Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • So, ich glaube ich bin der erste, der nun doch fertig ist. Aber ich bin nicht sicher, ob ich nicht auch noch der einzige bin (gewesen bin), der noch liest (gelesen hat). Jedenfalls warte ich mal mit weiteren und abschliessenden Bemerkungen. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich bin seit gestern auch mit der Lektüre fertig, inklusive Nachwort. Auch ich hatte übrigens den Eindruck, dass das Geschehen, die Handlungsführung auf den letzten (100?) Seiten zum Teil etwas auseinanderbricht, chaotischer wird. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass man als Leser weiss, dass sich der Wälzer dem Ende entgegen neigt und man dabei ein anderes Leseverhalten an den Tag legt? (sollte ja eigentlich nicht der Fall sein).
    Einen Höhepunkt stellte für mich noch die Einführung Harry Graf Kesslers dar, dieser schillernden Figur, in dessen Autobiographie "Gesichter und Zeiten" naturgemäss noch ganz anders als diejenige Thelens konzipiert ist (mit unzähligen "memoirenfähigen Figuren" - dies spricht Thelen ja an einer Stelle im Blick auf sein eigenes Werk an). Keyserling bleibt dagegen zugegeben etwas blass, auch das kann mit den Streichungen Thelens zu tun haben.
    Ich habe nun noch von Cornelia Staudacher ein "Porträt" zu Thelen besorgt: nicht sehr vertiefend, gerade wenn man die "Insel" gelesen hat, aber vielleicht bzgl. Pascoaes und Thelens weiterem schriftstellerischem Schaffen weiterführend. Sollte dereinst, das muss ja nun wirklich nicht im Anschluss an diese Leserunde sein, Interesse an einer Bahßetup-Leserunde hegen, dann schlösse ich mich sicher an.


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen


  • Aber ich bin nicht sicher, ob ich nicht auch noch der einzige bin (gewesen bin), der noch liest (gelesen hat).


    Ich bin noch dabei, komme aber leider nicht so schnell vorwärts. Ich bin im dritten Buch, zweites Kapitel. Wobei ich beim Lesen ein Kuriosum erlebe. Mein Sohn ist gerade selbst abgebrannt und obdachlos. :sauer: Das gibt der Erzählung Vigoleis eine besonders makabere Würze.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Oh. Sehr ärgerlich und unangenehm für die Eltern. Für die Menschheit, falls Dein Sohn in 20 Jahren etwas ähnlich Geniales wie Die Insel des zweiten Gesichts produzieren könnte, ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • sandhofer: Was Du über die Lesbarkeit der Insel sagtest:

    Zitat

    Es ist wie alter Burgunder . Geht 'runter wie nix...


    gilt leider nicht für mich. Thelens digressiver Stil verführt mich häufig zu eigenen gedanklichen Abschweifungen. Auch fühle ich mich oft bemüßigt, mäandernde Gedankengänge zurückzuverfolgen, um mich zu vergewissern, was der Ausgangspunkt war und worauf die Erzählung eigentlich hinauslaufen soll. Beides beeinträchtigt das Lesetempo. Habe aber immerhin 4/XV abgeschlossen und hoffe, bis zum kommenden WE das Buch beendet zu haben.
    Imrahil:

    Zitat

    Was die Einordnung in den Kanon angeht, so würde ich - nicht eindeutig, aber mit guten Gründen für die Rubrizierung unter "Exilliteratur" votieren.


    Der Weidle-Verlag nimmt uns das ab. Thelen ist unter "Exilliteratur" eingeordnet.
    Sehr interessieren würde mich der in diesem Verlag erschienene Band Die Literatur in der Fremde - Thelens gesammelte aus dem Niederländischen übersetzte Rezensionen deutscher Exilliteratur für "Het Vaderland". In 4/VII schreibt er , wie er durch Ter Braak zu diesem Auftrag gekommen ist! Hätte nicht gedacht, dass es diese Rezensionen in Buchform gibt.
    BigBen: Hast Du das Buch bereits bekommen und kannst etwas darüber sagen?

    Merci vielmals
    G.

  • Thelens digressiver Stil verführt mich häufig zu eigenen gedanklichen Abschweifungen.


    Ich merke, dass es mir mit zunehmendem Alter immer mehr umgekehrt geht: Nur die Digressiven können mich bei der Stange halten.


    [...] worauf die Erzählung eigentlich hinauslaufen soll.


    Der Weg ist das Ziel. :breitgrins:


    Imrahil:


    Der Weidle-Verlag nimmt uns das ab. Thelen ist unter "Exilliteratur" eingeordnet.


    Wobei ein Verlag natürlich auch nicht unbedingt über mehr oder bessere Kriterien zu einer Einordnung verfügt als wir ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Sehr interessieren würde mich der in diesem Verlag erschienene Band Die Literatur in der Fremde - Thelens gesammelte aus dem Niederländischen übersetzte Rezensionen deutscher Exilliteratur für "Het Vaderland". In 4/VII schreibt er , wie er durch Ter Braak zu diesem Auftrag gekommen ist! Hätte nicht gedacht, dass es diese Rezensionen in Buchform gibt.
    BigBen: Hast Du das Buch bereits bekommen und kannst etwas darüber sagen?


    Ist noch nicht bei mir angekommen. Post nach Frankreich dauert immer etwas länger. :sauer: Aber sobald ich ihn habe, melde ich mich.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Ist noch nicht bei mir angekommen. Post nach Frankreich dauert immer etwas länger. :sauer: Aber sobald ich ihn habe, melde ich mich.


