Ich stecke nun in Kapitel II/2. Thelen läuft dort zu grosser Form auf, wo er fremde Sitten und Gebräuche, fremde Menschen darstellen kann. Sobald es ans Eingemachte geht, an den Vigoleis, die Beatrice, den Zwingli, empfinde ich eine gewisse Hemmung in der Schreibe. Diese Figuren sind ihm zu nah, als dass er so unbeschwert einfach nur "beschreiben" könnte, und so kommen so halb verhüllte Beichtstuhlgeheimnisse zum Vorschein. Wo er aber, wie in II/1 Beatrice und Vigoleis mit Schlafmitteln in einen tiefen Schlummer versetzt, um als Autor Thelen dann mal ihre neuen Gastgeber und Co-Gäste zu beschreiben, läuft er zu grosser Form auf.
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Thelens Buch wird ja seit Jahrzehnten als "Geheimtipp" gehandelt. Aber ob es so was überhaupt gibt? Ist Thelen ein Verkannter und sollte sein Buch "von Rechtes wegen" zum Kanon gehören wie sein Viertelbruder im Geiste und in der Sprache, die Blechtrommel? Gegen Ende des ersten Buches kamen mir da so Zweifel ...
Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts
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Das rollende "R" erstaunt mich insbesondere, weil ich meine, dass der Basler "Daig" sich in der Aussprache des "R" - ähnlich wie die Bernburger - das französische Zäpfchen-R angeeignet hatten.Erstaunlich, was sich durch den Text alles auftut.
Die Bruckners wohnten übrigens nicht in dem vom Daig bevorzugten St. Alban-Ouatier, sondern im Stadtteil Kleinhüningen(Kleinbasel).
Von der Exklusivität Basler Patrizierfamilien - Vigoleis nennt es mit dem Kölner Ausdruck "Klüngel " - ist in der Insel in Buch 2,Kap.II die Rede: Vigoleis mit Vogel-f wie Vischer. Burckhardt nur echt mit ck und dt.
Vielleicht ein kleiner, feiner Hieb des aus nicht ganz so feinen Verhältnissen stammenden Thelen gegen seine angeheiratete Sippschaft, des katholisch Erzogenen gegen das erzprotestantische Basel seiner Beatrice?
Wäre denkbar. Aber: Die Professoren-und Pfarrerstochter teilt das Bohemienleben mit Vigoleis, lebt in "wilder Ehe". Mit ihrer Herkunft, ihrem Basel, hat sie gebrochen, liegt ohnehin mit ihrer Heimat in Fehde (S.174,Buch 2, Kap.II). Da bedarf es keines Seitenhiebs mehr.
Die positiven Seiten ihrer groß-bzw.bildungsbürgerlichen Erziehung , ihre guten Manieren, ihre unaufdringliche Vornehmheit, ihre Weltläufigkeit werden von dem aus kleinen Verhältnissen stammenden Vigoleis zudem - wie ich finde - neidlos, voller Anerkennung und Respekt dargestellt. Gerade finde ich in 2/IV den wohl hauptsächlichen Grund für Beatricens (lebenslangen) Bruch mit Basel:ZitatBeatrice hatte ihr die Lebensgeschichte ihrer exotischen Mutter erzählt, die an den Klippen derer von ck-dt zerschellen musste und auch zerschellte.
Die Lebensgemeinschaft dieser beiden grundverschiedenen heimatlosen Menschen, deren eigentliche gemeinsame Heimat Geist, Literatur und Kunst ist, macht unter anderem das Buch für mich spannend und anrührend.
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Wäre denkbar. Aber: Die Professoren-und Pfarrerstochter teilt das Bohemienleben mit Vigoleis, lebt in "wilder Ehe". Mit ihrer Herkunft, ihrem Basel, hat sie gebrochen, liegt ohnehin mit ihrer Heimat in Fehde (S.174,Buch 2, Kap.II). Da bedarf es keines Seitenhiebs mehr.
Oder erst recht. Solche Rupturen können ein Leben lang weh tun. Da wird man auch nach Jahrzehnten u.U. noch die Zähne fletschen ...
