Intensität der Lektüre - abnehmend?

  • Gerade ein Forum an Klassikerfreundinnen und -freunden müsste ein guter Resonanzraum sein zu einem Fragenkomplex, die mich umtreibt:


    Nimmt die Intensität der Lektüre mit zunehmendem Alter ab?


    Es gab in meiner Jugend Lektüreerfahrungen, die in ihrer Intensität Weltoffenbarungen waren. Nach der Lektüre von "Welt als Wille und Vorstellung" hatte ich ein Gipfelerlebnis, das Gefühl, die Welt aus der Vogelperspektive zu sehen und zugleich in ihrem Innersten zu verstehen. In Anna Karenina habe ich mich verliebt. Die Welt von Dickens "Bleak House" war so erschreckend düster, dass ich den Roman erst gar nicht weiterlesen konnte. All das waren unmittelbare Erfahrungen, die direkt, ohne Filter, auf mich gewirkt haben.


    Und heute? Heute gibt es schon die Freude über einen guten Aufbau einer Geschichte, über schöne Sätze, einen gelungenen Charakter, durchaus auch mal Gänsehaut bei einer guten Passage. Aber durchaus seltener. Auch seltener, dass mich ein Buch wirklich in seinen Bann zieht.


    Weil ich anspruchsvoller geworden bin? Abgestumpfter?


    Wie geht euch das? Habt ihr auch mit 40, 50, 60 Lektüreoffenbarungen, wo euch ein Buch wirklich trifft wie die Axt das gefrorene Meer?


    Neugierig,


    Christian

    "Man träumt viel vom Paradies, oder vielmehr von verschiedenen, wechselnden Paradiesen, die doch alle verloren sind, bevor man stirbt, und in denen man sich selbst verloren fühlen würde." ("A la recherche du temps perdu")


  • Nimmt die Intensität der Lektüre mit zunehmendem Alter ab?


    Interessante Frage, Christian! Als Ü-40er erlaube ich mir eine vorsichtige Antwort anhand eines Beispiels. Hesses "Steppenwolf" ist ein Buch, das ich mit absoluter Sicherheit heute nicht mehr mit der Intensität und Gläubigkeit lesen kann wie im Alter von 20 Jahren. Der damalige "Offenbarungscharakter" des Buches würde heute eher sinnlos ins Leere laufen, weshalb ich mir eine Wiederholungslektüre bewusst versage. Das spricht zunächst einmal gegen die gesteigerte Leseintensität mit zunehmendem Alter.


    Aber: Einen "Werther", den ich auch schon seit rund 30 Jahren kenne, lese ich heute immer wieder gern; und immer wieder anders - intensiv und genüsslich. Es ist wie mit dem Essen: Etwas feingeschmäcklerisches hat Einzug in die Lektüre gehalten, was insbesondere bei schwierig geltenden Werken wie dem "Nachsommer" von Vorteil ist. Dieses Buch hätte ich im Alter von 20 Jahren niemals geniessen können.



    Weil ich anspruchsvoller geworden bin? Abgestumpfter?


    Von beiden ein wenig. Die Faszination Lesen hat ein wenig nachgelassen. Aber sie ist immer noch vorhanden, benötigt allerdings zunehmend härte Drogen, um sich einzustellen.



    Und heute? Heute gibt es schon die Freude über einen guten Aufbau einer Geschichte, über schöne Sätze, einen gelungenen Charakter, durchaus auch mal Gänsehaut bei einer guten Passage. Aber durchaus seltener. Auch seltener, dass mich ein Buch wirklich in seinen Bann zieht.


    Das ist eine ziemlich gute Beschreibung. Damit habe ich mich allerdings abgefunden.


    LG


    Tom

  • Moin, Moin!


    Gerade ein Forum an Klassikerfreundinnen und -freunden müsste ein guter Resonanzraum sein zu einem Fragenkomplex, die mich umtreibt:


    Ein tolles Thema und ein vielversprechender Thread. Und so ehrlich, wenn du zugibst, was auch ich bei mir feststelle, daß die unbelasteten große Lektüre scheinbar in der Vergangenheit liegen. Ich schreibe 'scheinbar', weil ich mir nicht sicher bin, ob es stimmt.


