Beiträge von Vita activa

    Hallo montaigne,


    sowohl Karamzin als auch Dir stimme ich in der grundsätzlichen Frage dazu, dass die Witwe Pittelkow der Protagonistin Stine schon fast ebenbürtig ist. Zu Beginn des Romans entsteht der Eindruck, als konzentriere sich die Handlung auf diese Nebenfigur und ihre Tochter Olga. Erst im weiteren Verlauf stellt sich die Namenspatin dieses Romans als eigentliche Protagonistin heraus.


    Allerdings sollte man m.E. bei Zeugnissen Fontanes über sein Oeuvre vorsichtig sein. Gedichte eines Verfassers über das eigene Werk stellen eine Form der 'Autorinszenierung' dar. Der Schriftsteller nimmt nun die Rolle des Kommentators ein, der seine eigene Erzählung in eine bestimmte Richtung lenkt. Man kann dies als eine Art Spiel zwischen dem Autor und seiner Leserschaft deuten.


    Ein gutes Beispiel für eine solche Inszenierung stellt das Epigramm von Heinrich von Kleist über seine Novelle dar, in der eine sexuelle Übergriffsszene durch den wohl berühmtesten Gedankenstrich der deutschsprachigen Literatur angedeutet wird:


    Die Marquise von O ...


    Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht!
    Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.


    Das Vertrauen in den Autor kann verwerflich sein. ;)

    Hallo montaigne,


    der Begriff "Prostituierte" verweist im modernen Sprachgebrauch auf eine Person, die sich für Geschlechtsverkehr bezahlen lässt. Auf die Figuren Fontanes trifft dies beileibe nicht zu. Wenn es sexuell anstößige Passagen in dem Werk des Berliner Schriftstellers gibt (wie etwa in Irrungen, Wirrungen), dann ist die Empörung bei den Zeitgenossen dementsprechend groß. ;)


    Doch bei Fontane geht es eher um die Gespielinnen der Adeligen. Sowohl der alte Graf Haldern als auch sein Neffe vergnügen sich, in der Tradition der Maitressen-Wirtschaft, mit einer Witwe und einem Fräulein aus dem einfachen Volk. Dass diese Besuche keine Orgien darstellen, liegt auch in den strengen Moralvorstellungen der Zeit begründet. Doch bereits die Tatsache, das eine junge Witwe neue Gäste empfängt, gilt bei den Zeitgenossen der Gründerzeit als anstößig genug.


    LG

    Hallo Karamzin,


    Dass die handelnden Gestalten vorwiegend der Phantasie des Autors entspringen, dürfte für die Werke vieler Autoren, wenn nicht die der meisten, zutreffen.


    In der Tat dürfte niemand bezweifeln, dass die geschaffenen Figuren das Produkt von Gedankengängen ihrer jeweiligen Autoren (bzw. Autorinnen!) darstellen. Die Frage bleibt jedoch, inwieweit sich die Signatur des jeweiligen Verfassers in den handelnden Gestalten abzeichnet. Bei den Gestalten Fontanes ergeben sich viele Gemeinsamkeiten, so dass man auf die Eigentümlichkeit des Verfassers schließen kann.


    LG: Va

    Hallo Jaqui,


    die Werke Fontanes sind trotz aller Anspielungen auf historische Sachverhalte, moralische Wertungen so konzipiert, dass man sie ohne das nähere Hintergrundwissen verstehen kann. Allerdings gehören die 'sprechenden Namen' zu dem Lesevergnügen. Die Namen sind so gewählt, das man sich eine nähere Bedeutung darunter vorstellen kann. Lediglich sollte man einige Fluchtpunkte Berlins vor Augen haben, so dass man sich das Ambiente vorstellen kann.


    Hallo Karamzin,


    bei Fontane wiederholen sich die Entwürfe der Figuren so, dass sie teilweise auch austauschbar wirken. Die Protagonistin Stine erinnert doch stark an die Romanfigur Lene aus Irrungen, Wirrungen, während sich der Graf Haldern als alter ego von Botho deuten lässt. Somit erscheinen diese Figuren eher als Träger bestimmter Ideen, auch als Entwurf eines Berliner Lokalkolorits. Doch gleichzeitig werde ich das Gefühl nicht los, als ob diese Gestalten vornehmlich aus der Vorstellungswelt Fontanes entspringen. Stine ist demnach so konzipiert, wie sich Fontane eine entsprechende Figur vorstellt. Für meinen Geschmack fehlt die Distanz zu den handelnden Gestalten, wie man sie z.B. bei Thomas Mann (mit Ausnahme seiner Goethe-Selbstinszenierung in Lotte in Weimar) nachempfinden kann.


    LG: Va

    Hallo Karamzin,


    meine Namensgebung spielt auf das gleichnamige philosophische Hauptwerk Hannah Arendts an, das man ebenfalls zu den Klassikern der Philosophie zählen könnte.


    Liebe Grüße

    Hallo Karamzin,


    ergänzenswert finde ich noch den zweiten Akt der Zauberflöte, in der Sarastro Papageno in die Welt der vermeintlichen Dunkelheit einweiht. Und hier finden sich ja auch die "revolutionäre" Wertung: "Er ist mehr als Prinz! Er ist Mensch." Möglicherweise wird damit auf die ständische Kluft zwischen den Vertretern des adeligen Hauses Haldern und den kleinbürgerlichen Geschwistern Pittelkow angespielt?

