Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • Eine Frage Sandhofers aus einem frühen Post, deren Beantwortung ich mir eigentlich bis zum Schluss aufheben wollte, werde ich jetzt schon beantworten:



    Ja.
    Dieses Kapitel, das gut separat zu lesen ist , gehört ins Lesebuch als auch ein Beispiel für deutsche Literatur der Nachkriegszeit, neben die Texte von Borchert, Böll, Grass, Lenz und Co.
    Thelens Text gehört zu den Versäumten Lektionen .


    Nun nennst Du Namen ... Wenn Du "Nachkriegszeit" als Epoche meinst, so wie "Romantik" eine ist, würde ich mal behaupten: Da gehört er nicht hin. Altersmässig: Ihn trennt fast eine Generation von diesen (damals) jungen Wilden. Thematisch: Denn er schildert nicht das Deutschland zur Nazi-Zeit oder kurz nach dem Krieg. Hans Werner Richter (neckischerweise dieselbe Generation wie Thelen ;)) hat das wohl gespürt, und mit seiner Kritik am "Emigrantendeutsch" festzumachen versucht. Thelen war ein Emigrant, sein Werk in der deutschen Nachkriegsliteratur fehl am Platz, selbst wenn oder gerade weil der Nationalsozialismus eine zentrale Rolle darin spielt. Thelens Werk ist m.M.n. genausowenig "Nachkriegsliteratur" wie Thomas Manns Doktor Faustus: Mann zwar nochmals eine Generation älter, aber beide Autoren ähnlich sprachmächtig, die aber als Emigranten die volle Härte der Vor-, Nach- und Kriegszeit nicht unbedingt zu spüren bekommen haben, und nun quasi "von aussen" sich dem Phänomen des Nationalsozialismus anzunähern suchen. Was für mich allerdings gerade dafür spräche, Thelens Insel in den Kanon aufzunehmen. (Während ich auf Borchert, Böll und Lenz gerne verzichte ... :breitgrins: .)


    Mein Problem mit der Insel sind die "privaten" Passagen: Wie weit kann Nur-Privates Anspruch erheben auf Kanonisierung? Casanova ist kanonisiert, weil er mit seinem Ausbruch aus den Bleikammern etwas schaffte, das vor und nach ihm keiner zu Stande brachte, und weil er mit den Frauen offenbar auch Dinge schaffte, die ungewöhnlich genug waren, um interessant zu werden, und dies über Jahrhunderte. Und da habe ich bei Thelen immer noch meine Zweifel: Er trennt für mich seinen Vigoleis zu wenig von sich selber ... Mag sein, das war Programm, aber mich irritiert es trotzdem und trotz aller sprachlichen Schönheiten.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Natürlich war mit Nachkriegszeit die Enstehungszeit gemeint, nicht die Epoche! Dass Thelen altersmäßig und von der Thematik her nicht zu den genannten Schriftstellern passt, war mir schon bewußt! Hans Werner Richters Diktum vom Emigrantendeutsch war mir auch bekannt. Die Äußerung ist völlig unsinnig. Emigrantendeutsch, was ist das? Außerdem war Richter als Linker und zeitweiliges Mitglied der KPD selber Emigrant in Frankreich gewesen, wenn auch nur kurz. Er kehrte, da er sich dort finanziell nicht über Wasser halten konnte, nach Hause zurück, war Kriegsteilnehmer und damit nolens volens verstrickt. Thelen hatte Deutschland schon vor 33 verlassen, war nie heimgekehrt und hatte die Kriegsjahre auf einem portugiesischen Weingut verbracht! Ich habe sehr stark das Gefühl, dass von Richters Seite Ressentiments dem vermeintlich Unbelasteten gegenüber am Werk waren und die literarische Qualität des Textes keine Rolle gespielt hat. Martin Walser , der bei der einstündigen Lesung dabei war und sie übrigens sehr gut fand, erinnert sich, dass Richter ganz gegen seine sonstigen Gepflogenheiten die Diskussion an sich riss und durch sein harsches Urteil beendete.
    Ja, wen hätte ich in einem Atemzug mit Thelen nennen können? Th. Manns Doktor Faustus ist ja eher im Krieg als in der Nachkriegszeit entstanden. Serenus Zeitblom, der fiktive Biograph, schreibt in Echtzeit, beginnt im Mai 1943 - wie Thomas Mann. Felix Krull und Der Erwählte sind etwa zeitgleich mit der Insel, aber inhaltlich weit entfernt. Gut, Felix Krull ist auch ein Schelmenroman. Die Schriftsteller, selber Emigranten, die das Exil zum Thema gemacht haben ? Anna Seghers mit Transit, Erich Maria Remarque mit Arc de Triomphe? Zu früh, 44 bzw.45 sind die Romane erschienen. So komme ich wieder zu Arno Schmidt. Die Parallelen der Insel zu den Umsiedlern habe ich in einem Posting schon dargelegt. Übrigens war Arno Schmidt ebenfalls 1953 zu einer Lesung vor der Gruppe 47 geladen, lehnte aber ab. Was hätte man dort zu den Umsiedlern gesagt?