Im übrigen melde ich Vollzug von Buch 2. Wir sind in einer "Räuberhöhle" gelandet, ohne dass Thelen dem Leser zu erkennen gibt, warum er die neue temporäre Behausung so nennt. Er beginnt nun allerdings das Vorübergehendende seiner/ihrer Behausungen zusehends zu betonen, wie ich finde. So ein bisschen klingt's nach: "Ihr seid nicht von der Welt."
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Ich komme leider nur sehr langsam voran, was aber nicht an Thelen liegt. Wir haben gerade erst das Bett erworben.
Ich finde es sehr angenehm, wie Thelen recht unaufdringlich und doch gekonnt Kunst- und Literaturgeschichtliches als beschreibende Elemente verwendet. -
Solche Rupturen können ein Leben lang weh tun. Da wird man auch nach Jahrzehnten u.U. noch die Zähne fletschen ...Das mein ich auch! Aber von so etwas wie Sozialneid des Zukurzgekommenen seiner Beatrice gegenüber verspüre ich bei Vigoleis nichts.
Im übrigen melde ich Vollzug von Buch 2. Wir sind in einer "Räuberhöhle" gelandet, ohne dass Thelen dem Leser zu erkennen gibt, warum er die neue temporäre Behausung so nennt.Es scheint nicht nur eine "Räuberhöhle" zu sein. Warum fällt mir nur dauernd der Refrain von Francois Villons ballade de la grosse Margot ein?
Zitaten ce bordeau ou nous tenons nostre estat
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Das mein ich auch! Aber von so etwas wie Sozialneid des Zukurzgekommenen seiner Beatrice gegenüber verspüre ich bei Vigoleis nichts.
Nein. So etwas wollte ich auch nirgends gefunden haben, da haben wir uns missverstanden. Thelens Reaktion gilt dem Milieu, aus dem Beatrice stammt, nicht ihrer als Person. (Wohl mit ein Grund, warum Beatrice ein rollendes 'r' durchlassen würde, da sie ihrer eigenen Herkunft ja entfremdet ist.)
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Nach Thelen könnte man da noch an Arno Schmidt denken.An Arno Schmidt fühle ich mich auch erinnert, besonders natürlich, was ihren kreativen Umgang mit Sprache, ihre Wortschwelgerei, ihren Wortwitz angeht!
Aber nicht nur: 1953, im Erscheinungsjahr der Insel, kam Schmidts kurze Prosastudie Die Umsiedler heraus. An diesen von mir zuletzt gelesenen Arno-Schmidt- Text musste ich besonders denken: Auch hier ein Ich-Erzähler, Büchernarr und Übersetzer, Schreibtisch-Philologe mit Sitzfleisch wie Vigoleis. Auch hier eine Partnerin, mit der der Protagonist in renitenter Gemeinsamkeit den Widrigkeiten der Zeitläufte trotzt und geistige Vorlieben teilt. Beide Paare heimatlos, freilich vor anderem zeitlichen und geographischen Hintergrund, "displaced persons" auf der Suche nach einer Bleibe ...
Es kann eigentlich nicht sein , dass Thelen und Schmidt sich nicht kannten und lasen. Weiß jemand, ob es Äußerungen Schmidts über die Insel gibt? Würde mich interessieren, besonders auch vor dem Hintergrund der Ablehnung der "Insel" durch die Gruppe 47. Vielleicht können die Schmidt-Kenner hier weiterhelfen. -
Ich habe ein bisschen weiter gelesen - diesmal wieder mit den Abenteuern unseres Pärchens konfrontiert. Mag an mir liegen, das weiss ich noch nicht, aber mir scheinen diese Teile des Textes die eindeutig schwächeren. Wenn er damals bei der Gruppe 47 aus diesen Teilen vorgelesen hat, kann ich mir Richters Reaktion sogar vorstellen ...
Zu Arno Schmidt: Mir ist nicht bekannt, dass er Thelen irgendwann erwähnte. Aber da müsste man vielleicht in der Arno-Schmidt-Mailingliste (oder wie dat Dingens heisst, ich vergesse es jedesmal von neuem) nachfragen.