    Die stehen sicher noch alle in Bonn beim Postamt und winken dem Lastwagen nach ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo!


    Im Gegensatz zu Euch Schnell-Lesern bin ich nun ziemlich genau mit dem ersten Drittel fertig. Die Schrank-Diskussion kann ich jetzt nachvollziehen und schlage mich in dieser Frage zu Sandhofer. Für mich ist diese Entscheidung (trotz "Ehre) nicht nachvollziehbar und sie passt auch nicht gut zum Pikaresken des Romans. Der klassische Pikaro ist ja normalerweise jemand, der sein eigenes leibliches Wohl durchaus zu schätzen weiß, und dafür auch augenzwinkernd Kompromisse schließt. Der Toternst mit dem diese Angelegenheit dann behandelt wird, passt für mich weder zu Vigoleis noch zur Bürgertochter Beatrice, die also offenbar doch lieber in der widerlichen Turmabsteige bleibt. Ein Handlungsdetail, gewiss, aber es hat durchaus etwas symptomatisches finde ich.


    Ansonsten lese ich das Buch immer noch sehr gerne, werde aber mein langsames Tempo beibehalten und eventuell bei der Hälfte sogar eine Pause von ein paar Wochen einlegen.


    CK

  • Ein Handlungsdetail, gewiss, aber es hat durchaus etwas symptomatisches finde ich.


    Symptomatisch wofür? Kannst Du mir das noch erklären? Ich steh' gerade auf dem Schlauch.


    Ansonsten lese ich das Buch immer noch sehr gerne, werde aber mein langsames Tempo beibehalten und eventuell bei der Hälfte sogar eine Pause von ein paar Wochen einlegen.


    Bis dahin sind vielleicht auch die zusätzlich bestellten Werke von Thelen beim einen oder andern eingetroffen und könnten vielleicht das eine oder andere zusätzliche Licht auf die Insel werfen ... :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich bin jetzt bis zum ersten Kapitel des 4. Buches vorgedrungen. Eine Episode da hat mir die beiden besonders sympatisch gemacht. Wenn sich mal etwas Kleingeld angesammelt hatte, fragte man sich, ob man davon einen Topf oder ein Messer kauft. Oft wurde es dann aber ein Buch. :breitgrins: Das kommt mir irgendwie bekannt vor.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • "Der Kölner DuMont Buchverlag plant eine mehrbändige Ausgabe mit Briefen von Albert Vigoleis Thelen." (Link)

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Stecke in 4/XIII. Thelen beschreibt darin ein Bild des 1935 verstorbenen Malers und Lyrikers Jacobo Sureda ( Bruder Pedros) Almocrebe so eindrucksvoll als Veranschaulichung dessen, was für Thelen Spanien ist und war, dass ich dieses Bild im Internet gesucht habe. Ich habe es nicht gefunden, dafür aber viel Interessantes über Sureda, u.a., dass er zum Ultraismo, einer avantgardistischen Literaturströmung der span. sprechenden Welt gehörte, die Jorge Luis Borges während seines Mallorca-Aufenthalts in der 20ern dort initiert hat. Borges war Freund des Sureda. Auf eine Erwähnung Borges' durch Thelen mit seiner Vorliebe für Lyrik und iberische Mystik hatte ich schon längst gewartet ... Kurz, wo man sich in der Insel auch festliest, man findet eine Menge von interessanten Bezügen und Querverbindungen . Schon allein deswegen ist das Buch äußerst lesenswert ... Was ist übrigens mit Garcia Lorca? Erwähnt worden ist er schon, kommt er noch vor?


    Ich werde dieses WE - wie angekündigt - das Buch beendet haben, muss aber jetzt nach Berlin und werde erst frühestens Sonntagabend wieder zu Hause sein.
    :winken:

  • Liebe Thelianer,


    bin jetzt im vierten Buch gelandet, wo die beiden eben ihre ersten Führer-Einsatz haben. Das ist alles sehr komisch erzählt und ich habe den Eindruck, dass der Auszug aus dem Turm literarisch nicht geschadet hat. Ich finde es ja immer interessant, ob/wie in einem Buch ein Autor versucht, seine "Ästhetik" zu erklären.


    Bisher sind mir dazu folgende Stellen aufgefallen:


    Zum "Vigoleis":


    Vigoleis? Und Vogel-F? Sie führen da einen romantischen Namen, wenn ich Sie recht verstanden habe, wohl ein Verwandter jenes Ritters von der Artusrunde [...] Wigalois? Minnesang, 13. Jahrhundert, ich besitze die Benecke-Ausgabe [...]


    "Verwandt [...] artverwandt, ja, das bin ich schon mit der Gravenbergschen Gestalt", - verschwieg aber, daß ich das Rad, welches mein Namensvetter als Helmzier auf dem Kopfe trug, im Kopf selbst hatte, wo es sich zuweilen so rasch dreht, daß mir schwindlig wird.
    [S. 173f.]


    Was der Hauptmann über meinen Stil gesagt hatte, war so abwegig nicht, aber das einzig Treffende wäre doch gewesen, ihn mit Kaktusstil zu bezeichnen: es bilden sich Ableger ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.
    [S. 325]


    Ich rede dem freien Spucken das Wort, und ich preise mich glücklich, mit diesen Aufzeichnungen an einen Verleger geraten zu sein, der diese Kunst aus vollem Halse beherrscht [...]
    [S. 383]


    "Kaktusstil" finde ich ziemlich passend. Überlege auch, ob die "Insel" nicht der geeignete Anlass wäre, den "Wigalois" noch mal zu lesen.


    CK