Über Klassiker, Kanons, Leselisten etc.

  • Kennt jemand sonst eine ähnliche Liste? Vielleicht [noch(?, falls ihr die jetzige gut findet)] eine "besonders gut gelungene"? Dann könnte man evtl. die beiden vergleichen.

  • Das heisst: je näher man der Gegenwart kommt, desto differenzierter sind die Erwartungshaltungen. Den "Nachsommer", von dem oben die Rede war, habe ich schon zu DDR-Zeiten siebenmal gelesen, um der realsozialistischen Gegenwart zu entfliehen und in eine mit ungewöhnlicher Sprachgewalt gemalte Welt einzutauchen, in der sich die Menschen noch überkorrekt zueinander verhielten und in den Alpen auf die Berge kraxelten, die ich, so dachte ich, sowieso nicht mehr zu sehen bekommen würde. Schon Arno Schmidt vermisste damals ein Eingehen Stifters auf Gegenwartsprobleme - Antworten auf diese suchte man indes in anderer Literatur (Maxie Wander, Christa Wolf, Brigitte Reimann). Einige Leserinnen hier im Thread suchen Entspannung, Unterhaltung und lebhafte Handlungen - mir alles verständlich, das wird immer subjektiv und unterschiedlich entsprechend den verschiedenen Lesebedürfnissen bleiben, die Verfallsdaten nahen aber auch immer schneller - man wird immer wieder zu diesem Schluss kommen.


    Da fallen mir dann immer Geschichten aus meinem Leben ein, damals, in der Stasi-Untersuchungshaft, da standen jedem Konterrevolutionär, oder Dissidenten, oder Staatsfeind oder wie immer man das damals nannte, da stand jedem Gefangenen pro Woche ein Buch zu.

    Kriminalromane und ähnliche Literatur war verboten, Erwin Strittmatter und Christa Wolf selbstverständlich auch, und so bekamen wir dann Bücher die den „Geist“ des Sozialismus verkörperten, darunter großartige Werke wie Issak Babels Reiterarmee, oder Jewgeni Jewtuschenkos „Beerenreiche Gegend zum Beispiel, und ähnliches. Natürlich waren diese so genannten „Vorkämpfer“ des Sozialismus allgegenwärtig, und das waren bevorzugt Tolstoi, Gogol und natürlich Dostojeski (den ich mehr für einen fundamentalistisch religiösen Slawophilen halte), Bücher die die Schergen selbst wohl niemals gelesen hatten, oder verstanden hätten. Also im Sinne der real sozialistischen Kerkemeister alles todlangweilige Bücher. Hätten die gewusst, welchen Gefallen sie uns damals damit taten....


    Das Goethe, Fontane, Storm und Kleist auch zum Bestand der Gefangenenbibliothek gehörte, das brauch dann wohl nicht mehr erwähnt zu werden. Alles langweilige Literatur.


    Diese so genannten langweiligen Bücher können aber auch sehr gefährlich sein und den Menschen in dunklen Stunden Trost, Mut und Zuversicht spenden.

  • Stimmt. Hab den einen Satz überlesen. Jetzt ist es mir klar.

    Alles kein Problen, passiert mir manchmal auch. Ich wollte nur eine Lanze brechen für die Menschen, für die diese so genannten langweiligen Bücher unverzichtbar sind, die uns oft Lebensinhalt und manchmal auch Lebenshilfe sind. Und von diesen, für ich immer wertvollen Menschen, von diesen Menschen gibt es in diesem Forum viele, und das ist es, was dieses Forum für mich so wertvoll macht.

  • Das kann ich voll verstehen Vult

    Ich habe für mich in den letzten Jahren auch die Faszination dieser langweiligen Bücher entdeckt.


    Früher war Action und Handlung wichtig. Das rückt vermehrt in den Hintergrund.


  • Bei diesen Übersetzungen aus dem Russischen kann man aber auch sehen, dass sich in Verlagen, wie "Volk und Welt" in der Berliner Glinka-Strasse, kritische Geister einfanden, die "durch die Hintertür" der Sowjetliteratur subversives Gedankengut einschmuggelten. Ich nenne hier mal nur den bekanntesten Übersetzer und Literaturwissenschaftler, Ralf Schröder, der Repressalien ausgesetzt war. Andere dachten ebenso, agierten jedoch sehr vorsichtig.


    https://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Schr%C3%B6der


    Die Gogol- und Gontscharow-Übersetzerin Vera Bischitzky wurde ebenfalls verhaftet und aus der DDR ausgebürgert, wie Jahre zuvor Wolf Biermann.


    Schließlich bietet die Lektüre der von Dir erwähnten "Reiterarmee" von Isaak Babel auch einen offiziell zwar zugelassenen (und zensierten), jedoch höchst beunruhigenden Einblick in die Zeit des Bürgerkrieges 1918-1922, als ja nicht nur die "Roten" die Guten und die "Weißen" die Bösen waren, wie die offizielle Geschichtsschreibung suggerierte. Unter beiden Seiten litten im besonderen Maße die Juden (der jüdische Schriftsteller Babel fiel selbst schließlich Stalins Repressalien zum Opfer), beide Seiten, wie die heute in Putins Reich heute so hochgeschätzten patriotischen Kosaken, plünderten die bäuerliche und städtische Bevölkerung aus, und die Rote Armee unter Tuchachevskij wurde 1920 von den Polen Pilsudskis entscheidend zurückgeschlagen, der Export der Revolution nach Westens mithin gestoppt.


    PS: Ich bekenne, wie auch andere Vertreter der etwas älteren Generationen ( Volker), immer wieder mit der Zitierfunktion zu kämpfen. Manchmal klappt es, mitunter aber auch wieder nicht, daher die Löschung obigen Beitrags. Andere bewegen sich durchweg mit Leichtigkeit durch Internet-Forennach dem Motto - was man einmal erlernt hat, vergisst man nie wieder - aber ich werde immer ein blutiger technischer Laie aus dem Zeitalter des Papierformats bleiben, dem man etwas erklärt, was er sofort wieder vergisst, der ein Blatt Papier sucht, um aufzuschreiben, was man im Internet zu beachten hat, um dann genau dieses Blatt gründlich zu verschusseln. Wie funktioniert jetzt die Kleinschreibung dieses desparaten, nicht zum Thema gehörigen Absatzes (juhu, sogar gefunden! und wo waren noch einmal die Smileys? :)Ach, so gleich hier unten:||

  • benji gibt genug im Internet. Reich-Ranicki hat einen Kanon. Dennis Scheck auch und wenn du nur Kanon und Literatur bei Google eingibst kommen etliche Listen.

    Vor einem Monat hatten wir hier eine Diskussion über die Zusammenstellung von Bestsellerlisten. Ich hatte die Vermutung geäußert, dass in einem bestimmten Fall manipuliert worden ist. Jetzt erschien ein zu diesem Thema passendes Buch von Jörg Magenau (*1961), der mir zuerst als Autor der Christa Wolf-Biographie bekannt geworden war, in den letzten Jahren auch eine Biographie Walsers sowie ein Buch über die Freundschaft Helmut Schmidts und Siegfried Lenzens vorgelegt hatte.


    https://www.hsozkult.de/public…eview/id/rezbuecher-29413


    Durch den "Spiegel" etwa wurden entsprechende Listen sehr stark beeinflusst. Meine Beobachtung zum Verschweigen des Buches von Monika Maron "Munin oder Chaos im Kopf" in Bestsellerlisten scheint in diesen Zusammenhang zu passen. Obwohl es breit diskutiert wird, taucht es dort nicht auf.