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Zu Arno Schmidt: Mir ist nicht bekannt, dass er Thelen irgendwann erwähnte. Aber da müsste man vielleicht in der Arno-Schmidt-Mailingliste (oder wie dat Dingens heisst, ich vergesse es jedesmal von neuem) nachfragen.Habe eben nachgefragt.
CK
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Habe eben nachgefragt.
CK
Nichts einfacher als das. Eintrag 454 seiner Bibliothek weist auf Thelen hin:
Thelen, Albert Vigoleis (1903–1989)
Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen
des Vigoleis. (Gütersloh), Im Bertelsmann Lesering, [1960]. 789
(1) S. Orig.-Leinen. (B 11.1.28)Schöne Grüße, Thomas
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Nichts einfacher als das. Eintrag 454 seiner Bibliothek weist auf Thelen hin:
Danke! Das beweist allerdings erst, dass Schmidt das Buch besass. Hat er es auch gelesen? Und noch wichtiger: Hat er es auch rezipiert?
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Ich habe wieder ein paar Kapitel weitergelesen. Vigoleis und Beatrice wohnen noch immer in ihrer "Räuberhöhle". Sie hatten ein Angebot als Gouvernante und Maître de plaisir eines neu eröffneten Hotels zu amten, inkl. Zimmer daselbst. Da ihnen aber im Zimmer kein Schrank zur Verfügung gestellt wurde, haben sie es im letzten Moment abgelehnt und sind zurück in ihren Turm (wo sie nicht nur keinen Schrank, sondern auch kein Dach haben ...). So dumm kann die Menschheit nur in echt sein; in jedem Roman würden wir dies als miserablen Kunstgriff zur Verlängerung des Aufenthalts im Uhrturm rügen.Dafür reisen sie dann mit notdürftig Aufgespartem 3. Klasse ins Innere der Insel, weil ihnen ein deutscher Ex-Offizier als Lohn fürs Abtippen seines Opus magnum einen Sekretär (ein Möbelstück, nicht einen Menschen!) versprochen hat, den sie besichtigen wollen. Auch daraus wird selbstverständlich nichts ... Erst zum Schluss des Kapitels deutet Thelen dann an, dass Vigoleis aufgrund dieser Reise die Bekanntschaft von Robert Graves machen wird und dessen Manuskript zu I, Claudius ins Reine tippen. Das Buch war lange auf meiner erweiterten Liste, aber der Verlag, wo ich es kaufen wollte, führt diesen Titel nicht mehr ...
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Mal wieder eine Frage an die anwesenden Kenner. Was heißt: "non scholae sed vitae discimus"?
Und noch ein anderes Thema. Julietta, Marias Tochter, ist ca. 11 Jahre alt. Vigoleis spricht von ihr als einem "Hürchen" und stellt sie auch sonst immer mal weider in einen sexuellen Kontext. An dieser Stelle wird für mich klar eine Grenze überschritten. Mir ist nicht klar, was Thelen damit beim Leser erreichen will bzw. was seine Idee hinter dieser Darstellung ist. Bei mir regt sich jedenfalls ein massiver Widerstand gegen diese Form der Darstellung. :grmpf:
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Thelen benutzt ja immer mal Latein für seine Motti etc., aber auch so mitten im Text. Für Nicht-Lateiner hat Wikipedia eine Auflistung aller bekannten lateinischen Redensarten zusammengestellt:
http://de.wikipedia.org/wiki/Lateinische_Redewendungen :winken:
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Der Nicht-Lateiner dankt. :winken:
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Mal wieder eine Frage an die anwesenden Kenner. Was heißt: "non scholae sed vitae discimus"?
Wir lernen nicht für die Schule sondern fürs Leben. Das Original von Seneca ging übrigens umgekehrt: Wir lernen für die Schule, nicht fürs Leben, und war als ironische Klage über das römische Schulwesen gedacht. Schon damals also ...
Ich habe übrigens [url=http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,3113.msg37603.html#msg37603]im Materialienthread[/url] mal den Link zu Wikipedias Sammlung lateinischer Redewendungen gepostet.
