Was lest ihr gerade?

  • Manchmal hat man Glück. Ich war wieder mal am Offenen Schrank und sah im oberen Fach ein ziemlich abgegriffenes dünnes Buch stehen, das gar nicht verlockend aussah, der Titel auf dem Rücken war unleserlich verblasst. Ich habe es herausgezupft und die erste Seite aufgeschlagen - und siehe da, es war ein Roman von Sigrid Undset, die ich sehr schätze, "Frau Hjelde". Was für ein toller Fund!

    In gewisser Weise ist es ein Emanzipationsroman, mit einer ähnlichen Ausgangssituation wie "Der Rangierbahnhof" von Helene Böhlau. Die Heldin ist Künstlerin (bei Böhlau Malerin, bei Undset Schauspielerin) und kann ihren Ehrgeiz in der Ehe nicht befriedigen. Böhlaus Heldin Olly reibt sich zwischen ihren Pflichten völlig auf und ruiniert damit ihre Gesundheit. Frau Hjelde gibt die Schauspielerei auf, nachdem ihr ein Kind gestorben ist - um sich ihren anderen Kindern uneingeschränkt zu widmen.

    Undset ist Böhlau zweifellos überlegen; sie geht ihr Thema wesentlich vielschichtiger an. Aber am Ende ist natürlich die Familie, die Mutterschaft wichtiger als alles andere. Interessant ist - ich bewundere das bei Undset immer wieder - die erotische Anspruchshaltung ihrer Frauen. Undsets Heldinnen sind insoweit selbstbewusste Frauen, die ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen.

  • Noch ein Undset-Roman, diesmal in einer (ausgezeichneten!) Neuübersetzung: "Viga-Ljot und Vigdis".


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    Was für ein Buch! Mir ist zumindest in diesem Jahr noch kein Buch begegnet, in dem mit derart sparsamen Mitteln (gerade mal 190 Seiten!) eine derartige erzählerische Wucht entfaltet wird. Ich habe es in alle Richtungen empfohlen, und jetzt auch hier. Großartige Lektüre!

  • Kleiner Zwischenbericht in der Pause zwischen "Swanns Welt" und "Mädchenblüte": Ich komme nur langsam voran, aber das liegt nicht an Proust, sondern an mir – der Roman hat imho regelrechte Schmökerqualitäten, verlangt aber auch Aufnahmebereitschaft und Konzentration bei der Lektüre. Man muss in der richtigen Stimmung sein, um sich von den weit ausladenden Satzgebilden tragen zu lassen.


    Was mich überrascht hat: Proust kann sehr komisch sein, das hatte ich jetzt nicht erwartet. Bei "Eine Liebe von Swann" musste ich mehrfach lachen, nicht nur über die Dialoge und das Gehabe des gehobenen Bürgertums, das Proust ebenso minutiös wie satirisch mitprotokolliert, sondern auch über das Gefühlsdurcheinander von Swann. Aber das ist wohl eine Frage des Alters – mit 20 oder so hätte ich vermutlich viel identifikatorischer gelesen als jetzt mit 60 … Es ist ein wenig bedauerlich, dass mir da jetzt der Vergleich fehlt, ich kann das nur aus den Lektüreberichten anderer Leser:innen schließen. Aus dem hier z.B.:


    Die Wahrnehmungen, Erlebnisse, die Leidenschaft Swanns für Odette, die Ängste, die Selbstqual und Eifersucht, die Seligkeiten: Das alles kannte ich!

    https://tell-review.de/schattenlektuere/


    Alles richtig. Aber mit 60 kennt man das nicht nur, sondern hat auch genügend ironische Distanz zu sich selbst, um die Komik zu erkennen. Oder sollte sie haben …


    Überraschend auch, dass es (bislang) eigentlich keine sympathischen Figuren gibt (also jedenfalls keine, die mir sympathisch wären), der Ich-Erzähler ist ein weinerlicher Hypochonder, das übrige Personal ein Haufen snobistischer Deppen. Der Ton des gesamten Romans scheint mir bei aller Intimität seltsam distanziert und gänzlich unempathisch, fast schon klinisch.