    Zitat

    Und heute? Heute gibt es schon die Freude über einen guten Aufbau einer Geschichte, über schöne Sätze, einen gelungenen Charakter, durchaus auch mal Gänsehaut bei einer guten Passage. Aber durchaus seltener. Auch seltener, dass mich ein Buch wirklich in seinen Bann zieht. Weil ich anspruchsvoller geworden bin? Abgestumpfter?


    Ich habe keine Erklärung. Ich weiß nur, was ich falsch mache. Seitdem ich über Internet verfüge, ist die Konzentration beeinträchtigt, weil der PC nebenher für Ablenkung sorgt. Das zergliedert die Lektüre.

  • Moin, Moin!


    Bei jeder Zweitlektüre frage ich mich: Was ist hier nun anders als beim ersten Lesen? Letztens bei den Brüdern Karamasow hatte ich kaum Wiedererkennungseffekte, obwohl die eigentliche Story durchaus bekannt gewesen ist. Nur erinnerte ich mich inhaltlich an Szenen ganz anders. Und bin ich viel schneller geneigt, langweiligere Passagen zu übergehen, was ich früher nie getan habe.

  • Hallo,


    ich erlebe es gerade andersherum. Bei mir wird die Lektüre derzeit intensiver, ich bin aber auch erst knapp über 30. Dennoch hoffe ich, dass das noch eine Weile so andauert.


    Meine Lektüre suche ich mir im Moment einfach sorgfältiger aus und lese nicht mehr alles was mir in die Finger kommt. Das war in den letzten Jahren extrem zu merken. Als ich im Februar meine gelesenen Bücher der letzten Jahre durchstöberte, habe ich gemerkt, dass ich mich an fast keins der Bücher wirklich erinnern kann. Bei einigen hätte ich sogar geschworen dass ich sie nicht kenne. Nur an sämtliche Klassiker konnte ich mich erinnern. Das ließ mich im Grunde in ein tiefes Loch fallen, denn ich hatte das Gefühl, dass die komplette Lesezeit velorene Zeit war. Das hatte zur Folge, dass ich seit Jahresbeginn nur sieben Bücher gelesen habe, davon vier im Jänner.


    Erst seit zwei, drei Wochen ist die Lust am Lesen wieder gekommen und ich hoffe, dass sie nun anhält.


    Katrin

  • Meine Lektüre ist alles in allem oberflächlicher geworden, nehme ich an. Seit mir bewusst ist, dass meine Lebenszeit nicht unendlich ist, habe ich mein Lesepensum stark erhöht (Ins Grab sinken, ohne Karl Philipp Moritz gelesen zu haben? Niemals!), was natürlich zur Folge hat, dass neue Leseeindrücke die alten sehr schnell verdrängen. Und sicher kommt es des Lektüreumfangs wegen auch immer mal zu einem kleinen Pufferüberlauf im Speichermodul.
    Manche Bücher schaffen es aber doch noch, mich aus den Socken zu hauen. Einige auch erst beim Wiederlesen. "Der Mensch erscheint im Holozän" habe ich als Teenager schon mal gelesen, ohne dass es mich sonderlich bewegt hätte. Beim Wiederlesen gut 20 Jahre später hatte ich einen ganz anderen Bezug zum Thema, und ich habe nächtelange Betrachtungen über den altersbedingten geistigen Verfall des armen Herrn Geiser angestellt. Nicht ganz ohne über meine eigenen Perspektiven nachzudenken natürlich. Wehleidige Romane über alternde Intellektuelle - Roth, Bellow, Noteboom, Coetzee usw. usf. - lese ich generell aufmerksamer und mit mehr emotionaler Beteiligung als früher. Und einigen Autoren gegenüber habe ich auch einfach nur Vorurteile abgebaut. Arno Schmidt beispielsweise habe ich früher nicht mal mit der Kohlenzange angefasst ((Jawollja - ! - ! Muss man sich mal vor-stel-len!-!-!-::!!!--- )), heute kann ich gar nicht genug von dem kriegen.

    Einmal editiert, zuletzt von FeeVerte ()

  • Mir geht es ähnlich wie Fee Verte in bezug auf die Erinnerlichkeit des Gelesenen: Die Speicher sind einfach viel voller als früher, ähnliche Motive und Formulierungen können sich in der Erinnerung übereinanderschieben, was nicht beeindruckt, verschwindet ganz schnell.


    Dabei empfinde ich Literaturforen eher als Hilfe denn als Zergliederer wie Dostojevskij: Bücher, die ich mit anderen gelesen habe und über die wir uns ausgetauscht haben, bleiben mir viel besser im Gedächtnis.


    Da ich nicht der reinen "Klassikerlehre" huldige, sondern zwischendrin auch viele Krimis und auch historische Romane zur Entspannung lese, bemerke ich aber einen ähnlichen Effekt wie Jaqui: An die "Klassiker" erinnere ich mich doch im Vergleich zur Entspannungsliteratur wesentlich besser, bei letzteren vergesse ich oft innerhalb von Wochen wesentliche Details der Handlung, was ja auch kein Schaden ist.
    Von qualitativ hochwertiger Literatur bleiben mir meist auch nicht lange Details der Handlung, immer aber die Atmosphäre, sozusagen der Charakter des Buches, wie ich ihn sehe.
    Früher war es bei mir genauso wie bei Librerio und anderen: Bücher wirkten wie Tore ins All. Das klappt heute nur noch partiell und eher bei sehr alten Texten wie den griechischen Klassikern, wo mir immer wieder klar wird, wie wenig weiter wir eigentlich mit den ganz tiefen Einsichten gekommen sind. Das lässt mich oft Ehrfurcht empfinden für die Einsichten, die schon damals gefunden wurden.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Die Speicher sind einfach viel voller als früher, ähnliche Motive und Formulierungen können sich in der Erinnerung übereinanderschieben, was nicht beeindruckt, verschwindet ganz schnell.


    Ich denke, dass das ganz stark mit dem Alter zusammen hängt. Denn je älter man wird, desto mehr hat man gelesen und je mehr man liest, desto mehr wiederholt sich auch. Jetzige Autoren verwenden Motive oder Bilder, die sie von anderen Autoren übernommen haben. Da kommt es unweigerlich vor, dass einem manche Dinge bekannt vorkommen und nicht mehr so beeindrucken wie beim ersten Lesen eines anderen Autors.




    Dabei empfinde ich Literaturforen eher als Hilfe denn als Zergliederer wie Dostojevskij: Bücher, die ich mit anderen gelesen habe und über die wir uns ausgetauscht haben, bleiben mir viel besser im Gedächtnis.


    Da geht es mir genauso. Ich lese Leserunden oft Jahre später noch einmal gerne nach und dann kommen die Erinnerungen wieder hoch. Kürzlich habe ich das bei Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam wieder getan.


    Katrin

  • Das kommt darauf an, welche Intensität man vor Augen hat. Meint man damit die große Gefühlswelt, das völlige Versinken in die Lektüre, evtl. Welten, wie bei der "Unendlichen Geschichte" vor ... Jahren - ja dann sinkt die Intensität auch bei mir. Anstelle dieser Empfindung steigt aber mein Genuss und sich sehr viel Zeit für ein Werk zu nehmen. Auch bei mir ist dies das letzte Mal "Der Nachsommer" gewesen. Die Anzahl der Seiten und Bücher nimmt ab, man konsumiert nicht mehr so viel, sondern man findet mit den Jahren auch die Muße sich wirklich auf ein Buch einlassen zu können, ein Buch, welches auch keine Zweitlektüre neben sich zulässt, ein Buch welches dich erfüllen kann. Allerdings kommt dies immer seltener vor, ja, weil der Anspruch wächst, aber dem kann man dann mit seinen eigenen Lesegeschmack entgegentreten. Momentan baue ich meinen SuB dadurch ab, da mir einfach ganz viele Bücher, die ich mir vor Jahren zugelegt habe (meist irgendwelche Schnäppchen), gar nicht mehr gefallen, liegen oder teilweise kann ich den Büchern gar nichts mehr abgewinnen. Mein Lesegeschmack grenzt sich immer mehr ein und erleichtert mir dadurch auch die Auswahl beim Kauf. (Schnäppchenkäufe tätige ich nicht mehr.) Es zeigt sich, dass ich immer mehr bei den jungen Klassikern, 19. - 20. Jh, hängen bleibe, wie beispielsweise nun E. Bowen "Sommernacht", das sind Kurzgeschichten die prima zum Umzug passen, den Unterhaltungsroman, den ich mir extra zum Umzug ausgesucht hatte - was soll ich sagen - er befriedigt mich nicht mehr ... und ist entsorgt worden


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Nimmt wirklich die Intensität ab? Ich denke je jünger man ist desto leichter ist man zu beeindrucken. Man ist dabei auf der Suche nach dem "ganz großen" und meint einen Zipfel davon erhascht zu haben und das versetzt einen in Euphorie, die aber letzlich nicht viel zählt. Ich denke, der Geschmack ändert sich einfach. Weniger der Dostojewski, der ungeheuer beeindruckt, mehr den Tschechov mit seinen Erzählungen, in denen gar nichts besonderes passiert, mit diesem immer wiederkehrenden Topos des empfindsamen Menschen, der an einer lethargischen empfindungslosen Welt fast oder ganz zugrunde geht. Das mag langweilig scheinen und ist doch immer wieder interessant und anrührend im Deteil. Heute wieder mal die Geschichte "Die Stachelbeeren". Wunderbare Geschichte.


    Immer klarer aber auch: Ich lese Literatur für mich selbst, nicht für die anderen. Ich muß niemandem damit imponieren. Ich kann viel lesen, wenn es mir gefällt, ich kann auch gar nichts lesen, wenn es mir gefällt. Ich darf auch um Goethe einen großen Bogen machen, wenn es mir gefällt. Und ich darf auch ein Buch abbrechen, nachdem ich schon 390 Seiten davon gelesen habe, das wird wohl bei mir beim Hesperus von Jean Paul der Fall sein.


    Gruß Martin

  • Moin, Moin!


    Dabei empfinde ich Literaturforen eher als Hilfe denn als Zergliederer wie Dostojevskij: Bücher, die ich mit anderen gelesen habe und über die wir uns ausgetauscht haben, bleiben mir viel besser im Gedächtnis.


    Literaturforen meinte ich weniger. Aufmerksamkeitskiller sind eher die auf den Status präsens bedachten Web-2.0.-Erfindungen wie Facebook, Twitter & Co. Wenn man so wenig Selbstdisziplin wie ich mitbringt und den Schalter nicht auszustellen wagt, ist man ständig hin- und her gerissen und kann sich in Literatur nicht mehr so vertiefen, wie sie es verlangt und verdient.


    Zitat

    ähnlichen Effekt wie Jaqui: An die "Klassiker" erinnere ich mich doch im Vergleich zur Entspannungsliteratur wesentlich besser, bei letzteren vergesse ich oft innerhalb von Wochen wesentliche Details der Handlung, was ja auch kein Schaden ist.


    Ich erkannte bei mir noch nie ein Gesetz, welches es erklärte, an welche Bücher und Inhalte ich mich besser oder überhaupt erinnere. Manche bleiben einfach hängen; anderes verblaßt, ohne daß dafür stringend Qualität als Grund angegeben werden kann. Was ich gerade erst feststelle: Der Erstkontakt mit einem Schriftsteller bleibt ganz stark: Vanderbekes "Muschelessen"; Roth' "Portnoys Beschwerden", Bernhards "Das Klakwerk" u.v.a.m. erinnere ich noch, als wärs gestern gewesen.

  • Moin, Moin!


    Jetzige Autoren verwenden Motive oder Bilder, die sie von anderen Autoren übernommen haben. Da kommt es unweigerlich vor, dass einem manche Dinge bekannt vorkommen und nicht mehr so beeindrucken wie beim ersten Lesen eines anderen Autors.


    Vorteilhaft dann, wenn formale Finessen den Eindrück exklusiver Lektüre verfestigen, so geschehen bei R. Jirgls "Die Stille".

  • Moin, Moin!


    Für die hier diskutierte Problematik gibt es natürlich auch eine theoretische Untermauerung. Wegen der Ausführlichkeit und Komplexität kann ich nur auf den Aufsatz verweisen: Werner Graf: Die Erfahrung des Leseglücks. Zur lebensgeschichtlichen Entwicklung der Lesemotivation; in: Bellebaum/Muth (Hrsg.): Leseglück. Eine vergessene Erfahrung, Opladen 1996


    Prinzipiell ist es so, daß es verschiedene "Lesekonstruktionen" gibt. Die kindliche des narkotischen, verschlingenden Lesens wird mit dem "literarischen Erwachsenwerden" aufgegeben, verdrängt oder verloren. Die erwachsene, ästhetische Literaturkonstruktion ist nur bedingt in der Lage, dieses flow-erzeugende Leseglück aus Kindheit und Jugend zu reproduzieren. Warum das so ist, müßtet ihr in dem Buch nachlesen... ;-)


    Ein Teil der Leser erhält bzw. beschränkt sich auf das narkotische, lustorientierte Lesen, nämlich durch Lektüre von Unterhaltungs- und Trivialliteratur, die diese Lesekonstruktion und die damit verbundene Flowerfahrung auch für Erwachsene ermöglichen. (Allerdings nicht, wenn eine gewisse literarische Reife diesen Genuß verunmöglicht, weshalb wir bei mancher Wiederlektüre nicht mehr begreifen, wie uns das Buch früher so faszinieren konnte)


    Wenn allerdings Literatur sowohl diese Wunschkongruenz zwischen Außen- und Innenwelt vermittelt, dann kann ein Buch beide Lesekonstruktionen ermöglichen. Das sind dann die Bücher, die für uns so herausragen. Als Beispiel nehme ich bei mir Tellkamps Turm. Indem ich in der Lage war, MEIN Leben in der DDR mit den Gegebenheiten im Roman ständig abzu- und zu vergleichen, konnte ich neben dem analystischen Lesen auch diese aus der Kindheit bekannte narkotisierende Lesen aktivieren. Auch die Bücher Eroch Loest funktionieren bei mir so. Wenn die Dinge wie DDR, Leipzig usw, die mich emotional berühren, vorkommen, ist der Leseflow vorprogrammiert.


  • Ich erkannte bei mir noch nie ein Gesetz, welches es erklärte, an welche Bücher und Inhalte ich mich besser oder überhaupt erinnere. Manche bleiben einfach hängen;


    Das stimmt natürlich. Mir persönlich ist eben Anfang des Jahres aufgefallen, dass ich mich an alle Klassiker erinnen kann, aber nicht einmal mehr weiß, dass ich letztes Jahr einen historischen Roman mit dem Titel "Rechenkünstlerin" gelesen habe. Und laut meiner eigenen Bewertung fand ich den damals gar nicht so schlecht. Das hat mich einfach schockiert, denn ich hätte sogar schwören können, dass ich den nicht zu Hause habe.


    Natürlich erinnere ich mich auch an andere Bücher, zum Beispiel an eine Serie über Gestaltwandler, die ich auch nach wie vor lesen werde oder an einen Roman namens "Weisser Schrecken", weniger wegen dem Inhalt, sondern wegen der immensen Rechtschreibfehler.


    Mir ist in dem Moment aber bewusst geworden, dass ich bei jedem Buch, dass ich mit dem Genre "Klassiker" versehen habe, sogar sagen kann wo ich es gelesen habe, was ich dabei gedacht habe (weil ich da nicht nur berieselt werde, sondern mitdenken muss) und wie es heute noch nachwirkt. Ich habe "Die Pest" gehasst, und werde den Autor meiden, aber ich erinnere mich an das Buch. Und dass ich das bei vielen anderen Romanen offenbar nicht tue, hat mich zu einer kleinen Auszeit des Lesens geleitet, die für mich gut war.




    Anstelle dieser Empfindung steigt aber mein Genuss und sich sehr viel Zeit für ein Werk zu nehmen.


    Das kann ich bestätigen. Früher wollte ich viel lesen und jedes Buch, dass ich nicht in mindestens einer Woche lesen konnte, wurde wieder weggelegt, da es meinen Leseplan zerstörte. Heute kann ich mir durchaus vorstellen, dass ich an einem Buch ein Monat oder mehr lese. Aus dem Grunde rücken auch immer wieder öfter "Krieg und Frieden" oder der "Zauberberg" in meinen Fokus zurück.


    Katrin

  • Moin, Moin!


    Es muss auch nicht immer an der Beschränktheit des Leser liegen, wenn er ein Buch nicht versteht, wenn es zu keiner produktiven Auseinandersetzung mit dem Gelesenen kommt oder wenn das Buch in der Erinnerung keine Spuren hinterlässt.


    Gab es nicht mal einen Dienstleister, der Texte in Fachchinesisch übersetzte, d.h. durch Einstreuung von Fremd- und Fachwörter verkomplizierte?

  • Gab es nicht mal einen Dienstleister, der Texte in Fachchinesisch übersetzte, d.h. durch Einstreuung von Fremd- und Fachwörter verkomplizierte?


    Ich kann mir vorstellen, dass das zum normalen Leistungsspektrum von Text- und Ghostwritingagenturen gehört. Aber eigentlich sollte man das nach ein paar Jahren Studium auch selber können.


    (Aber das führt jetzt etwas vom Thema des Threads weg.)

  • Bei mir habe ich das Gefühl, daß es nicht vom Alter abhängt, sondern, daß es Phasen gibt, in den die jeweilige Lektüre intensiver zu sein scheint. Für anspruchsvolle Bücher muß ich solche Phasen oder "Zeitfenster" abwarten, damit die Lektüre befriedigend ist. Erst letztens bei der Nachsommer-Leserunde habe ich festgestellt, daß gerade kein Zeitfenster für dieses Buch ist.


    Ich habe schon als Jugendliche manche Bücher sehr intensiv erlebt (Stephen Kings ES fällt mir da ein) und andere nur oberflächlich gelesen, obwohl sie mir eigentlich gut gefallen haben. Vermutlich lag es auch hier schon am rechten Buch zur rechten Zeit.


    Was mir allerdings auffällt, was sich mit den Jahren verschlechtert hat: die Konzentrationsfähigkeit. Ich meine damit nicht, daß ich zerstreut geworden bin (bin auch noch nicht ganz 40), aber während Schul- und Unizeit gab es wesentlich weniger nervige Ablenkung durch Alltag und v.a. Beruf. Ähnlich wie Dostoevskij verbringe ich dann viel Zeit im Internet, die ich eigentlich lieber fürs Lesen verwenden würde; anders als bei Dostoevskij ist es aber bei mir nicht das Internet, das mich ablenkt, sondern ich selbst lenke mich durch das Surfen im Internet ab, weil mir einfach zu viel "Mist" im Kopf herumschwirrt, sodaß ich mich nicht mehr aufs Lesen konzentrieren kann. Allenfalls Unterhaltungsromane gehen dann noch.


    Ich habe auch gerade eine längere Klassikerpause hinter mir und habe vor kurzem zu Dickens' Bleak House gegriffen. Ein Roman, der seit über zehn Jahren bei mir im Regal steht, aber erst jetzt hatte ich das Gefühl, daß die richtige Zeit dafür gekommen ist. Und momentan habe ich richtige Lust, in Dickens' Welt abzutauchen...


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo,


    mit 16 träumte ich noch von Mr Rochester. DAS passiert mir als Ü40 nicht mehr :breitgrins:
    dennoch erlebe ich heute wieder ein intensives Lesen. Da mag auch der Zeitfaktor mit hineinspielen, denn ich habe das Glück, dass ich mich seit ca. einer Dekade und beruflicher Veränderung wieder intensiver mit Klassiker auseinandersetzen kann.


    Grüße,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)