    Hallo Montaigne,

    Karamzin hatte ich so verstanden, dass es in „Stine“ keine Wechselwirkung von Lärm und Stille gibt, da Fontane den Berliner Lärm ausblendet. Kannst du mal eine Stelle in „Stine“ angeben, wo Fontane zwischen Lärm und Stille wechselt um erzähltechnisch einzugreifen.


    Der "Lärm", der in dem Erzählwerk Stine erzeugt wird, zeigt sich bereits am ersten Satz, indem von "klingelnden Pferdebahnwagen" und dem mittäglichen Gang der "Maschinenarbeitern" gesprochen wird. Interessant ist, dass diese Kulisse "gewöhnlich" charakterisiert wird. Wenngleich die Erzählinstanz in dem Roman nicht auf den Fabrikenlärm direkt eingeht, so deutlich sie den Berliner Lärm durch solche Details an. (Und von diesen Anspielungen lebt ja das Oeuvre Fontanes). - Und schon in der nächsten Passage haben wir das Ungewöhnliche, den Fensterputz, der von dem "alten Lieschen" angesprochen wird.


    Vita activa

    Liebe Fontane-Freunde,


    Es heißt jetzt, mehr als ein Jahrhundert zurückzugehen und das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Augen Fontanes zu betrachten.


    Bei der Lektüre Fontanes ist es m.E. ebenfalls wichtig, dass man ein Gefühl für die Wertvorstellungen dieser Zeit erhält, also sprich ein Gefühl für die "Sittenmoral" und eine dynastische "Familienehre" altgedienter Häuser. Dadurch kann man die Andeutungen und Anstößigkeiten dieses Buchs besser erahnen. Wenn beispielsweise eine junge Witwe namens Pittelkow mit einem 10-jährigen Mädchen vorgeführt wird, dann kann man schon erahnen, dass diese irgendwo im Gespräch ist.


    Umgang mit Lärm und Stille
    In "Stine" besuchen wir das Berlin der Gründerzeit, nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71, der einen der Haupthelden seine Gesundheit kostete. In dieser Gegend um Invalidenstraße und Chausseestraße in Berlin-Mitte wohnen die Heldinnen des Romans oder der Erzählung. Da fahren klingelnde Pferdebahnen, aber es wird insgesamt immer leiser und stiller, eine Eigenart des alternden Fontane, auf die ich durch Seilers Buch aufmerksam gemacht wurde. Aber richtig, es sollen hier keine Deutungen vorweggenommen werden.


    Der Lärm, das Rauschen der Großstadt verschwinden immer mehr, und wir können den Gesprächen der handelnden Personen, ungestört durch Hintergrundgeräusche, zuhören.


    Die Wechselwirkung von Lärm und Stille lässt sich als erzähltechnischer Eingriff auffassen. Was man als rein auditiven Effekt wahrnehmen kann, lässt sich auch synästhetisch visuell begreifen. Die Wirkung von Beschleunigung entsteht dadurch, dass das breite Panorama des Handlungsschauplatzes mit aller Ausführlichkeit dargestellt wird. Zu Beginn der Erzählwerke Fontanas tritt häufig der "zoom-Effekt" ein, der sich schon als Vorwegnahme der filmischen Darstellens deuten lässt. Aus dem Panorama des Berliner Ambientes wird ein Ausschnitt aufgezeigt, in diessem Fall das Haus der Pittelkow. Auch in anderen Romanen Fontanes haben wir diesen erzählerischen Eingriff. Man denke nur an die Vorstellung des Hauses Hohen Kremmen in Effi Friest, für dessen Beschreibung sich die Erzählinstanz viel Zeit nimmt. Die genauen Details dienen dazu, einen Gegensatz zwischen dem Beständigen und dem einmaligen Ereignis aufzustellen.


    Der "unerhörten" Handlung stellt Fontane das Panorama entgegen, was bleibt. In dem Roman, wie auch allen anderen, ist es nicht nur das preußische Lokalkolorit, sondern auch das Gerede. Der erste Redebeitrag stammt von einem "alten Lierschen", die sich über das Fenster-Putzen ihrer Nachbarin mokiert und somit die zentrale Nebenfigur, die Witwe Pittelkow, einführt. Auch am Ende des Romans erscheinen die Sozialgeräusche aus dem Mund der am Türrahmen lauschenden Polzins, die am Ende den hämischen Satz "Das wird nicht wieder" äußert. Denn gerade das "Gerede" ist die zentrale Macht in den Romanen Fontanes, gegen das die Figuren permanent ankämpfen.


    Liebe Grüße

    Hallo,


    als Neuling, der auf dieses Forum aufmerksam gemacht wurde, stelle ich mich vor. Ich bin ein junger Leser aus Berlin, der insbesondere die älteren Werke mit Freude genießt. Zu meinen Favoriten der belletristischen Literatur gehören die beiden Weimarer Klassiker, Fontane und Heinrich von Kleist. Aber auch andere Texte, wie Heines Harzreise, inspirieren mich.


    Liebe Grüße