs nächste Jahr auf - das laufende ist SUB-technisch schon voll, weil ich ja auch die Strudlhofstiege noch auf der Liste habe. :/

  • "Ein Glas voll Segen" von Barbara Pym habe ich durch, sehr schön und very british, aber nichts für Leute, die auf Handlung und Spannung stehen, obwohl die Lektüre sehr unterhaltsam ist. Hier ein paar Eindrücke dazu.


    Zefira, ich hab's zwar bestimmt schon mal geschrieben, aber dennoch: Freu dich auf "Die Strudlhofstiege", ein wunderbarer Roman und einer der Höhepunkte meines Leserlebens.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • bin Deinem Link gefolgt, finsbury, "hört" sich gut an. Ich denke, dass ich mir das gebraucht kaufe. Bücher, in denen nichts oder nicht viel passiert, sind sowieso oft ganz herrlich.Was empfiehlst Du mir außer dem Glas voll Segen von ihr? (Bin jetzt erst auf diesen herrlichen thread gestoßen).

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • bin Deinem Link gefolgt, finsbury, "hört" sich gut an. Ich denke, dass ich mir das gebraucht kaufe. Bücher, in denen nichts oder nicht viel passiert, sind sowieso oft ganz herrlich.Was empfiehlst Du mir außer dem Glas voll Segen von ihr? (Bin jetzt erst auf diesen herrlichen thread gestoßen).

    Nun, das freut mich sehr. Die beiden anderen Romane, die ich in dem gleichen Thread vorgestellt habe, lohnen sich auch sehr. Pym bekanntester Roman, "Vortreffliche Frauen", ist sogar gerade frisch als Taschenbuch erschienen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • seit gestern lese ich - finsburys Lockruf folgend - die vortrefflichen Frauen von Barbara Pym und bereue es nicht. Eine ganz fremde Welt. London in den ersten Nachkriegsjahren. Eine Frau Ende der Dreißiger, die sich sehr stark in der Kirchengemeinde engagiert (wenn ich es bei Wikipedia richtig verstanden habe, ist man ohne ein gewisses gesellschaftliches Engagement neben dem Kirchgang gar kein "ordentliches" Mitglied der jeweiligen verschiedenen kirchlichen Richtungen). Sobald ich Lust und Laune habe, schreibe ich weiter. Jetzt nur soviel: Finsbury hatte schon geschrieben, dass sich die Lektüre trotz relativer Ereignislosigkeit lohnt. Ich kann das bestätigen, wundere mich aber etwas über mich selbst, dass sie mich derart fesselt. Werde später VERSUCHEN, das zu erklären....

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  • Ha ha, jetzt sind wir hier alle auf die Spur gesetzt worden. Nachdem finsbury hier so viel geschwärmt hat, habe ich in meinem Regal nachgeschaut und die alte Ausgabe von 'Tee und blauer Samt' (Crampton Hodnet) tatsächlich noch gefunden, die ich Anfang der 1990er Jahre einmal gelesen habe. Nun habe ich mich damit wieder gern ins gesellschaftliche Leben in Nordoxford in den späten 1930er Jahren versetzen lassen. Wie eine schöne Mischung aus Jane Austen und P. G. Wodehouse. Eine sehr angenehme Lektüre!


    finsbury: Du darst Dich jetzt als Influencerin bezeichnen!;);)

  • Na, da fühle ich mich aber geehr und freue mich, dass mein Geschmack mich nicht getrogen hat! Die Autorin hat es aber auch verdient, wiederentdeckt zu werden. Für anglophile Leser ein Genuss. Leider kann ich ja von der verstorbenen Autorin keine Tantiemen abgreifen, aber ich gönne es auch den Verlagen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe einige Titel von ihr gefunden. Was empfehlt ihr als Einstieg?

    „Seit ich die deutsche Sprache kenne, träume ich nicht mehr davon die Welt zu verändern. Ich habe nur noch ein Ziel im Leben: Ich will diese Sprache erneuern.“ Abbas Khider

  • Zitat

    Ich verfolge eure Diskussion zu Pym sehr interessiert und bin am überlegen ob ich mir die vortrefflichen Frauen zulegen soll.

    Geht mir genauso. Leider ist meine Leseliste in den letzten zwei Wochen geradezu explodiert. Ich merke mir den Namen fürs nächste Jahr, in diesem wird es nichts mehr.

  • Die vortrefflichen Frauen habe ich "aus" und es hat mir gefallen, Wenn ich sagen sollte warum, würde ich Schwierigkeiten bekommen und bin dankbar, dass das finsbury schon übernommen hatte. Wenn man in einer gewissen Stimmung ist, in der man sich von Trump, Erdogan, Orban und Corona abkoppeln will und nicht stark gefordert werden will, ist das eine sehr willkommene Lekrüre, mit der man andante cantabile spazieren gehen kann. Der Genuss würde sich sicher noch beträchtlich erhöhen, wenn man mit den Feinheiten der Englischen Kirchlichkeit vertrauter wäre als ich ( römischkatholisch, anglokatholisch, Church of England, low church, high church usw.). Man erahnt aber die Gräben und die entspr. Anspielungen. Wichtig ist auch, dass man sich von der scheinbaren Sanftheit nicht völlig einlullen lässt und die vielen kleinen , aber meist höflichen Ironischen Spitzen nicht überliest. Den Schluss der vortrefflichen Frauen fand ich ganz wunderbar: Einem der drei immer mit Abstand umkreisten Heiratskandidaten der Ich-Erzählerin " scheint es letztlich zu gelingen, sie "einzufangen". Er ist Anthropologe. Sie könnte dann die Fahnenkorrekturen seiner Veröffentlichungen übernehmen...das ebenfalls anfallende Erstellen der Register sei dann eine willkommene Abwechslung. Sie stellt sich dann vor, dass man das Abwaschen dann als eine schöne Abwechslung von diesen Tätigkeiten sehen könnte. Nebenbei müsste sie den Pfarrer, einen anderen (dann ausgeschiedenen) Heiratskandidaten, davor beschützen eine andere ("falsche") aus dem Frauenkreis zu heiraten...."es sah fast so aus, als könnte mein künftiges Leben eines sein, das selbst Helena als erfüllt gelten ließ". (Helena, die (noch) Ehefrau des dritten Kandidaten, ist Anthropologin und hatte sich mal etwas abfällig über die Tätigkeit der vortrefflichen Frauen geäußert, die sich in der Kirche engagieren und ansonsten tüchtige Hausfrauen sind und ein "erfülltes Leben" dagegen gesetzt.) UFF.

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  • Das erinnert mich ein wenig an Middlemarch ...

    Wobei es in Middlemarch ja so ist, dass die Protagonistin sich darauf freut, ihren Gatten bei seiner wissenschaftlichen Arbeit mit Sekretärinnendiensten unterstützen zu können, und dann stellt sich heraus, dass alles, was er forscht, Schnee von gestern ist und ihrer Mühe nicht wert.

  • Nebenbei müsste sie den Pfarrer, einen anderen (dann ausgeschiedenen) Heiratskandidaten, davor beschützen eine andere ("falsche") aus dem Frauenkreis zu heiraten...."es sah fast so aus, als könnte mein künftiges Leben eines sein, das selbst Helena als erfüllt gelten ließ". (Helena, die (noch) Ehefrau des dritten Kandidaten, ist Anthropologin und hatte sich mal etwas abfällig über die Tätigkeit der vortrefflichen Frauen geäußert, die sich in der Kirche engagieren und ansonsten tüchtige Hausfrauen sind und ein "erfülltes Leben" dagegen gesetzt.) UFF.

    Die "vortrefflichen Frauen" sind schon ein besonders gute Werk von Pym. Hier ist die Ironie schon nicht mehr nur freundlich, sondern die ausbeuterische Haltung der mittelständischen Intellektuellen-Ehe wird hier sehr schön herausgearbeitet. Gut und richtig, dass offenbleibt, ob die Heldin auf ein Angebot eingeht. Wohl eher nicht ... .

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ja, stimmt, dass ich den Tiefgang "unterwegs" nicht so recht gesehen habe; erst in der grandiosen Schlusszene. Das kommt vermutlich daher, dass das Gespann Helena Rocky dann ja in der Ausbeutungsrichtung hätte "andersherum" funktionieren müssen. Ansätze sind ja da: Er kocht und räumt gelegentlich wohl etwas auf, aber für ein männliches Heimchen am Herd und als Korrekturfahnenleser ist er doch wohl ungeeignet(?!).

    ZEFIRA, sei so nett und verrate von Deinem Buch mal die Verfasserin usw. Danke.

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  • Nochmal zur Ausbeutung: Ganz hervorragend kommt das ja raus bei der strickenden und im Vortrag einschlafenden Frau des Präsidenten, die für ihn die Fahnen korrigiert und die Register angelegt hat, ohne das geringste Interesse an seinem Fachgebiet. Sie hat sich ja dann sofort nach seinem Tod von dem sie erdrückenden "Plunder" (vermutlich wertvollste Sammlerstücke aus Afrika) befreit. Mal was Ketzerisches: Man kann das evtl. auch anders lesen, nicht als Ausbeutung durch den Mann, sondern als versäumte Chance der Frau über die Nebentreppe Gefallen und Interesse an dem Fachgebiet zu gewinnen und zur Partnerin des forschenden Mannes zu werden, wie es offenbar in dem von Zefira geschilderten Tandem versucht wurde, leider am untauglichen Objekt, weil er eine Niete war. Bin ich ein Macho? Heute Abend hätte das meine Frau bejaht......"immer das Ding vor der Nase...."

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  • Middlemarch ist von George Eliot, Pseudonym der Autorin Mary Ann Evans. Das Buch erschien 1874 und gilt bis heute als einer der bedeutendsten englischsprachigen Romane. Es ist ein Gesellschafts- und Bildungsroman mit umfangreichem Personal aus allen Schichten. Mehrere Frauenfiguren sind mit deutlich gesellschaftskritischem Ansatz, das Frauenbild betreffend, geschildert.


    ps. Volker , ich sehe eben erst deinen zweiten Eintrag. Es ist so, dass die Hauptfigur Dorothea einen wesentlich älteren und wenig anziehenden Mann heiratet in der Überzeugung, ihm bei seiner historisch-wissenschaftlichen Arbeit unterstützen zu können (er schreibt ein Buch und betreibt dafür umfangreiche Studien, die sie für ihn abschreiben und ordnen soll). Nachdem die Ehe eine Zeitlang ihren Lauf genommen hat, fällt Dorothea mehr und mehr auf, dass ihr Gatte wissenschaftlich nicht auf dem neuesten Stand ist und zum Teil längst überholte Ergebnisse widerkäut. Zunächst versagt sie sich jede Kritik, dann macht sie ihm gegenüber freundliche Andeutungen, was er natürlich von sich weist, weil sie "keine Ahnung habe". Die inneren Nöte der sehr gewissenhaften Dorothea sind sehr überzeugend geschildert.