Und noch ein anderes Thema. Julietta, Marias Tochter, ist ca. 11 Jahre alt. Vigoleis spricht von ihr als einem "Hürchen" und stellt sie auch sonst immer mal weider in einen sexuellen Kontext. An dieser Stelle wird für mich klar eine Grenze überschritten. Mir ist nicht klar, was Thelen damit beim Leser erreichen will bzw. was seine Idee hinter dieser Darstellung ist. Bei mir regt sich jedenfalls ein massiver Widerstand gegen diese Form der Darstellung. :grmpf:
Nun, Südländerinnen sind, sagt man, früher reif (oder frühreifer) als ihre nördlichen Geschlechtsgenossinnen. Insofern ist das hier entweder ein ehrliches Geständnis Thelen-Vigoleis', dass ihn die aufkeimenden Reize Juliettas nicht ganz kalt lassen, insofern auch eine Darstellung der Schwächen Vigoleis', der ja alles andere als ein sympathischer Protagonist ist, mit dem mitzufühlen und -leiden ich als Leser gezwungen bin, und/oder eine Darstellung der hypersexualisierten Atmosphäre um Pilar herum (bezeichnenderweise gibt Thelen dann im Uhrturm zu verstehen, dass trotz aller Huren und ihrer Klienten, die in den Nebenräumen lautstark der körperlichen Liebe frönen, Beatrice und Vigoleis absolut keusch bleiben - sowohl mit andern wie offenbar auch unter sich selber), oder - und zu dieser Interpretation neige ich persönlich - Thelen veräpplet den Leser und spielt mit den Vorurteilen (eben der Frühreife von Spanierinnen), indem er offen thematisiert, was der Leser (insbesondere der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts) selbst heimlich nicht wirklich zu denken wagt. Mit andern Wort: Reine Lust - aber an der Provokation, nicht am Mädchen ...
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[...]
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Zitat von "sandhofer"
Mit andern Wort: Reine Lust - aber an der Provokation, nicht am Mädchen ...und auch Lust am Wortspiel, wenn ich mir die entsprechende Stelle ansehe (man findet sie via books.google.de): "[...] nicht einzig, weil das Hürchen in ihr mächtig zu kielen begann [...]". Das Verb "kielen" bezieht sich ja eigentlich auf einen Vogel (er bekommt "Kiele", d.h. die jugendlichen Flaumfedern werden durch größere Kielfedern ersetzt), und tatsächlich gibt es einen Vogel, der "Hürchen" genannt wird: nämlich la putilla, das ist ein Vogel in Peru, dessen Federn zu Liebeszaubern verwandt wurden.
Schöne Grüße,
Wolf -
Habe eben nachgefragt.Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung hat geantwortet:
Zitatbei einem meiner Besuche im Hause Schmidt erwähnte ich mal, daß ich grad die "Insel d.2.G." läse. An eine wörtliche Reaktion Schmidts kann ich mich nicht erinnern - aber er zog ein Gesicht, das ich für mich als "We are not amused" interpretierte. Ob er damit meine Lektüre oder den Roman oder den Autor oder alles meinte, weiß ich nicht.
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Die Arno-Schmidt-Mailingliste ist ja eine exzellente Einrichtung!
Vielen Dank fürs Nachfragen und die Informationen!Dass Schmidt - wie es scheint - Thelen gekannt, gelesen und eher nicht gemocht hat, überrascht mich nicht. Ich fürchte, die Ablehnung hat etwas mit der Ähnlichkeit ihres Schreibens, mit Rivalität zu tun.
Hat Schmidt überhaupt je einen schreibenden Zeitgenossen neben sich geduldet und geschätzt?Danke, Wolf, für Deine Trouvaille. Das Wort "kielen" war mir auch aufgefallen, hab es aber nicht mit
Federn in Verbindung gebracht. Schön, die von Dir gefundenen Zusammenhänge! -
Die Arno-Schmidt-Mailingliste ist ja eine exzellente Einrichtung!
find ich auchZitatHat Schmidt überhaupt je einen schreibenden Zeitgenossen neben sich geduldet und geschätzt?
Schmidt hat noch nicht mal die schreibenden Nicht-mehr-Zeitgenossen neben sich geduldet (ein weites Feld …)