    Na, mal sehen, wie das weiter geht :-)

  • ich hab das gerade mal überflogen – wenn ich in dem Tempo weiterlese, werd’ ich wohl den Rest des Jahres damit beschäftigt sein. Hm. Eine Entscheidung, für etwas ist halt auch immer eine gegen etwas anderes …

    Ich habe für die verlorene Zeit drei Jahre gebraucht, da bist du richtig gut. Aber ich brauchte damals auch viele Bücher als Erholung dazwischen, vor allem bei den Bänden mit Albertine im Mittelpunkt. Die ersten drei Bände fand auch ich teilweise sehr witzig und gut zu lesen.

  • Ich habe für die verlorene Zeit drei Jahre gebraucht, da bist du richtig gut. Aber ich brauchte damals auch viele Bücher als Erholung dazwischen, vor allem bei den Bänden mit Albertine im Mittelpunkt. Die ersten drei Bände fand auch ich teilweise sehr witzig und gut zu lesen.

    Meine längste Lesedauer waren mal 2,5 Jahre für Zettel's Traum … Vor "Die Gefangene" und "Die Entflohene" graut's mir jetzt schon, darüber liest man ja eher selten etwas Gutes. Aber erstmal muss ich soweit kommen ;-) -- und wie's der Teufel will, bin ich prompt in den letzten Tagen überhaupt nicht zum Lesen gekommen. Naja. Wenn ich Ende des Jahres damit durch bin, will ich’s zufrieden sein – Lektüre ist ja kein Wettbewerb, wer am schnellsten lesen kann oder wer am meisten Bücher gelesen hat.

  • Naja. Wenn ich Ende des Jahres damit durch bin, will ich’s zufrieden sein – Lektüre ist ja kein Wettbewerb, wer am schnellsten lesen kann oder wer am meisten Bücher gelesen hat.

    Ich verdaddele auch meinen ganzen Jahresurlaub mit einem historischen Roman über Friedrich den Zweiten und wollte eigentlich noch so viel Anderes lesen ... . Aber du hast Recht, Leser müssen nicht an Leistungsschauen teilnehmen, sondern genießen.

  • Fertig. Und bin sehr zufrieden. Inclusive Kommentare und ganz brauchbares Nachwort, das ich mir länger gewünscht hätte. Aber HH Henschen verstarb ja, ohne das Gesamtwerk richtig abschließen zu können. So steht es hintendrin. Ich werde mich jetzt ins Sottisier stürzen. Wird schwierig, das zu lesen, ohne den Buchrücken zu beschädigen. Der Band ist bei 1084 Seiten 7 cm dick.

    Dem Flaubert geh ich schon länger fremd, klar. Zur Zeit endlich mal :

    Thomas Mann, Der Zauberberg.

    Zumindest kann ich mich nicht erinnern, es je gelesen zu haben.

    Wogegen ich Buddenbrooks, in sehr jungen Jahren, zweimal zwischenhatte.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Ich bin auch wieder mal bei Proust. Nämlich in den dieses Jahr bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen "Frühen Erzählungen" unter dem Titel " Der geheimnisvolle Briefschreiber". Juvenilia, aber der Kommentar versucht, einem die Zusammenhänge und Fäden, die später zur "Suche" führen sollten, schon mal aufzudröseln. Interessante Lektüre bisher.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich habe im Urlaub endlich Stanislaw Lem gelesen. Zuerst Solaris und dann die Sterntagebücher. Mein Verdacht, dass Solaris schlecht übersetzt wurde, hat sich inzwischen bestätigt. Ich habe eine antiquarisch gekaufte Ausgabe, die von Suhrkamp scheint besser zu sein. Die Sterntagebücher (die habe ich von Suhrkamp) sind dagegen sehr gut übersetzt, Bei Lem ist das oft gar nicht so einfach, da er für seine Schilderungen fremder Welten oft die passenden Worte einfach erfindet.
    Solaris ist wunderbar, selbst in der zweitklassigen Übersetzung eine Lesefreude.

    Korrektur: die Suhrkamp-Übersetzung ist mit der, die ich habe, anscheinend identisch. Was ich anscheinend bräuchte, wäre die Übersetzung von Kurt Kelm. Vielleicht kann ich sie irgendwann antiquarisch bekommen.

  • Bei mir auch mal wieder was, nämlich Jesmyn Ward "Vor dem Sturm", eine arme afroamerikanische Familie kurz vor dem Hurrikan Katrina in New Orleans. Jesmyn Ward hat dafür 2011 den National Book Award bekommen. Bin jetzt bei knapp der Hälfte des Buches, was mir durchaus gefällt, es fehlt mir aber ein Standpunkt, den z.B. Toni Morrison in ihren Büchern, die aus ähnlicher Perspektive schrieb, immer hatte, soweit ich das beurteilen kann.


    Gruß, Lauterbach

  • Und ich befinde mich im Tudor-England mit dem dritten Band von Hilary Mantels Trilogie, "Spiegel und Licht". In keiner Weise vergleichbar mit den ganzen anderen historischen Romanen. In langen Gesprächen , Reflexionen und Rückblicken rollen sich die Charaktere mit ihren historischen aber auch allgemein menschlichen Bedingtheiten auf. Großartige Schriftstellerin!

  • Ich habe beim Aufräumen ein Buch gefunden, das meine Mutter laut Vorsatzblatt 1941 erworben hat: "Der Femhof" von Josefa Berens-Totenohl (den zweiten Nachnamen hat sie sich selbst gegeben). Auf dem Buchdeckel ein Hakenkreuz - laut Wiki eine stramme Naziautorin. Ich habe aus Neugier drei Kapitel gelesen ... naja, es lädt nicht zum Weiterlesen ein. Spielt im dreiizehnten Jahrhundert im Sauerland, könnte inhaltlich von Ganghofer sein (wenn es in Bayern spielte), aber der verstand sich weit besser auf dramatische Höhepunkte. Ich denke, ich gebe das Ding der blauen Tonne anheim.

  • Vielleicht kann mir jemand helfen bei folgender Frage.
    Ich lese - habe ich wohl schon erwähnt - einige bisher zuwenig beachtete Schätzchen meiner Phantastik-Sammlung. Eines davon ist dieses Buch aus der Phantastischen Bibliothek DuMont. Ein sehr hübsch aufgemachtes Bändchen wie alle zwölf Bücher dieser Serie.
    Alexander Lernet-Holenia: "Ein Traum in Rot".


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    Der Roman handelt von der verarmten Adelsfamilie Chlodowski und spielt in Galizien, zeitlich irgendwann zwischen den beiden Weltkriegen. Es gibt in dem Buch eine sehr lange Binnenerzählung, in der der Baron Roman von Ungern-Sternberg eine wichtige Rolle spielt. Dieser Ungern-Sternberg war während des Kriegs in Russland Angehöriger der Weißen Armee und besetzte die Äußere Mongolei. Er bekam einen Khantitel verliehen und hielt sich vermutlich für den großen Zampano, jedenfalls muss er mit seinen Gegnern und allen, die er dafür hielt, auf unvorstellbar grausame Weise umgesprungen sein.


    Ich habe den Namen bei Wiki nachgeschlagen und bin sicher, das ich das im Zusammenhang mit einem anderen Buch, in dem der Name Ungern-Sternberg auftauchte, vor kurzem schon mal getan habe. Könnte es sein, dass Doderer ihn erwähnt, in den "Wasserfällen" zum Beispiel? Das hatte ich vor ein paar Wochen. Kann sich einer der Doderer-Kenner hier erinnern?

    sandhofer : Danke fürs Einfügen des Links! Die Ausgabe von DuMont, die ich habe, sieht etwas anders aus.

    2 Mal editiert, zuletzt von Zefira () aus folgendem Grund: Buchlink korrigiert

  • Ich habe "Ein Traum in Rot" von Alexander Lernet-Holenia durch und empfehle das Buch allen Lesern, die Leo Perutz mögen. Sehr ähnlich in Anlage, Plot und Tonfall. Spannend, gepflegter Stil und schön rätselhaft. Ich habe richtig Lust bekommen, noch mehr von diesem Autor zu lesen. Werde mal gucken, beim nächsten Antiquariatsbesuch.