    Während ich auf Borchert, Böll und Lenz gerne verzichte ...


    Ich nicht! :grmpf: Aber wenn diese ihren Platz in der Literaturgeschichte gefunden haben, dann hat Thelen allemal einen verdient.

  • Ich habe sehr stark das Gefühl, dass von Richters Seite Ressentiments dem vermeintlich Unbelasteten gegenüber am Werk waren und die literarische Qualität des Textes keine Rolle gespielt hat.


    Vermute ich auch.


    So komme ich wieder zu Arno Schmidt.


    Der nun zwar wiederum kein Emigrant war, aber wohl am nächsten bei Thelen steht, ja.


    Ich nicht! :grmpf: Aber wenn diese ihren Platz in der Literaturgeschichte gefunden haben, dann hat Thelen allemal einen verdient.


    Ja. :smile:


    Ich bin unterdessen mit 4/XIV fertig. Ja, Thelens Sprachgewalt ist riesig. Die Nachthafengeschichte ist wirklich grossartig.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ja, und so gibt es letztlich unzählige urkomische, parodistische Geschichten, die man dann auch gerne weitererzählen würde. Die Nachthafengeschichte ist sicherlich ein Höhepunkt, aber auch Vigos Fabulierereien als "Führer", die Pilar-Episode, die auf dem Lokus eingeschlossene Nonne, die philosophische "Einstuhl-Methode" etc. sind erwähnenswert. Die Hälfte fällt mir ad hoc schon gar nicht mehr ein.


    Was die Einordnung in den Kanon eingeht, so würde ich - nicht eindeutig, aber mit guten Gründen - für die Rubrizierung unter "Exilliteratur" votieren. Sicher, das Werk erschien erst 1953. Aber zum einen waren viele der Episoden, zumindest mündich, schon während der Exilzeit entstanden; die Latenzzeit des Werkes ist ziemlich hoch. Zudem ist ja die "Exilliteratur" mit 1945 nicht abgeschlossen. Sie umfasst im Grunde sowohl Autoren, die nach 1945 noch im Exil blieben (und dort starben) wie beispielsweise Feuchtwanger als auch Werke, die sich mit dem selbsterlebten Exil beschäftigen. Für Thelen gilt doch im Grunde beides.


    Ist jemand von euch schon vor der Thelen-Lektüre auf Pascoaes gestossen? Lohnte sich diese Lektüre allenfalls oder fällt es dem heutigen Leser - eine Vermutung -schwer, sich in diesen Mystiker einzulesen? Ist Thelens ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Autor nur seinem grundsätzlichen Interesse an der Mystik geschuldet, oder bringt Pascoaes vielleicht weitere, besondere Qualitäten mit?


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Ist jemand von euch schon vor der Thelen-Lektüre auf Pascoaes gestossen? Lohnte sich diese Lektüre allenfalls oder fällt es dem heutigen Leser - eine Vermutung -schwer, sich in diesen Mystiker einzulesen? Ist Thelens ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Autor nur seinem grundsätzlichen Interesse an der Mystik geschuldet, oder bringt Pascoaes vielleicht weitere, besondere Qualitäten mit?


    Nein, ich kannte nicht mal den Namen. Ich überlege mir allerdings, als erste Annhäherung (+ weitere Vertiefung in Thelen) der beiden Briefwechsel zu kaufen:


    [kaufen='978-3931135478'][/kaufen]

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ja, den werde ich mir vielleicht auch besorgen. Den könnten wir ja gewissermassen noch als Supplement besprechen.

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  • Wo hast Du das denn bestellt? Ich habe es nicht mal bei ZVAB ausfindig machen können?

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  • Danke, bestellt! :smile:

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Bestellt. :zwinker: Und seine Literaturkritiken gleich mit.


    Die Bestellbestätigung ist Klasse: :breitgrins:


    Sie haben dank Ihres erlesenen Geschmacks eine ausgezeichnete Wahl getroffen!
    Alle Mitarbeiter des Verlags und deren Angehörige beglückwünschen Sie dazu.
    Wir werden nun den von Ihnen erkorenen Band vorsichtig aus dem Regal nehmen,
    auf ein Samtkissen legen und ihn im Triumphzug
    in die Verpackungsabteilung tragen.


    Dort wird er von uns allen noch einmal auf Druckfehler durchgeschaut,
    bevor wir ihn in eine spezielle Schachtel packen, auf die wir
    Ihre geschätzte Adresse von unsrem japanischen Kalligraphen
    geschmackvoll drapieren lassen.
    Dann werden wir alle zum Postamt gehen und den Schalterbeamten bitten,
    Ihnen das Buch so vorsichtig und rasch wie möglich zu bringen.


    Wir warten, bis es in den LKW geladen wird, und winken diesem gerührt nach.
    Wenn wir wieder im Verlag sind, bringen wir ein Hoch auf Sie aus
    und hängen Ihr Porträt an die Wand,
    Sie sind unser Kunde des Monats.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Sodele, ich bin nun mit 4/XVIII fertig. Vigoleis als Erfinder und Nackedei ... :breitgrins:


    En passant: Vielleicht habe ich die Stelle gefunden, die Arno Schmidts Reaktion erklären könnte. Ihr erinnert euch:


    Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung hat geantwortet:


    Nun schreibt Thelen zu Beginn von 4/XVIII, eigentlich zu seinem Erfindertum, aber doch auch zugleich zu seinem Schriftstellertum:


    [quote=Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts, 4/XVIII, S. 715 der Claasen-Ausgabe, 2003]In Zeiten, wo der Quell meiner lyrischen Schöpferkraft zu versiegen drohte, wo es nur tröpfelte und alle unterstellten Gefäße nicht eine einzige Zeile ergaben; [...] in solchen Epochen blühte Vigoleis als Erfinder um so ergiebiger.


    Ich erfand so viel, daß mein Gedächntnis nicht mehr alles schobern konnte. »Schreib es doch auf«, sagte Beatrice dann, »du bist schrecklich, nie machst du Aufzeichnungen, ganze Gedichte läßt du in die Rapuse gehen. Andere arbeiten mit Zettelkästen, notieren jeden Gedanken, halten alles fest. Du läßt alles schwimmen oder erzählst deine Erfindungen und Geschichten herum [...].«[/quote]


    Vigoleis-Thelen begeht da doch in Schmidts Augen gleich zwei Faux-pas, die ihn als ernst zu nehmenden Schriftsteller disqualifizieren. Zum einen versteht er sich als Lyriker; die konnte bzw. wollte Schmidt sowieso nicht ernst nehmen. Dann bestätigt er auch noch Schmidts Vorurteil gegenüber Lyrikern, indem er zugibt, ohne Zettelkasten, und das heisst doch wohl: ohne Plan, zu arbeiten.
    [hr]
    BigBen: Die Bestellbestätigung ist wirklicht gut. Ich vermute, der Verlag hat tatsächlich selten genug Kunden, die gleich zwei Bücher aufs Mal bei ihm bestellen. Thelens Literaturkritiken habe ich auch gesehen, aber - zumindest vorläufig - darauf verzichtet. Du kannst uns ja dann melden, was sie wert sind und welche Autoren da bekritikert werden. ;)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • So, ich les' dann mal gemütlich, kapitelweise, weiter, bin nun also mit 4/XIX fertig. (Ich ertappe mich übrigens dabei, wie ich "fertig" um den Vigoleis herum immer mit Vögeli-f tippen will :smile: ...) Die Kapitel sind aktuell ziemlich lang geraten, eines pro Abend entspricht dann ziemlich genau meinem Lesepensum. Vigoleis rettet einem ihm unsympathischen Juden sein Millionenvermögen - natürlich ohne, dass er selber etwas davon hätte, und Zwingli taucht wieder auf, im wahrsten Sinn des Wortes mit den Taschen voll Geld. In diesem Kapitel setzt sich Thelen sehr stark mit dem Nationalsozialismus auseinander. Es scheint bei ihm wirklich so gewesen zu sein, dass seine ganze Persönlichkeit mit nationalsozialistischem Gedankengut so unvereinbar war, wie es seine Reaktionen bisher auch schon zeigten. Nach diesem Kapitel glaube ich Vigoleis-Thelsen seine unvorsichtig-verrückten Reaktionen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Die Kapitel sind wieder kürzer geworden, ich bin nun mit 4/XXI fertig, wenn ich das richtig sehe. Liegt's an mir - aber das Buch will mir, die kürzeren Kapitel sind sympomatisch, nun recht hektisch erscheinen auf den letzten rund 100 Seiten. Da werden Personen neu oder wieder eingeführt, bei andern wartet der Leser eigentlich immer noch darauf. (Oder eben auch nicht mehr.) Keyserling wird immer mal wieder erwähnt, trat aber noch nicht auf. Hendrik Marsmann hat Thelen ja offenbar noch selber herauseditiert, da sind nur Anspielungen übrig geblieben.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus